Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

12/09

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Raum und Zeit grundlegende Existenzform der Materie
«In der Welt existiert nichts als die sich bewegende Materie, und die sich bewegende Materie kann sich nicht anders bewegen als im Räume und in der Zeit» (LENIN 14, 171). Umge­kehrt sind Raum und Zeit stets an Materie gebun­den; es gibt keinen an sich seienden, unabhängig von der Materie existierenden absoluten Raum und keine absolute Zeit.

 Die moderne physika­lisch-mathematische Theorie des Raumes und der Zeit ist die Relativitätstheorie. Die ersten Untersuchungen der Eigenschaften des Raumes waren durch praktische Bedürfnisse der Menschen bedingt und standen im Zusammenhang mit der Herausbildung und Entwicklung der Geo­metrie im alten Ägypten und Babylon im vierten Jahrtausend v. u. Z. In systematisierter und verall­gemeinerter Form wurde die Gesamtheit der geo­metrischen Kenntnisse der Antike zum erstenmal in den Elementen euklids dargelegt. Einen Raum, der durch die in diesen beschriebenen Eigenschaf­ten gekennzeichnet ist, die der alltäglichen Erfah­rung des Menschen entsprechen, nennt man des­halb auch einen euklidischen Raum. In der Entwicklung der philosophischen Raum-und Zeittheorien widerspiegelt sich deutlich der Kampf materialistischer und idealistischer, dia­lektischer und metaphysischer Tendenzen. Die ersten philosophisch bedeutsamen und zugleich im wesentlichen materialistischen Ausführungen über Raum und Zeit finden wir bei demokrit und aristoteles. Aus der Atomistik demokrits folgt unmittelbar die Anerkennung der objektiven Exi­stenz von Raum und Zeit. Der Raum als Leere, in dem die Atome sich bewegen, tritt als eine not­wendige Bedingung ihrer Bewegung auf. Die Zeit, obwohl nicht unmittelbar mit den Atomen ver­bunden, existiert ebenfalls nur im Zusammenhang mit deren Bewegung. Der Raum wird von demokrit als unendlich, die Zeit als ewig angesehen. Auch nach aristoteles existiert der Raum objek­tiv. Für die Zeit gilt, daß sie zwar eng mit der Be­wegung verbunden ist, also eine objektive Grund­lage besitzt, jedoch soll sie als «Zahl der Bewe­gung» nicht ohne die Seele existieren, da nur diese zählen könne. Der Weltraum ist aristoteles zu­folge endlich, die Zeit in stetigem und gleichmäßi­gem Fluß begriffen.

Galt in der Antike und - wesentlich bedingt durch die Herrschaft der Theologie und insbesondere des ptolemäischen, geozentrischen Systems - auch im Mittelalter der Weltraum allgemein als endlich, so setzt sich mit Beginn der Neuzeit, im Anschluß an kopernikus, immer mehr der Gedanke von seiner Unendlichkeit durch. In der Folgezeit geraten die theologischen Raumvorstellungen in immer schär­feren Widerspruch zum wissenschaftlichen Begriff des Raumes, der auf den Errungenschaften der neuen Naturwissenschaft, vor allem der Mechanik, basiert. So verfochten bruno und galilei im bewußten Gegensatz zu den Lehren des aristoteles und der Kirche leidenschaftlich den Gedanken eines unendlichen Weltalls. Von besonderer Be­deutung in diesem Zusammenhang ist das von galilei formulierte Relativitätsprinzip, in dem die Homogenität von Raum und Zeit hinsichtlich des Ablaufs mechanischer Prozesse in beliebigen Iner-tialsystemen festgestellt wird. Die von ihm ent­deckten Gesetze des freien Falls bauen wesentlich auf der Vorstellung von einem stetigen und gleich­mäßigen Ablauf der Zeit auf. Mehr qualitativer Natur ist der von descartes in seiner Physik ent­wickelte Raumbegriif. descartess identifiziert Raum und Materie und verabsolutiert die Aus­dehnung zur Grundeigenschaft des Raumes. Er reduziert den Raum auf kleinste materielle Par­tikel, die er Korpuskel nennt - eine Vorstellung, die etwa dem Ätherbegriff des 19. Jahrhunderts entspricht. Die Zeit ist ihm zufolge ein Modus des Denkens; ihre Grundeigenschaft sei die Dauer. Während die Ausdehnung als allgemeine Eigen­schaft aller Körper (und damit der Raum) objek­tiv existiert, soll die Zeit als Denkmodus nicht objektiv sein.

Durch newtons Schaffen erhalten die Raum- und Zeitvorstellungen der klassischen Mechanik ihre Verallgemeinerung und endgültige Gestalt. Raum und Zeit existieren demnach zwar objektiv real, weisen aber eine absolute Struktur auf. Sie exi­stieren völlig unabhängig von der sich bewegenden Materie und voneinander. Der Raum, das «Sen-sorium Gottes», ist dieser Auffassung zufolge als ein unendlicher, leerer, homogener Behälter anzu­sehen, in dem sich die Vorgänge der Körperwelt abspielen. Der Newtonsche dreidimensionale Raum besitzt keinerlei physikalische, sondern nur geometrische Eigenschaften, und zwar die der euklidischen Geometrie. Als wesentliches Charak-teristikum der Zeit wird ihre Gleichförmigkeit und Nichtumkehrbarkeit angesehen. Gegen die metaphysische Trennung des Raumes und der Zeit von der sich bewegenden Materie wendet sich der englische Materialist toland. Er lehnt einen absoluten, unabhängig von der Ma­terie existierenden Raum ebenso ab wie eine ab­solute Zeit. Den absoluten Charakter von Raum und Zeit erkennt auch leibniz als den Haupt­mangel der mechanisch-materialistischen Konzep­tion newtons. leibniz vertritt demgegenüber die dialektische Auffassung, Raum und Zeit seien Ver­hältnisse, Ordnungsbeziehungen zwischen koexi­stierenden bzw. aufeinander folgenden Objekten bzw. Prozessen. Raum und Zeit sind also an Materie gebunden und besitzen außerhalb dieser keine absolute Realität. Da die Materie für leib­niz jedoch nur «ein Anderssein der Seele», «ein weltliches Band» ist, welches die Monaden zu­sammenhält, letztere aber nur ideelle Existenz be­sitzen, geht die prinzipiell richtige Ablehnung des

bei ihm in eine idealistische Leugnung ihrer ob­jektiven, realen Existenz über. Raum und Zeit sind für leibniz letzten Endes subjektive Wahrneh­mungen, obgleich sie einer objektiven Ordnung der Dinge in der Welt entsprechen. Diese ideali­stische Auffassung des Wesens von Raum und Zeit findet ihren entwickelten Ausdruck bei kant, für den Raum und Zeit reine Formen der Anschau­ung sind, die nur dem Subjekt und nicht den Dingen an sich zukommen. Auch hegel versucht auf objektiv-idealistische Art die Newtonsche Trennung des Raumes und der Zeit von der Materie zu überwinden. Die Materie ist für ihn eine Synthese aus Raum und Zeit und besitzt damit diesen gegenüber sekun­dären Charakter. Raum und Zeit dagegen seien reine Quantitäten, deren Veränderung niemals zu qualitativen Veränderungen führen könne. Die idealistische Grundhaltung hegels impliziert so­mit in dieser Frage wesentlich metaphysische Vor­stellungen. feuerbach dagegen betont in seiner materialistischen Kritik der HEGELschen Philoso­phie richtig, daß Raum und Zeit objektive Exi­stenzformen, Wesensbedingungen der Materie dar­stellen.

Die philosophische Kritik der mechanisch-mate­rialistischen Raum- und Zeitkonzeption newtons erhält im 19. Jahrhundert durch die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Relativitätstheorie eine exakte einzelwissenschaftliche Grundlage. Die klassische Mechanik und mit ihr die euklidi­sche Geometrie erweisen sich als Sonderfälle all­gemeinerer Theorien und nur für hinreichend kleine, nichtkosmische Räume und für Ge­schwindigkeiten, die im Vergleich zur Lichtge­schwindigkeit gering sind, als gültig. Weist bereits die spezielle Relativitätstheorie den wesentlichen Zusammenhang zwischen Raum und Zeit in Ge­stalt der vierdimensionalen Raum-Zeit-Union und die Relativität der Zeitdauer von Prozessen sowie der Längenausdehnung von Körpern in be­wegten Systemen nach, so deckt die allgemeine Relativitätstheorie den grundlegenden Zusam­menhang zwischen den metrischen Eigenschaften des Raumes und der Materieverteilung in den je­weiligen Bereichen des Weltalls auf. Die Struktur der Raum-Zeit-Union wird durch die Wechsel­wirkung und die Bewegung der materiellen Sy­steme bestimmt, wodurch die Einheit der kausalen und der raum-zeitlichen Struktur der Welt gegeben ist (A. D. alexandrow). Die Raum-Zeit-Union und ihr Zusammenhang mit der Materie sind Aus­druck absoluter Beziehungen zwischen der Ma­terie und Raum und Zeit.

Damit widerlegt die moderne Naturwissenschaft sowohl alle idealistischen Lehren der Vergangen­heit über das Wesen von Raum und Zeit als auch subjektivistische Auffassungen vom Wesen der Zeit, die in der modernen bürgerlichen Philosophie Verbreitung finden, in denen die Zeit als abhängig von der Intuition, dem inneren Schöpferdrang des Subjekts betrachtet, zugleich aber auch in mysti­scher Weise substantialisiert wird (bergson, heidegger). Andererseits bedeuten die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaft eine Bestäti­gung der Grundthesen des dialektischen Materia­lismus über das Verhältnis von Raum, Zeit, Ma­terie und Bewegung.

Die Geschichte der Entwicklung der menschli­chen Raum- und Zeitvorstellungen zeigt, daß sie bei all ihrer Veränderlichkeit und Relativität «Annäherungen an die objektiv-realen Formen des Seins» darstellen, daß sie das Wesen von Raum und Zeit immer adäquater und tiefer widerspie­geln. «Die Veränderlichkeit der menschlichen Vor­stellungen von Raum und Zeit widerlegt die ob­jektive Realität dieser beiden ebensowenig, wie die Veränderlichkeit der wissenschaftlichen Kennt­nisse von der Struktur und den Formen der Be­wegung der Materie die objektive Realität der Außenwelt widerlegt» (LENIN 14,171f). Raum und Zeit existieren objektiv-real, unabhän­gig vom menschlichen Bewußtsein. Die idealisti­sche Behauptung, Raum und Zeit seien subjektive Anschauungsformen usw., ist unhaltbar, weil die sich daraus ergebende Konsequenz, daß vor dem Erscheinen des Menschen auf der Erde die Welt dann nicht in Raum und Zeit existiert habe, absurd ist.

Die dialektische Natur von Raum und Zeit kommt in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausdruck; Raum und Zeit bilden eine Einheit des Absoluten und Relativen: sie existieren absolut, insofern sie die unabdingbaren, objektiv-realen Existenzfor­men der Materie sind, sie sind relativ, da ihre konkreten Eigenschaften vom Zustand der Mate­rie (Massenverteilung, Geschwindigkeit) in dem betreffenden Bereich des Weltalls abhängen. Weiterhin zeigt sich das widersprüchliche Wesen von Raum und Zeit darin, daß sie den Widerspruch des -> Endlichen und Unendlichen sowie den des Stetigen und Diskreten (->• Kontinuität und Dis­kontinuität) an sich haben. Die moderne Mathematik hat den Begriff des Raumes weitgehend verallgemeinert und ge­braucht ihn im Sinne von Gesamtheiten gleicharti­ger mathematischer Objekte, die als Punkte des Raumes aufgefaßt werden (Vektorräume, Funk­tionalräume usw.). Bei diesen «-dimensionalen Räumen der Mathematik handelt es sich um Ab­straktionen, die sich für mathematische Unter­suchungen als nützlich und notwendig erweisen. Sie dürfen jedoch nicht mit dem dreidimensionalen physikalischen Raum verwechselt werden. Im Zusammenhang mit der Erkenntnis, daß sich in der Theorie der -> Elementarteilchen bestimmte Sachverhalte am einfachsten darstellen lassen, wenn man nicht Raum-Zeit-Koordinaten verwen­det, sondern die Koordinaten der vierdimensiona-len Impulsräume (wodurch der Impulsraum vor der Raum-Zeit-Welt ausgezeichnet scheint), er­hebt sich die Frage, ob die allgemeine Relativi­tätstheorie nur eine von vielen möglichen physi­kalischen Raumarten beschreibt. Die Raum-Zeit-Welt der Relativitätstheorie ist jedoch gegenüber anderen möglichen Räumen durch folgende Merkmale ausgezeichnet:

1. Alle makrophysika­lischen Ereignisse laufen in der Raum-Zeit-Welt ab.

2. Ihre Wiederholbarkeit hängt von der geo­metrischen Struktur der Raum-Zeit-Welt ab, weil nach einstein die ein physikalisches System cha­rakterisierenden Eigengtößen im ganzen Kosmos miteinander vergleichbar sind. Für den Mikro­kosmos ergeben sich daraus folgende Konsequen­zen:

Da die experimentellen Kenntnisse von den mikrophysikalischen Ereignissen vermittels makro­physikalischer Meßgeräte gewonnen werden, sind die Aussagen über makrophysikalische Zustände mitbestimmend für die über mikrophysikalische. Das heißt, die geometrischen Strukturen von Raum und Zeit sind notwendige Bedingungen für jede mögliche mikrophysikalische Erkenntnis. Da­durch scheint die Auszeichnung der Raum-Zeit-Welt gegenüber anderen möglichen Räumen ge­sichert.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.908ff

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