Die moderne
physikalisch-mathematische Theorie des Raumes und der Zeit ist
die Relativitätstheorie. Die ersten Untersuchungen der
Eigenschaften des Raumes waren durch praktische Bedürfnisse der
Menschen bedingt und standen im Zusammenhang mit der
Herausbildung und Entwicklung der Geometrie im alten Ägypten
und Babylon im vierten Jahrtausend v. u. Z. In systematisierter
und verallgemeinerter Form wurde die Gesamtheit der
geometrischen Kenntnisse der Antike zum erstenmal in den
Elementen euklids
dargelegt. Einen Raum, der durch die in diesen beschriebenen
Eigenschaften gekennzeichnet ist, die der alltäglichen
Erfahrung des Menschen entsprechen, nennt man deshalb auch
einen euklidischen Raum. In der Entwicklung der
philosophischen Raum-und Zeittheorien widerspiegelt sich
deutlich der Kampf materialistischer und idealistischer,
dialektischer und metaphysischer Tendenzen. Die ersten
philosophisch bedeutsamen und zugleich im wesentlichen
materialistischen Ausführungen über Raum und Zeit finden wir bei
demokrit und
aristoteles. Aus
der Atomistik demokrits folgt unmittelbar die Anerkennung der
objektiven Existenz von Raum und Zeit. Der Raum als Leere, in
dem die Atome sich bewegen, tritt als eine notwendige Bedingung
ihrer Bewegung auf. Die Zeit, obwohl nicht unmittelbar mit den
Atomen verbunden, existiert ebenfalls nur im Zusammenhang mit
deren Bewegung. Der Raum wird von
demokrit als unendlich, die Zeit als ewig angesehen. Auch
nach aristoteles
existiert der Raum objektiv. Für die Zeit gilt, daß sie zwar
eng mit der Bewegung verbunden ist, also eine objektive
Grundlage besitzt, jedoch soll sie als «Zahl der Bewegung»
nicht ohne die Seele existieren, da nur diese zählen könne. Der
Weltraum ist aristoteles
zufolge endlich, die Zeit in stetigem und gleichmäßigem Fluß
begriffen.
Galt in der Antike und - wesentlich
bedingt durch die Herrschaft der Theologie und insbesondere des
ptolemäischen, geozentrischen Systems - auch im Mittelalter
der Weltraum allgemein als endlich, so setzt sich mit Beginn
der Neuzeit, im Anschluß an kopernikus, immer mehr der
Gedanke von seiner Unendlichkeit durch. In der Folgezeit geraten
die theologischen Raumvorstellungen in immer schärferen
Widerspruch zum wissenschaftlichen Begriff des Raumes, der auf
den Errungenschaften der neuen Naturwissenschaft, vor allem der
Mechanik, basiert. So verfochten
bruno und galilei
im bewußten Gegensatz zu den Lehren des aristoteles und der
Kirche leidenschaftlich den Gedanken eines unendlichen Weltalls.
Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist das von
galilei formulierte Relativitätsprinzip, in dem die Homogenität
von Raum und Zeit hinsichtlich des Ablaufs mechanischer Prozesse
in beliebigen Iner-tialsystemen festgestellt wird. Die von ihm
entdeckten Gesetze des freien Falls bauen wesentlich auf der
Vorstellung von einem stetigen und gleichmäßigen Ablauf der
Zeit auf. Mehr qualitativer Natur ist der von
descartes in
seiner Physik entwickelte Raumbegriif.
descartess
identifiziert Raum und Materie und verabsolutiert die
Ausdehnung zur Grundeigenschaft des Raumes. Er reduziert den
Raum auf kleinste materielle Partikel, die er Korpuskel nennt -
eine Vorstellung, die etwa dem Ätherbegriff des 19. Jahrhunderts
entspricht. Die Zeit ist ihm zufolge ein Modus des Denkens; ihre
Grundeigenschaft sei die Dauer. Während die Ausdehnung als
allgemeine Eigenschaft aller Körper (und damit der Raum)
objektiv existiert, soll die Zeit als Denkmodus nicht objektiv
sein.
Durch
newtons Schaffen erhalten die Raum- und Zeitvorstellungen
der klassischen Mechanik ihre Verallgemeinerung und endgültige
Gestalt. Raum und Zeit existieren demnach zwar objektiv real,
weisen aber eine absolute Struktur auf. Sie existieren völlig
unabhängig von der sich bewegenden Materie und voneinander. Der
Raum, das «Sen-sorium Gottes», ist dieser Auffassung zufolge als
ein unendlicher, leerer, homogener Behälter anzusehen, in dem
sich die Vorgänge der Körperwelt abspielen. Der Newtonsche
dreidimensionale Raum besitzt keinerlei physikalische, sondern
nur geometrische Eigenschaften, und zwar die der euklidischen
Geometrie. Als wesentliches Charak-teristikum der Zeit wird ihre
Gleichförmigkeit und Nichtumkehrbarkeit angesehen. Gegen die
metaphysische Trennung des Raumes und der Zeit von der sich
bewegenden Materie wendet sich der englische Materialist toland.
Er lehnt einen absoluten, unabhängig von der Materie
existierenden Raum ebenso ab wie eine absolute Zeit. Den
absoluten Charakter von Raum und Zeit erkennt auch leibniz als
den Hauptmangel der mechanisch-materialistischen Konzeption
newtons. leibniz
vertritt demgegenüber die dialektische Auffassung, Raum und Zeit
seien Verhältnisse, Ordnungsbeziehungen zwischen
koexistierenden bzw. aufeinander folgenden Objekten bzw.
Prozessen. Raum und Zeit sind also an Materie gebunden und
besitzen außerhalb dieser keine absolute Realität. Da die
Materie für leibniz jedoch nur «ein Anderssein der Seele», «ein
weltliches Band» ist, welches die Monaden zusammenhält,
letztere aber nur ideelle Existenz besitzen, geht die
prinzipiell richtige Ablehnung des
bei ihm in eine idealistische Leugnung
ihrer objektiven, realen Existenz über. Raum und Zeit sind für
leibniz letzten
Endes subjektive Wahrnehmungen, obgleich sie einer objektiven
Ordnung der Dinge in der Welt entsprechen. Diese idealistische
Auffassung des Wesens von Raum und Zeit findet ihren
entwickelten Ausdruck bei kant, für den Raum und Zeit reine
Formen der Anschauung sind, die nur dem Subjekt und nicht den
Dingen an sich zukommen. Auch hegel versucht auf
objektiv-idealistische Art die
Newtonsche Trennung des Raumes und der Zeit von der
Materie zu überwinden. Die Materie ist für ihn eine Synthese aus
Raum und Zeit und besitzt damit diesen gegenüber sekundären
Charakter. Raum und Zeit dagegen seien reine Quantitäten, deren
Veränderung niemals zu qualitativen Veränderungen führen könne.
Die idealistische Grundhaltung
hegels impliziert
somit in dieser Frage wesentlich metaphysische Vorstellungen.
feuerbach dagegen betont in seiner materialistischen Kritik der
HEGELschen Philosophie richtig, daß Raum und Zeit objektive
Existenzformen, Wesensbedingungen der Materie darstellen.
Die philosophische Kritik der
mechanisch-materialistischen Raum- und Zeitkonzeption
newtons erhält im
19. Jahrhundert durch die Entwicklung der nichteuklidischen
Geometrie und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die
Relativitätstheorie eine exakte einzelwissenschaftliche
Grundlage. Die klassische Mechanik und mit ihr die euklidische
Geometrie erweisen sich als Sonderfälle allgemeinerer Theorien
und nur für hinreichend kleine, nichtkosmische Räume und für
Geschwindigkeiten, die im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit
gering sind, als gültig. Weist bereits die spezielle
Relativitätstheorie den wesentlichen Zusammenhang zwischen Raum
und Zeit in Gestalt der vierdimensionalen Raum-Zeit-Union und
die Relativität der Zeitdauer von Prozessen sowie der
Längenausdehnung von Körpern in bewegten Systemen nach, so
deckt die allgemeine Relativitätstheorie den grundlegenden
Zusammenhang zwischen den metrischen Eigenschaften des Raumes
und der Materieverteilung in den jeweiligen Bereichen des
Weltalls auf. Die Struktur der Raum-Zeit-Union wird durch die
Wechselwirkung und die Bewegung der materiellen Systeme
bestimmt, wodurch die Einheit der kausalen und der
raum-zeitlichen Struktur der Welt gegeben ist (A. D.
alexandrow). Die Raum-Zeit-Union und ihr Zusammenhang mit
der Materie sind Ausdruck absoluter Beziehungen zwischen der
Materie und Raum und Zeit.
Damit widerlegt die moderne
Naturwissenschaft sowohl alle idealistischen Lehren der
Vergangenheit über das Wesen von Raum und Zeit als auch
subjektivistische Auffassungen vom Wesen der Zeit, die in
der modernen bürgerlichen Philosophie Verbreitung finden, in
denen die Zeit als abhängig von der Intuition, dem inneren
Schöpferdrang des Subjekts betrachtet, zugleich aber auch in
mystischer Weise substantialisiert wird (bergson,
heidegger). Andererseits bedeuten die neuesten
Erkenntnisse der Naturwissenschaft eine Bestätigung der
Grundthesen des dialektischen Materialismus über das
Verhältnis von Raum, Zeit, Materie und Bewegung.
Die Geschichte der Entwicklung der
menschlichen Raum- und Zeitvorstellungen zeigt, daß sie bei all
ihrer Veränderlichkeit und Relativität «Annäherungen an die
objektiv-realen Formen des Seins» darstellen, daß sie das Wesen
von Raum und Zeit immer adäquater und tiefer widerspiegeln.
«Die Veränderlichkeit der menschlichen Vorstellungen von Raum
und Zeit widerlegt die objektive Realität dieser beiden
ebensowenig, wie die Veränderlichkeit der wissenschaftlichen
Kenntnisse von der Struktur und den Formen der Bewegung der
Materie die objektive Realität der Außenwelt widerlegt» (LENIN
14,171f). Raum und Zeit existieren objektiv-real, unabhängig
vom menschlichen Bewußtsein. Die idealistische Behauptung, Raum
und Zeit seien subjektive Anschauungsformen usw., ist unhaltbar,
weil die sich daraus ergebende Konsequenz, daß vor dem
Erscheinen des Menschen auf der Erde die Welt dann nicht in Raum
und Zeit existiert habe, absurd ist.
Die dialektische Natur von Raum und Zeit
kommt in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausdruck; Raum und Zeit
bilden eine Einheit des Absoluten und Relativen: sie existieren
absolut, insofern sie die unabdingbaren, objektiv-realen
Existenzformen der Materie sind, sie sind relativ, da ihre
konkreten Eigenschaften vom Zustand der Materie
(Massenverteilung, Geschwindigkeit) in dem betreffenden Bereich
des Weltalls abhängen. Weiterhin zeigt sich das widersprüchliche
Wesen von Raum und Zeit darin, daß sie den Widerspruch des ->
Endlichen und Unendlichen sowie den des Stetigen und Diskreten
(->• Kontinuität und Diskontinuität) an sich haben. Die
moderne Mathematik hat den Begriff des Raumes weitgehend
verallgemeinert und gebraucht ihn im Sinne von Gesamtheiten
gleichartiger mathematischer Objekte, die als Punkte des Raumes
aufgefaßt werden (Vektorräume, Funktionalräume usw.). Bei
diesen «-dimensionalen Räumen der Mathematik handelt es sich um
Abstraktionen, die sich für mathematische Untersuchungen als
nützlich und notwendig erweisen. Sie dürfen jedoch nicht mit dem
dreidimensionalen physikalischen Raum verwechselt werden. Im
Zusammenhang mit der Erkenntnis, daß sich in der Theorie der ->
Elementarteilchen bestimmte Sachverhalte am einfachsten
darstellen lassen, wenn man nicht Raum-Zeit-Koordinaten
verwendet, sondern die Koordinaten der vierdimensiona-len
Impulsräume (wodurch der Impulsraum vor der Raum-Zeit-Welt
ausgezeichnet scheint), erhebt sich die Frage, ob die
allgemeine Relativitätstheorie nur eine von vielen möglichen
physikalischen Raumarten beschreibt. Die Raum-Zeit-Welt der
Relativitätstheorie ist jedoch gegenüber anderen möglichen
Räumen durch folgende Merkmale ausgezeichnet:
1. Alle makrophysikalischen Ereignisse
laufen in der Raum-Zeit-Welt ab.
2. Ihre Wiederholbarkeit hängt von der
geometrischen Struktur der Raum-Zeit-Welt ab, weil nach
einstein die ein
physikalisches System charakterisierenden Eigengtößen im ganzen
Kosmos miteinander vergleichbar sind. Für den Mikrokosmos
ergeben sich daraus folgende Konsequenzen:
Da die experimentellen Kenntnisse von den
mikrophysikalischen Ereignissen vermittels makrophysikalischer
Meßgeräte gewonnen werden, sind die Aussagen über
makrophysikalische Zustände mitbestimmend für die über
mikrophysikalische. Das heißt, die geometrischen Strukturen von
Raum und Zeit sind notwendige Bedingungen für jede mögliche
mikrophysikalische Erkenntnis. Dadurch scheint die Auszeichnung
der Raum-Zeit-Welt gegenüber anderen möglichen Räumen
gesichert.