Thesen zum (Anti-) Rassismus

angenommen auf der Mitgliederversammlung der RSO, November 2009
nach einem Entwurf von Eric Wegner

12/09

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In großen Teilen der Welt spielt Rassismus eine zentrale Rolle bei der Spaltung der Lohnabhängigen und Ausgebeuteten. Die Mitgliederversammlung der RSO hat sich intensiv mit den Thema und den möglichen Antworten der ArbeiterInnenbewegung beschäftigt und folgende Thesen verabschiedet.

1. Unter Rassismus verstehen wir die nachdrückliche Überbetonung von tatsächlichen oder scheinbaren Unterschieden zwischen ethnischen Gruppen, die Wertung dieser Unterschiede und ihre Verallgemeinerung auf mehr oder weniger alle Mitglieder dieser Gruppe. Auf dieser Grundlage werden Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen Rechte verweigert und andere privilegiert. Rassismus sichert die kapitalistischen Herrschaftsstrukturen durch die Spaltung der lohnabhängigen Klasse und der Ausgebeuteten.

2. Rassismus ist kein einheitliches Konzept, vielmehr bestehen unterschiedliche Arten von Rassismus, die von den jeweiligen Klassenverhältnissen, bestimmten Kulturen und konkreten historischen Situationen abhängen und die auch einer Entwicklung und Veränderung unterworfen sind. Rassistische Anklagen stützen sich einmal auf pseudowissenschaftliche Analogieschlüsse aus der Biologie, dann wieder auf (angebliche) Unterschiede in Kultur/Mentalität. In jedem Fall werden daraus allgemeine Rückschlüsse auf Charakter, Verhalten und Begabung der Gruppe der Beschuldigten gezogen und damit Privilegien und Aggressionen gerechtfertigt.

Entstehung des Rassismus

3. In früheren Klassengesellschaften waren bereits rassistische Strukturen gegenüber „Barbaren“ oder „Heiden“ vorhanden. In der europäischen Antike gab es eine Abgrenzung der griechischen beziehungsweise römischen Kultur gegenüber den „Barbaren“, das hatte allerdings keine dominant ethnischen Komponenten; es gab rassistische Strukturen, nicht aber voll entwickelte rassistische Gesellschaftsverhältnisse im modernen Sinn. Ähnliches gilt für das europäische Mittelalter, wo nicht Nation oder ethnische Gruppe entscheidend waren, sondern Stand und Religion; die antijüdischen Pogrome etwa waren Übergriffe gegen eine in bestimmten Berufsgruppen überrepräsentierte religiöse Minderheit, nicht eine als „Rasse“ konstruierte Gruppe (was sie um nichts besser macht).

4. Im chinesischen Kaiserreich existierte eine eigenständige Tradition mit rassistischen Elementen gegenüber Nicht-ChinesInnen, die einmal mit Tieren verglichen, dann wieder als durch die chinesische Kultur zivilisierbar betrachtet wurden. Im vorkolonialen Indien wurden Kastenschemata und die Stigmatisierung mit Vergleichen aus der Biologie und Vermischungsverboten legitimiert. Im vorkapitalistischen Japan gab es rassistische Elemente gegenüber der Kaste der Buraku und gegenüber den Ainu. Die Sklaverei und der SklavInnenhandel, die von den AraberInnen und „indianischen“ Völkern in Amerika betrieben wurden, dürften überwiegend ohne Rassismus ausgekommen sein.

5. Ein systematisierter Rassismus entstand mit dem sich langsam durchsetzenden Kapitalismus. Mit dem Bedürfnis der KapitalistInnenklasse nach einheitlichen Nationalstaaten verband sich das Konzept der Nation, wobei sprachlich-ethnische und territoriale Aspekte wesentliche Rollen spielten. Mit der Expansionsdynamik des Kapitals und dem Kolonialismus gingen rassistische Konzepte einher, die die Unterdrückung der afrikanischen und amerikanischen Bevölkerungen, aber auch etwa der IrInnen oder SlawInnen rechtfertigten. Die Grenzen zwischen Nationalismus und Rassismus waren dabei oft fließend.

 6. Eine erste Form dieses modernen, westlichen Rassismus entwickelte sich mit der „Reconquista“, der Rückeroberung Andalusiens durch das spanische Königshaus 1492, nach der Moslems und JüdInnen als „Marranos“ (Schweine) vertrieben oder ermordet wurden. Selbst den zum Christentum konvertierten Moslems (Moriscos) oder JüdInnen (Conversos) wurde unterstellt, dass sie im Geheimen weiter ihren Glauben ausüben würden. Die Religionszugehörigkeit wurde zum inneren Wesen von Menschen erklärt, die gewissermaßen im Blut läge, jede Vermischung wurde scharf bekämpft. Die damaligen so genannten Statuten von der „Reinheit des Blutes“ sind eine Art frühe Vorwegnahme der Nürnberger Rassengesetze der Nazis.

7. Die europäische Eroberung Amerikas führte zur Ausrottung der „indianischen“ Bevölkerung. Durch eingeschleppte Krankheiten, Umsiedlungen, Zwangsarbeit und Massaker ging ihre Zahl zwischen 1492 und 1700 nach manchen Schätzungen von 90 auf sieben Millionen zurück, wofür vor allem die spanische Kolonialmacht, in deren Herrschaftsgebiet eine größere Anzahl von „Eingeborenen“ lebte, verantwortlich zeichnete. Dem Mangel an Arbeitskräften wurde zwischen 1700 und 1850 mit der Verschleppung von etwa 12-15 Millionen AfrikanerInnen nach Amerika begegnet; zwei Millionen wurden zusätzlich in arabische Länder verschleppt. Nach Schätzungen starben bei Kämpfen, der Gefangennahme und dem Transport über 60 Millionen Menschen; verantwortlich für den Sklavenhandel waren vor allem die herrschenden Klassen von Großbritannien (41%), Portugal (29%) und Frankreich (19%).

8. Diese Politik wurde durch eine Systematisierung rassistischer Konzepte gerechtfertigt. Es wurde eine Ideologie von minderwertigen „Rassen“ entwickelt, deren Aussterben beziehungsweise Ausrottung ein „Naturgesetz“ sei. Die spanische Kolonialverwaltung etwa entwickelte ein kompliziertes rassistisches Kastensystem (Spanier + „Indianerin“ = Mestize, Spanier + Mestizin = Kastize, Spanier + „Negerin“ = Mulatte, Spanier + Mulattin = Morisco usw. usf.). In Brasilien wurde versucht, mit der Politik des so genannten „Branquemento“ die „brasilianische Rasse“ mit Hilfe „weißer“ EinwandererInnen zu „verbessern“. Selbst ein Liberaler wie Alexis de Tocquville (1805-59) sah die US-Ausdehnung nach Westen als Modell für die französische Kolonialherrschaft in Algerien und die Massakrierung der AraberInnen als „leidige Notwendigkeit“.

9. Der Kolonialismus hatte auch sehr unmittelbare Auswirkungen auf die Situation der ArbeiterInnenklasse in den kolonialisierenden Staaten. Denn die Einfuhr billiger Güter beziehungsweise Rohstoffe hatte nicht nur den Aspekt der Lohnkonkurrenz, sondern eben auch jenen der günstigen Warenkonsumation für breitere Schichten. Der steigende Wohlstand kam zu einem Teil auch der ArbeiterInnenklasse zu Gute – diese materiellen Vorteile wiederum versöhnten so manche mit den herrschenden Zuständen. Auch auf dieser Basis konnte sich innerhalb der ArbeiterInnenklasse eine konservative „ArbeiterInnenaristokratie“ herausbilden. (Ähnlich ist es heute, wo die sehr unterschiedlichen Lebensstandards in den imperialistischen Zentren beziehungsweise der Peripherie Elemente des Schulterschlusses gegen „die da draußen“ bewirken und wo ebenfalls die imperialistischen Ausbeutungsverhältnisse auch die ArbeiterInnenklassen der Zentren privilegieren).

„Rassenauslese“ und Vernichtungspolitik

10. Schließlich versuchten Ideologen der herrschenden Klasse, den Kolonialrassismus pseudowissenschaftlich zu untermauern. Eine wesentliche Rolle spielten dabei der französische Adelige Joseph de Gobineau (1816-82) und der Engländer Houston S. Chamberlain (1855-1927). Gobineau fürchtete ein Aussterben der germanischen „Rasse“, entwickelte eine Hierarchie der „Rassen“ und forderte „Rassenreinheit“. Chamberlain sprach sich für „Rassenauslese“ aus und propagierte eine „notwendige“ Ausrottung der „niederen Rassen“ durch die „überlegenen“. Diese oder ähnliche Theorien wurden in allen westlichen kapitalistischen Staaten popularisiert und als ideologische „Rationalisierung“ von Eroberung und Völkermord eingesetzt. Als Beispiele können auch esoterische RassistInnen wie Helena Blavatsky oder Rudolf Steiner, der Begründer der Steiner- beziehungsweise Waldorf-Schulen, genannt werden.

11. Konzepte und Praktiken der Vernichtung von „minderen“ Rassen wurden von allen imperialistischen Mächten entwickelt. In der britischen Kolonialverwaltung in Indien gab es ein Konzept des Verwaltungsmassenmordes, um so die einheimische Bevölkerung auf die für die ökonomische Ausbeutung des Landes notwendige Anzahl zu reduzieren. Am deutlichsten wurde die rassistische Vernichtungspolitik der westlichen Imperialismen in Afrika, wo viele Millionen Menschen durch Vertreibungen, Besatzungsterror, Massaker und vor allem durch brutalste Zwangsarbeit ermordet wurden: In Belgisch-Kongo ging die Bevölkerung zwischen 1880 und 1920 von zwanzig auf zehn Millionen zurück, in der französischen Kolonie Elfenbeinküste zwischen 1900 und 1910 von zehn auf 1,5 und in Französisch-Äquatorial-Guinea zwischen 1910 und 1924 von 7,5 auf 2,5 Millionen. Die britische Kolonialherrschaft reduzierte die Bevölkerung des Sudan zwischen 1882 und 1903 von acht auf zwei Millionen. Nach einem Aufstand in Deutsch-Südwestafrika (= Namibia) wurden von deutschen Kolonialtruppen 60.000 Menschen, 3/4 des Herero-Volkes, umgebracht. Der berühmte britische „Afrika-Forscher“ Henry M. Stanley lobte in Zusammenhang mit der Unterwerfung der afrikanischen Bevölkerung das Maschinengewehr als „Werkzeug der Zivilisation“.

12. Der deutsche und österreichisch-ungarische Imperialismus hatten vergleichsweise wenige beziehungsweise keine klassischen Kolonien in Afrika, Asien und Südamerika. Das liegt daran, dass diese imperialistischen Räuber bei der Verteilung zu spät gekommen waren (und später versuchten, mit dem 1. und 2. Weltkrieg diesen Umstand zu verändern). Allerdings war die Rolle von Österreich-Ungarn und Deutschland in Osteuropa durchaus eine imperialistische. Eine ähnliche Expansionspolitik betrieb das russische Zarenreich in Nord- und Zentralasien. Vor allem aber bedeutet Imperialismus nicht notwendigerweise den Besitz von Kolonien, sondern definiert sich über Kapitalexport, ökonomische Durchdringung und die Schaffung von Einflusszonen.

13. Auch die USA waren eine Hochburg rassistischer Vorstellungen. IrInnen oder JüdInnen etwa konnten erst durch einen langwierigen Prozess „weiß werden“. Der Hintergrund des systematischen staatlichen Rassismus des US-Kapitalismus und der vorherrschenden rassistischen Ideologie in der US-„Demokratie“ war die Legitimierung des Genozids an „indianischen“ Völkern und der Sklaverei beziehungsweise des darauf folgenden Apartheid-ähnlichen Regimes. Gerade in den USA ist der Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus ein historisch besonders ursächlicher, war doch das lange Bestehen der Sklaverei ein wesentliches Element für die (spezifische) Entwicklung und den Aufstieg des US-Kapitalismus.

14. Anfang des 20. Jahrhunderts dominierten in der weißen, angelsächsischen US-Herrschaftselite Mischungen von Eugenik mit ihren Sterilisierungs- und Selektionsvorstellungen, von Sozialdarwinismus und von Vorstellungen einer „natürlichen Rassenselektion“ (Vorstellungen von Selektion, die wir ablehnen, gab es auch in der ArbeiterInnenbewegung, doch waren sie in einem komplett anderen Kontext entstanden – die gesamte Menschheit sollte aus sich selbst heraus einen „neuen Menschen schaffen – und hatten somit sowohl völlig andere Ausgangsbedingungen wie Zielsetzungen). Theodore Roosevelt, US-Präsident von 1901 bis 1909 und Friedensnobelpreisträger, bezeichnete die Westexpansion der USA als „Vollendung der rassischen Entwicklung“ der germanischen Stämme. Madison Grant (1865-1937) führte den Begriff des „Nordicizing“ ein und wollte damit die „Flut“ der „rassisch“ verderblichen EinwandererInnen zurückdrängen. Theodore L. Stoddard (1883-1950) erfand den Begriff des „Underman“, der ins Deutsche übersetzt von den Nazis aufgegriffen wurde. Hauptfinanzier und Zentralfigur dieser offensiv rassistischen Oberschichtkreise, denen auch der Erfinder Thomas Edison und der Atlantik-Überflieger Charles Lindbergh angehörten, war der Großindustrielle Henry Ford (1863-1947), dessen Zeitung „Dearborn Independent“ systematisch rassistische und insbesondere antisemitische Propaganda betrieb. Anfang der 1920er Jahre gab es in den USA eine regelrechte Welle des Antisemitismus, in der die JüdInnen als die Nation zersetzende „Parasiten“ und bolschewistische VerschwörerInnen dargestellt wurden. Antikommunismus war auch für den Automobilkapitalisten Ford ein wesentliches Motiv hinter dem Hass auf die jüdischen „Kosmopoliten“. In seinem Bestseller „The international Jew – the world´s foremost problem“ wurde unter anderem behauptet, eine „schmarotzende Neigung“ der JüdInnen liege „in ihrem Wesen begründet“. Fords Buch wurde zu einem wichtigen Orientierungspunkt für Hitler und andere Nazi-Führer.

15. Einen neuen Höhepunkt rassistischer Vernichtungspolitik stellt das deutsche NS-Regime dar. Es handelt sich dabei nicht um einen Bruch mit einer vermeintlichen kapitalistischen „Zivilisation“, um eine Art Betriebsunfall, sondern vielmehr um eine Kontinuität imperialistischer Praxis; diese Praxis wurde vom bei der Aufteilung der Welt in Einflusszonen zu spät gekommenen Deutschen Reich radikalisiert (ähnliches gilt für den ebenfalls zu spät gekommenen japanischen Imperialismus und seine rassistische Vernichtungspolitik in Korea und China). Eine Wurzel der NS-Politik waren die Lebensraum-Konzepte der nationalistischen Strömung der „Alldeutschen“, die viele Ähnlichkeiten mit kolonialistischen Plänen anderer Großmächte hatten. In Fortschreibung kolonialistischer „Rassen“-Hierarchien, antisemitischer Traditionen in Mittel- und Osteuropa und den Ansichten Henry Fords unterschieden die Nazi-Ideologen drei Menschengruppen: a) „kulturstiftende Rassen“ (nordisch-„arische“ „Herrenrasse“), b) „kulturtragende Rassen“ (etwa AsiatInnen, AfrikanerInnen) und c) „kulturzersetzende Rassen“ (JüdInnen, Roma/Sinti). Den JüdInnen wurde auch von den Nazis zur Last gelegt, dass besonders viele von ihnen den – die angeblich naturgegebene (Klassen-) Ordnung untergrabenden – Kommunismus unterstützten. In der Praxis waren die NS-„Rassentheorien“ teilweise beliebig und den Interessen der imperialistischen Eroberungspolitik unterworfen, was sich an den Bündnissen mit den slawischen Staaten Kroatien, Slowakei und Bulgarien und der Aufstellung von bosnischen und ukrainischen SS-Einheiten zeigte.

16. Neu an der rassistischen Vernichtungspolitik der Nazis war erstens die Übertragung der Kolonialmethoden auf „zivilisierte“ europäische Völker. Die Naziführung artikulierte das explizit: Hitler orientierte sich bei der Besatzungspolitik in Osteuropa am britischen Kolonialismus und sprach von der Schaffung eines „deutschen Indiens bis zum Ural“. In Bezug auf die „Germanisierung“ der Ukraine forderte er, „die Ureinwohner als Indianer zu betrachten“. Und Erich Koch, der berüchtigte Reichskommissar für die Ukraine, sagte, er habe einen Kolonialkrieg „wie unter Negern“ geführt. Der zweite neue Aspekt des Massenmordes der Nazis war seine Industrialisierung. Was das Vernichtungsprogramm der SS und der mit ihr kooperierenden Wehrmacht, Polizei, Ministerien, Konzerne etc. beispielsweise vom Genozid der osmanisch-türkischen Armee an den ArmenierInnen unterschied, war der zu guten Teilen durchindustrialisierte Charakter, der den Möglichkeiten eines hochindustrialisierten kapitalistischen Landes entsprach. Millionen SlawInnen (besonders sowjetische Kriegsgefangene), JüdInnen, Roma/Sinti und andere wurden in der Logik der NS-„Rassenauslese“ in eigens angelegten riesigen Vernichtungslagern ermordet. Gleichzeitig wurden in Osteuropa und am Balkan vom rassistischen Besatzungsregime Nazideutschlands und seiner Verbündeten Millionen Menschen mit herkömmlichen Kolonialmethoden ums Leben gebracht: Vertreibungen, Massaker, Zwangsarbeit, Entziehung von Lebensmitteln etc. Insgesamt wurden zwischen 1941 und 1945 unter anderem über 20 Millionen SlawInnen und etwa sechs Millionen JüdInnen von den FaschistInnen ermordet. Der Nationalsozialismus stellt also keinen einmaligen historischen „Zivilisationsbruch“ dar, sondern ist nur in Zusammenhang mit dem Kapitalismus, seinen ökonomischen und ideologischen Auswirkungen, zu verstehen.

„Antirassistischer“ Rassismus

17. Nach der Niederlage des deutschen und japanischen Imperialismus im Jahr 1945 gerieten extreme rassistische Konzeptionen wie die der Nazis in die Defensive. Die Mehrheit der herrschenden Klassen, auch in Deutschland und Japan, distanzierte sich offiziell von der NS-Vernichtungspolitik. Dazu kam noch die in den späten 1940er Jahren anlaufende „Entkolonialisierung“, die vom nun dominanten US-Imperialismus teilweise mitgetragen wurde, um verschiedene Regionen in eigene Halbkolonien (also politisch formell unabhängige, aber ökonomisch stark abhängige Staaten) umzuwandeln. Mit der Bildung neuer, formal eigenständiger Staaten in Asien und Afrika gingen auch Anspruch und Illusion von wirklicher Unabhängigkeit und gleichen Rechten einher.

18. Tatsächlich wurde aber in der neuen, „demokratischen“ und „antifaschistischen“ Weltordnung nach 1945 eine rassistische Kontinuität in vielen Aspekten fortgesetzt. Die ehemaligen NS-Funktionäre wurden von den westlichen Besatzungen nicht nur – gegen die ArbeiterInnenbewegung – in die Staatsapparate der BRD und Österreichs eingebaut. In vielen Ländern passte die These, ausschließlich Opfer des NS-Regimes gewesen zu sein, gut ins politische Kalkül, daher wurde über den hauseigenen Faschismus, die Rolle der eigenen Eliten beziehungsweise ehemalige KollaborateurInnen oft ein Mantel des Schweigens gebreitet und sie konnten ihre Karrieren nach 1945 fortsetzen. US-Geheimdienste und französische Fremdenlegion warben SS-Leute an, in Griechenland arbeiteten Großbritannien und die USA mit den ehemaligen NS-KollaborateurInnen zur Niederschlagung der PartisanInnenbewegung zusammen. Der Hauptfeind des US-Imperialismus und die KapitalistInnenklassen seiner Junior-Partner waren der Kommunismus und die Sowjetunion; da waren Rechtsextreme willkommene Verbündete. Mit den Diktaturen von Francisco Franco in Spanien und António Salazar in Portugal fand der „Westen“ ein ebenso gutes Einvernehmen wie mit dem rassistischen Apartheid-Staat in Südafrika. In Algerien, Angola, Indochina etc. wurden von imperialistischen Mächten weitere Kolonialkriege geführt, die mit einer Reproduktion klassischer kolonialrassistischer Stereotypen einhergingen. In den USA wurde die ausgrenzende Segregationspolitik gegenüber Schwarzen fortgesetzt.

19. Die „Bürgerrechtsbewegung“ der schwarzen Minderheit in den USA und die „68er-Bewegung“ auf internationaler Ebene führten zu einer weiteren Modifizierung der Fassade des Systems. Die Ergebnisse der Bürgerrechtsbewegung waren das Ende der Segregation und die formale Gleichstellung bei Fortsetzung der Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung sowie die Aufstiegsmöglichkeit für eine schwarze Mittelschicht bei Aufrechterhaltung der sozialen Deklassierung der Mehrheit der „AfroamerikanerInnen“. Die 68er-Bewegung scheiterte mit ihren systemüberwindenden Ansprüchen, hatte aber eine ideologische „Modernisierung“ zur Folge – und die Integration eines Teils ihrer AktivistInnen, die unter anderem ein antirassistisches Selbstverständnis mitbrachten, in Staat, Universitäten, Parteien und Medien. Ein Großteil des Establishments verkaufte sich von nun an offiziell als „antirassistisch“. Gleichzeitig wurde aber von der KapitalistInnenklasse und ihren politischen und medialen HandlangerInnen auch immer wieder offen rassistische Propaganda betrieben – gegen „die Russen“ im Kalten Krieg, gegen „die Japaner“ mit ihren Exporterfolgen in den 1980er Jahren, zuletzt gegen „die Chinesen“ und die angeblich von ihnen ausgehende Gefahr und insbesondere „die Moslems“ im Zuge des so genannten „War on Terror“ und des „Kampfes der Kulturen“.

20. Im letzten halben Jahrhundert systematisiert wurde auch der staatliche Rassismus gegen ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge. Arbeitsmigration hatte es schon in früheren Phasen der kapitalistischen Entwicklung gegeben (PolInnen ins Ruhrgebiet, TschechInnen nach Ostösterreich, ItalienerInnen in die Schweiz usw. usf.), mit dem so genannten „langen Boom“ des Kapitalismus in den 1950er Jahren begann eine neue Phase intensivierter Verschiebung von Arbeitskräften. In sämtlichen imperialistischen Zentren wurden ArbeiterInnen aus anderen Ländern angeworben. In Britannien und Frankreich begann die Massenzuwanderung in den 1950er Jahren; zu ImmigrantInnen aus den (ehemaligen) Kolonien kamen in Frankreich noch solche aus Südeuropa. In Deutschland und Österreich setzte die Massenzuwanderung in den 1960er Jahren ein, wobei es in Deutschland vor allem EinwandererInnen aus der Türkei, Italien, Spanien und Griechenland waren, in Österreich vor allem aus Jugoslawien und der Türkei; in die Schweiz kamen bereits seit den 1950er Jahren verstärkt MigrantInnen aus Italien, Spanien und Portugal.

21. Die Ursachen für diese Auswanderungsbewegung waren einerseits die Folgen des imperialistischen Weltsystems, die in vielen Ländern die Existenzbedingungen erschwerten, andererseits die gezielte Anwerbung von ArbeiterInnen durch Staaten und Konzerne, denen es in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwunges und der Vollbeschäftigung vor allem um zusätzliche billige Arbeitskräfte, um Lohndruck auf die Beschäftigten und um eine Spaltung der Klasse ging. Eine notwendige Voraussetzung dafür war und ist die vergleichsweise Rechtlosigkeit der zugewanderten Lohnabhängigen durch Sondergesetze und die flexible Regulierung des unteren Arbeitsmarktes entsprechend der wechselnden Bedürfnisse des Kapitals.

22. Von 1965 bis 1990 stieg die Zahl der Menschen, die nicht in ihrem Geburtsland lebten, von 75 auf 120 Millionen; 2005 lag sie – nach einer Schätzung der UNO – schließlich bei etwa 190 Millionen. Damit hat sich der Anteil der MigrantInnen an der Weltbevölkerung kaum verändert (im Bereich von 2-3%). Weltweit überweisen die AuswandererInnen mindestens 150 Milliarden US-Dollar an Ersparnissen in ihre Herkunftsländer (vor allem an ihre Familien). Das wichtigste Ziel von Migration ist weiterhin Nordamerika, gefolgt von Westeuropa, den arabischen Golfstaaten (wo vor allem ZuwandererInnen aus Nordafrika und Südasien, meist unter völlig entrechteten Verhältnissen, leben) und Australien. Lebten in den USA im Jahr 1950 etwa zehn Millionen EinwandererInnen (6,9% der Bevölkerung), so waren es 2007 über 37 Millionen (12,4%); die Zahl der „illegalen“ ImmigrantInnen wird auf über 10 Millionen geschätzt. 1950 lebten in Westeuropa (alte EU-15 plus Schweiz und Norwegen) nur knapp 4 Millionen ausländische StaatsbürgerInnen, 2005 waren es bereits gut 24 Millionen (von denen freilich ein erheblicher Teil bereits im Zielland ihrer Vorfahren geboren wurde). In den 25 EU-Staaten plus Norwegen und Schweiz lebten 2005 etwa 42 Millionen Menschen, die ihren Geburtsort in einem anderen europäischen Land beziehungsweise außerhalb Europas hatten (darunter sind auch etliche Millionen „RückkehrerInnen“ aus britischen, französischen etc. Kolonien, vertriebene Deutsche aus den ehemaligen „Ostgebieten“ sowie so genannten deutschen „Spätaussiedler“). In Deutschland leben 10,1 Millionen ZuwandererInnen, in Frankreich 6,5 Millionen, in Großbritannien 5,4 Millionen, in Spanien 4,8 Millionen, in Italien 2,5 Millionen, in der Schweiz 1,7 Millionen und in Österreich 1,2 Millionen. Im europäischen Durchschnitt beträgt die Zahl der ImmigrantInnen etwa 8,6%. Mehr als die Hälfte der in westeuropäische Länder Zugewanderten besitzt nur die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes.

23. Um die flexible Regulierung des MigrantInnen-Arbeitsmarktes nach den Bedürfnissen des Kapitals durchzusetzen, betreiben die imperialistischen Zentren eine Abschottungspolitik. Damit können die „brauchbaren“ von den unerwünschten ZuwandererInnen selektiert werden. Die USA errichteten ihren „Zaun“ an der mexikanischen Grenze und haben die Einreisekontrollen seit 2001 massiv verschärft. Die EU hat die „Festung Europa“ in den letzten Jahren immer mehr ausgebaut, die Schengen-Außengrenzen werden verstärkt überwacht, die EU-Grenzkontrollagentur FRONTEX agiert auch in internationalen Gewässern als militarisierte Polizeitruppe, um Flüchtlinge abzuwehren. In sämtlichen europäischen Staaten wurde das Asylrecht immer mehr ausgehebelt.

24. Während jedes Jahr tausende verzweifelte Menschen an den „Mauern“ der Festung Europa verrecken, gibt es erhebliche Gruppen, die von diesem imperialistisch-rassistischen Grenzregime profitieren. Das betrifft nicht nur die herrschende Klasse, die insgesamt der Hauptprofiteur ist, sondern auch verschiedenste kleinbürgerliche und besser gestellte proletarische Schichten, die um relativ wenig Geld Reinigungskräfte im Haushalt, Pflegekräfte für alte/kranke Angehörige und SchwarzarbeiterInnen beim Hausbau, der Gartenpflege oder in der Landwirtschaft finden (und oft genug gleichzeitig gegen „Überfremdung“ hetzen). Es profitieren die BesitzerInnen von abgelegenen und/oder heruntergekommenen Hotels, die ihre Bruchbude mit AsylwerberInnen noch mal belegen können. Und es profitieren die Schlepperbanden, die von Staat und Medien als die Wurzel der illegalen Einwanderung verurteilt werden, wo ihre Dienstleistung doch erst durch die rassistischen Einwanderungsgesetze nachgefragt wird.

25. Dasselbe Establishment, das mit diesem imperialistischen Grenzregime weit mehr Menschen tötet als rechtsextreme Banden es tun, gibt sich offiziell „politisch korrekt“ und „antirassistisch“. In diversen Fernsehserien werden Beispiele für wunderbare Integration von MigrantInnen oder Angehörigen von ethnischen Minderheiten vorgestellt, in modernen Krimis ist „der Ausländer“ schlussendlich nicht der Mörder und dieselbe UEFA, die von Repression und Nationalismus geprägte Fußballgroßveranstaltungen durchführt, organisiert in der Stadien offiziöse Statements „gegen Rassismus“. Hinter dieser Fassade findet real eine rassistische Einteilung von Menschen nach Herkunft statt. Davon, wo jemand zufällig geboren ist und welchen Pass er/sie hat, wird abgeleitet, ob er/sie im Land bleiben darf, welchen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen er/sie hat. Dabei ist dieser moderne staatliche Rassismus natürlich auch eine soziale Frage. Ein gutes Beispiel dafür ist die Einführung von verpflichtenden Deutschkursen für ZuwandererInnen in Österreich: Als die Grünen kritisierten, dass das ja ManagerInnen, UniversitätsprofessorInnen und andere für Österreich wichtige „Schlüsselarbeitskräfte“, die doch ohnehin gut Englisch könnten, abschrecken würde, antwortete die Regierung, dass diese Gruppen nicht gemeint seien und es da eine Ausnahmeregelung geben werde. Im Klartext: Die rassistische Schikane gilt nur für ArbeiterInnen und für Flüchtlinge.

Rassismus und extreme Rechte

26. Zusätzlich zum staatlichen Rassismus eines offiziös „antirassistischen“ Establishments gibt es in faktisch allen imperialistischen Ländern mehr oder weniger bedeutende offen rassistische, rechtsextreme und/oder faschistische Parteien. Dazu gehören die BNP in Großbritannien, der Front National in Frankreich, die Lega Nord sowie das Bündnis aus Berlusconi und Allianza Nazionale, die SVP in der Schweiz, die FPÖ und BZÖ in Österreich oder NPD, Republikaner und DVU in Deutschland. Sie haben die Funktion eines Rammbockes zur Durchsetzung des staatlichen Rassismus; sie besorgen in Einklang mit Teilen der Medien eine systematische rassistische Stimmungsmache gegen „Asylbetrug“, „schwarze Drogendealer“, „Ausländerkriminalität“, „Zuwanderungsflut“, „Überfremdung“ etc., auf deren Grundlage die Regierungen immer rassistischere Gesetze einführen. Vor allem in Osteuropa, aber auch in Italien betrieben diese Parteien zuletzt eine massiv verstärkte Hetze gegen Roma und Sinti, was teilweise zu Pogromen führte. Der offensive Rassismus dieser rechtsextremen und/oder faschistischen Parteien spielt für die herrschende Klasse eine wichtige Rolle zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse und zur Ablenkung der Wut über soziale Verschlechterungen auf den Sündenbock „Ausländer“. Die rechtsextremen/faschistischen Parteien stellen für die KapitalistInnenklasse außerdem eine Rute im Fenster dar – für den Fall, dass der Klassenkampf es erfordert, eine Option zur weiteren Verschärfung rassistischer und autoritärer Politik.

27. In Teilen der rechtsextremen Szene in Nord-, West und Mitteleuropa sowie Nordamerika wird weiterhin mit „Germanentum“ (oder Deutschtum) hantiert. Gleichzeitig gab es aber auch in der extremen Rechten seit den 1960er Jahren partielle Modifikationen ihrer „theoretischen“ Konzepte. Beispielsweise entwickelte sich in deutschen rechtsextremen Think-Thanks eine Kritik am NS-Mythos von der „nordischen Rasse“, der zu einer Spaltung der „europiden Rasse“ und zu einem verhängnisvollen Kampf mit den SlawInnen geführt hätte. Stattdessen begann man sich an US-amerikanischen rassistischen Konzepten auszurichten, denen es um eine „weiße Rasse“ geht. In diese Tradition stellt sich etwa der FPÖ-Ideologe Andreas Mölzer, wenn er – im Kampf um Stimmen serbischer MigrantInnen – ausführt, dass die Differenzen zwischen Serbien und Österreich/Deutschland historische Details gewesen seien und es heute um eine gemeinsame Verteidigung der europäischen Kultur gehe. Solche gesamteuropäischen rassistisch-rechtsextremen Konzepte kommen freilich angesichts „historischer Details“ dann doch immer wieder ins Straucheln; Kooperationen zwischen italienischen und österreichischen/deutschen RechtsextremistInnen scheitern regelmäßig an der Südtirol-Frage. Dennoch gehört einem weißen (gegenüber einem germanischen) rechtsextremen Rassismus zweifellos die Zukunft. Elemente in diese Richtung gab es übrigens durchaus schon bei NS-Identitätsbildungen der nichtdeutschen Einheiten der Waffen-SS gegen das „jüdisch-sowjetische Asiatentum“, wo (ähnlich wie bei der heutigen FPÖ) an alte Traditionen der „Verteidigung des „Abendlandes“ angeknüpft wurde. Während antisemitische Positionen in großen Teilen der extremen Rechten weiterhin offen oder versteckt vorhanden sind, gab es auch in deutschen rechtsextremen Theoriezirkeln Ansätze, die den Antisemitismus als fatalen Ausschluss der jüdischen Deutschen aus der Nation zurückwiesen. Verquickt mit der Nahost-Frage spielt der antimoslemische Rassismus in der extremen Rechten gegenwärtig tendenziell die wichtigere Rolle als der Antisemitismus – und ist auch gut mit dem „Krieg gegen den Terror“-Propaganda des imperialistischen Establishments vereinbar.

28. In der Popularisierung und Propaganda wird von der extremen Rechten weiterhin der traditionelle Primitivrassismus verbreitet beziehungsweise bedient, wonach Nichtweiße von Natur aus dümmer, minderwertig oder sonst was wären. In rechtsextremen „theoretischen“ Konzepten hat sich hingegen, beginnend mit den 1960er Jahren, zunehmend der so genannte „Ethnopluralismus“ verbreitet. In diesen Konzepten wird nicht davon ausgegangen, dass die eigene Nation oder „Rasse“ besser oder wertvoller sei als andere. Andere Völker werden offiziell respektiert, andere Nationalismen gern gesehen und teilweise sogar unterstützt (wobei jede/r NationalistIn natürlich vor allem für das Wohl der eigenen Nation eintreten müsse). Aus Sicht der EthnopluralistInnen sind vielmehr „Rassenmischung“ und „Multikultur“ die Übel, die bekämpft werden müssten. Auf dieser Grundlage äußerten sich deutsche Rechtsextreme Anfang der 1970er Jahre positiv über die separatistische Bewegung der Schwarzen in den USA (bis hin zu den Black Panthers). Auf dieser Grundlage gab es in Deutschland in jüngerer Vergangenheit Kooperationen zwischen Neonazigruppen und türkischen FaschistInnen. Antisemitismus ist mit ethnopluralistischen Konzepten gut vereinbar, da die JüdInnen aufgrund ihres „nomadischen Händlergeistes“ oft als „heimatloses Volk“ und „zersetzend“ für andere Völker betrachtet werden; allenfalls Israel als Nationsbildungsprojekt wird in dieser Logik teilweise positiver bewertet (wobei die meisten Neonazis die Unterdrückung der PalästinenserInnen zur Legitimierung ihres Antisemitismus benutzen). Insgesamt ist der Ethnopluralismus der extremen Rechten im Wesentlichen ein Deckmantel für eine rassistische Praxis und insbesondere eine „Ausländer-raus“-Politik.

29. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten, vor allem im angelsächsischen Raum, immer wieder etablierte WissenschaftlerInnen (Audrey Shueys 1958, Arthur Jensen 1969/72, Hans Eysenck 1971/73 und auch noch Richard Herrnstein / Charles Murray 1994) versucht, mit Hilfe von so genannten IQ-Tests zu beweisen, dass Weiße aufgrund ihrer genetischen Anlagen im Durchschnitt intelligenter seien als Schwarze. Dabei und traditionell wurden davon ausgegangen, dass eine „Rasse“ des Menschen in sich genetisch relativ einheitlich, aber deutlich verschieden zu anderen „Rassen“ sei. In den frühen 1990er Jahren brachten allerdings Fortschritte der modernen Biologie, die sich auf Methoden der Molekular- und Populationsgenetik stützen, die Einsicht, dass diese Sichtweise völlig unangemessen ist. Es wurde gezeigt, dass die genetischen Unterschiede zwischen Menschen gleitend sind und es keine größere Diskontinuität zwischen „Rassen“ gibt. Die genetischen Unterschiede sind innerhalb einer „Rasse“ groß (90%), während die Unterschiede zwischen den (Populationsdurchschnitten von) „Rassen“ klein sind (10%). Aspekte wie Hautfarbe oder Körpergestalt sind Unterschiede der äußeren Erscheinung, die eine Anpassung an Umweltbedingungen ausdrücken, die zugrunde liegenden genetischen Unterschiede sind sehr gering. Es gibt zwischen den „Rassen“ keine Unterschiede in der Fähigkeit zu denken oder zu fühlen, die unabhängig von kulturellen Faktoren sind. Jede Typologisierung in „Rassen“ ist wissenschaftlich unhaltbar.

30. Angesichts dieser Erkenntnisse ist der biologistische Rassismus in den letzten 15 Jahren am Rückzug. Zumindest auf „theoretischer“ Ebene trat immer mehr ein „Kulturrassismus“ in den Vordergrund, der andere Kulturen und „Mentalitäten“ als primitiv, barbarisch, rückständig oder zumindest als so „anders“ kategorisiert, dass sie sich unmöglich mit der eigenen Kultur vertragen würden – und weshalb eine Separation der Kulturen oder zumindest eine „Leitkultur“ durchgesetzt werden müsste. Die „andere“ Mentalität wäre – in diesen Konzepten – dem Einzelnen eigentlich nicht angeboren, aber in der rassistischen Praxis sind die Grenzen zu biologistischen Vorstellungen vom „Wesen“ bestimmter „Rassen“ oder Völker fließend. Der heute vorherrschende kulturelle Rassismus wird nicht nur von der extremen Rechten betrieben, sondern auch von einem relevanten Teil des politischen und medialen Establishments. Der von Samuel Huntington beschworene „Kampf der Kulturen“ passt nicht umsonst bestens zum „Krieg gegen den Terror“ der USA. Und auch die VerteidigerInnen des christlichen „Abendlandes“ haben hier ihre Anknüpfungspunkte.

Formen des Rassismus

31. Rassismus ist wie gesagt nicht einheitlich, vielmehr bestehen unterschiedliche Arten von Rassismus, die von den jeweiligen Klassenverhältnissen, bestimmten Kulturen und konkreten historischen Situationen abhängen und die auch einer Entwicklung und Veränderung unterworfen sind. Verschiedene Formen von Rassismus richten sich gegen verschiedene ethnische Gruppen. In der „Argumentation“ dieser Rassismen gibt es Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede. Sämtliche Spielarten von Rassismus, die im Folgenden schematisch dargestellt werden, können sowohl biologistisch als auch kulturalistisch daherkommen.

32. Eine ablehnende Haltung gegenüber Völkern oder Nationen, die im imperialistischen Weltsystem eine gleiche oder ähnliche Position einnehmen, entspricht weitgehend den klassischen Nationalismen, wie sie als ideologische Begleitmusik im Ersten Weltkrieg in ziemlich „reiner“ Form aufeinander prallten. Die Konkurrenz zwischen imperialistischen Nationen ist in den meisten Fällen kein Rassismus im engeren Sinn, oft haben die nationalistischen Feindseligkeiten aber durchaus rassistische Elemente, die den anderen Völkern kollektiv negative und niedrige Eigenschaften unterstellen und die in abwertenden Bezeichnungen zum Ausdruck kommen („Katzelmacher“ für ItalienerInnen in Österreich, „Boche“ für Deutsche in Frankreich). Die antijapanische Stimmung in den USA und Europa beispielsweise war teilweise mit einem sehr expliziten Rassismus gegen AsiatInnen verbunden.

33. Der Rassismus gegen ökonomisch (und in der Folge in Hinblick auf die Entwicklung der Klassenstruktur und das Weiterbestehen von besonders patriarchalen Sozialstrukturen) rückständige und angeblich „primitive“ Länder und deren EinwohnerInnen ist eine der am meisten verbreiteten Formen. Er kann am traditionellen Kolonialrassismus anknüpfen, der auch nach der so genannten „Entkolonialisierung“ fortgesetzt wurde – insbesondere gegen „SchwarzafrikanerInnen“ und AraberInnen, die (ohne die Verwaltung der Weißen) die Länder „zugrunde richten“ würden, unfähig und barbarisch seien und sich ohnehin nur gegenseitig umbringen würden. „Übersehen“ wird dabei, dass diese Länder nicht nur ökonomisch – durch die Infrastruktur, durch Besitzverhältnisse etc. – und politisch – durch künstliche Grenzziehungen etc.- weiterhin unter dem Erbe des Kolonialismus leiden. Darüber hinaus werden sie auch weiterhin von Konzernen aus imperialistischen Staaten ausgebeutet, BürgerInnenkriege werden oft durch imperialistische Interessen ausgelöst oder geschürt. Die Menschen aus den ehemaligen Kolonien werden von EuropäerInnen oft auch heute noch offen oder unterschwellig als minderwertig angesehen. Ihnen und ihren Ländern wird in diesem rassistischen Denken eine bestimmte, untergeordnete Position in der Welt als fix und unabänderlich zugewiesen (Elend, hohe Kindersterblichkeit, Hunger etc. gehören sozusagen dazu in Afrika). Zu dieser Form des Rassismus gehört auch das zionistische Kolonialprojekt Israel. Der Wunsch vieler Menschen aus jüdisch-kultureller Tradition auf einen gefahrfreien Rückzugsort war nach 1945 verständlich. Doch die Folgen der Verbrechen des deutschen und österreichischen Großkapitals mussten nicht die VerursacherInnen, sondern die PalästinenserInnen bezahlen. Die bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Ideologie des Zionismus mit ihren kolonial-rassistischen Implikationen („ein Bollwerk des Abendlandes schaffen“) lieferte hierfür die passende Grundlage. Und das bestimmt bis heute die Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung Palästinas.

34. Die heute in den meisten imperialistischen Ländern vorherrschende Form des Rassismus ist die gegen MigrantInnen, im Wesentlichen gegen diejenigen aus „rückständigeren“ und ärmeren Ländern. Die RassistInnen werfen ihnen vor, dass sie eine ihnen eigene primitive Kultur hätten, sich nicht an die Gesellschaft des „Gastlandes“ anpassen wollten, die Sozialsysteme übermäßig und illegitim ausnutzten, den Einheimischen „die Arbeitsplätze wegnehmen“ würden etc. In Bezug auf die sozialen Probleme werden MigrantInnen schlicht als Sündenböcke verwendet, womit darüber hinweg getäuscht werden soll, dass die Sozialsysteme durch jahrzehntelange Umverteilung von unten nach oben ausgehungert wurden, dass MigrantInnen Steuern zahlen wie „InländerInnen“, einige Sozialleistungen aber an die StaatsbürgerInnenschaft geknüpft sind, dass durch Arbeitszeitverkürzung auf Kosten des Kapitals keine Arbeitslosigkeit bestehen müsste, dass durch eine Überwindung der kapitalistischen Profitlogik soziale Sicherheit für alle möglich wäre.

Bei den Vorwürfen kultureller Rückständigkeit ignorieren rassistische Konzepte, dass archaische und konservative Strukturen in migrantischen Gemeinden nicht im Wesen des jeweiligen Volkes liegen, sondern Ausdruck bestimmter historischer und ökonomischer Verhältnisse sind, dass MigrantInnen oft aus besonders rückständigen ländlichen Gebieten ihres Herkunftslandes kommen, dass auch in europäischen Gesellschaften archaische Verhältnisse erst langsam durch die kapitalistische Industrialisierung und Urbanisierung zurückgedrängt wurden und in so mancher agrarischer Region weiter existieren. Stattdessen konstruieren RassistInnen die Gesellschaften der MigrantInnen, aktuell besonders die aus moslemischen Ländern, als in sich einheitlich, statisch und unempfänglich für Veränderungen. Sie werden als dem „Westen“ unterlegen und durchgängig barbarisch, irrational, sexistisch, gewalttätig und bedrohlich dargestellt. Islamophobie ist in vielen europäischen Ländern auch besonders ein Elitendiskurs, der es großen Teilen der ex-linken, liberalen und konservativen Intellektuellen erlaubt, Vorurteile gegen MigrantInnen als Sorge der europäischen Aufklärung erscheinen zu lassen. Dabei sind die Vorwürfe gegen „die Türken“ oder „die Moslems“, nämlich etwa Frauen sexistisch zu behandeln und Schwule nicht zu mögen, durchaus gängige Alltagspraxis auch großer Teile der „europäischen“ Bevölkerung – werden aber im islamophoben Rassismus als spezielle, ihrem Wesen entsprechende und unveränderliche Eigenschaften moslemischer Einwanderer entworfen. Dass Frauen oft ein besonders unterdrückter Teil der migrantischen Gemeinden sind, liegt dabei aber nicht nur an patriarchalen Strukturen dieser Gemeinden, sondern auch an den rassistischen Einwanderungsgesetzen vieler Länder, die die Aufenthaltserlaubnis von Familienangehörigen (also oft von Frauen) an die des zuerst zugewanderten Lohnabhängigen (als meist von Männern) binden und eigenständige Erwerbstätigkeit untersagen. Andere besonders unterdrückte Gruppen von MigrantInnen sind AsylwerberInnen, die sich ohnehin schon in einer besonders schweren Situation befinden. Sie werden immer rigider abgewiesen, legaler Erwerb ist ihnen oft verboten, massenmedial und politisch werden sie auch noch kriminalisiert. Politische Flüchtlinge sind auch in den Ländern, in die sie sich gerettet haben, teilweise Übergriffen aus der „eigenen“ MigrantInnengemeinde oder den jeweiligen Botschaften ausgesetzt. Und schließlich gibt es in etlichen Fällen auch rassistische Vorurteile und Aggressionen zwischen unterschiedlichen MigrantInnengruppen (beispielsweise von türkischen oder ex-jugoslawischen MigrantInnen in Österreich gegen Schwarze), bei denen es – neben tradierten Vorurteilen – teilweise auch, offen oder verdeckt, um die etwas bessere Position im Einwanderungsland geht.

35. Aber nicht nur neu eingewanderte Gruppen sind Zielscheiben von Rassismus, sondern auch Minderheiten, die schon seit langer Zeit, oft auch länger als die Mehrheitsbevölkerung, im jeweiligen Land leben. Dazu gehören sowohl „Territorialminderheiten“ wie die SlowenInnen in Österreich, KeltInnen in Großbritannien oder die BaskInnen und KorsInnen in Frankreich als auch verstreut lebende Minderheiten wie die Schwarzen oder „IndianerInnen“ in den USA oder die Roma in Europa. Während letztgenannte Gruppen von Jahrhunderte langer systematischer rassistischer Ausschließung betroffen waren, waren die meisten „Territorialminderheiten“ mit Hilfe nachdrücklicher Diskriminierung einem ebenso langen Assimilationsdruck ausgesetzt. Verstreut lebenden wie territorialen Minderheit ist gemeinsam, dass sie vom Rassismus der Mehrheitsbevölkerungen als rückständig, minderwertig und oft auch illoyal gegenüber „der Nation“ stigmatisiert wurden und werden, dass sie benachteiligt und in einer untergeordneten Position gehalten werden. Solche Arten von Rassismus gegen Minderheiten werden teilweise auch von MigrantInnen in Einwanderungsländer „mitgenommen“ und dort reproduziert, zum Beispiel von TürkInnen gegen KurdInnen oder von SerbInnen gegen AlbanerInnen.

36. Eine weitere Form des Rassismus ist der gegen „höher stehende“ ethnische Minderheiten, die wir (nach dem Marxisten Abraham Léon) als „Volksklassen“ bezeichnen können. Gemeint sind Gruppen, die sich nicht nur ethnisch/kulturell von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden, sondern auch in bestimmten Wirtschaftssektoren (traditionell besonders im Handel) überproportional vertreten sind. Auch wenn die meisten Angehörigen dieser Gruppen keineswegs besonders wohlhabend sind, behauptet der Rassismus, dass die ganze Gruppe besonders privilegiert und einflussreich wäre -  was er aus der Zugehörigkeit einiger von ihnen zur herrschenden Klasse ableitet. Oft sind damit auch Verschwörungstheorien verbunden, wonach die Angehörigen dieser Gruppen überall die Fäden ziehen, mit ihren Machenschaften den „einfachen Leuten“ schaden und als Fremde die Nation zersetzen würden.

Beispiele für diese Form des Rassismus sind der europäische Antisemitismus oder ähnliche Vorurteile gegen andere im Handel stark vertretene Minderheiten wie die GriechInnen und ArmenierInnen im Osmanischen Reich, die InderInnen in Ostafrika oder die ChinesInnen in Südostasien. Diese Form des Rassismus ist in der Regel verbunden mit der weltfremden Trennung in gutes Produktions- und böses Handels- und Spekulationskapital und insbesondere im Fall des Antisemitismus mit einer Feindschaft gegen die jüdischen (linken und liberalen) Intellektuellen. Sie kanalisiert soziale Unzufriedenheit in Aggression gegen eine mit Handels- und Finanzkapitalismus assoziierte ethnische Minderheit. Leo Trotzki schrieb 1938, am Vorabend des 2. Weltkrieges, im „Übergangsprogramm der Vierten Internationale“, dass der Kapitalismus die Welt mit „dem verderblichen Dunst des Völker- und Rassenhasses“ vergifte und der Antisemitismus „eine der bösartigsten Zuckungen des kapitalistischen Todeskampfes“ sei. Auch heute kann die kapitalistische Krise, wenn nicht eine klassenkämpferische ArbeiterInnenbewegung der Gesellschaft ihren Stempel aufdrückt, wieder zu einem Aufschwung von antisemitischen Tendenzen führen, die in vielen Ländern weiter vorhanden sind, in Deutschland und Österreich ebenso wie in Polen, Ungarn oder der Türkei. Der Antisemitismus, der in den letzten Jahrzehnten in der moslemischen Welt entstanden ist, nährt sich aus der Vertreibungspolitik des Zionismus (ab den 1920er Jahren), seiner Brückenkopffunktion für den Imperialismus und aus der Gleichsetzung von Judentum und Israel durch sowohl ZionistInnen als auch AntisemitInnen. Die von der israelischen Rechten und von proimperialistischen Kräften betriebene Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus weisen wir entschieden zurück. Dort freilich, wo in der moslemischen Welt der Kampf gegen Israel zum Kampf gegen „die Juden“ wird, werden oft auch Elemente (insbesondere Verschwörungstheorien) des alten europäischen Antisemitismus aufgenommen; auch wenn er eine andere Basis hat als in Europa, so handelt es sich auch beim neuen moslemischen Antisemitismus um eine Art des Rassismus, die von der ArbeiterInnenbewegung bekämpft werden muss.

37. Schließlich gibt es in vielen Ländern immer wieder Stimmungen gegen dominierende imperialistische Nationen, die mit einer pauschalen Ablehnung aller Angehörigen der jeweiligen Nation und damit rassistischen Elementen einhergeht. Sie können sich darauf stützen, dass viele Angehörige dieser Nationen sich stark mit dem „eigenen“ Imperialismus identifizieren und dementsprechend arrogant auftreten beziehungsweise so wahrgenommen werden. Als Beispiele für Stimmungen gegen dominierende imperialistische Nationen können der Antiamerikanismus oder die in Österreich verbreitete Haltung gegen „die Piefke“ (die Deutschen), die auch eine Art Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem „großen Bruder“ kaschiert, genannt werden. Beim Antiamerikanismus muss unterschieden werden, in welchem Kontext er steht: In imperialisierten Ländern, die insbesondere vom US-Kapital ausgebeutet und vom US-Staat unterdrückt werden, beispielsweise in Lateinamerika, ist der Antiamerikanismus oft eine Hülle für Antiimperialismus und Klassenkampf (ähnliches gilt für antiamerikanische Stimmungen etwa unter arabischen ImmigrantInnen in Frankreich). Dennoch ist er auch hier falsch, weil er die Auseinandersetzung auf eine nationale Ebene konzentriert und alle US-AmerikanerInnen, unabhängig von ihrer Klassenlage und ihrer politischen Haltung, in einen Topf wirft. Vollends reaktionär ist Antiamerikanismus, wenn er aus konkurrierenden imperialistischen Nationen wie Deutschland oder Frankreich kommt. Ähnliches gilt auch für die (in der Linken oft verniedlichte) Anti-„Piefke“-Haltung in Österreich, die nationalistische und rassistische Elemente hat.

Wie gegen Rassismus kämpfen?

38. In den meisten Ländern gibt es einen in der Gesellschaft sehr weit verbreiteten rassistischen Konsens. Der Rassismus ist ein Instrument der herrschenden KapitalistInnenklasse, aber rassistische Verhaltensweisen sind in allen Gesellschaftsschichten weit verbreitet. Sie reichen weit in die ArbeiterInnenklasse hinein und auch die rechtsextremen Parteien speisen ihre WählerInnenschaft in vielen Ländern zu einem guten Teil aus der ArbeiterInnenklasse, die Kader- und Funktionärsschichten dieser Parteien stammen jedoch in der großen Mehrheit aus dem KleinbürgerInnentum. Auch wenn Rassismus letztlich gegen ihre Interessen ist, haben sich große Teile der Lohnabhängigen in den imperialistischen Ländern jahrzehntelang an die nationalistische (Standort-) Logik gewöhnt, reproduzieren diese und tragen sie mit. Die imperialistische Spaltung, dass diejenigen, die zufällig in dem jeweiligen Land geboren, irgendwie von Natur aus Vorrechte haben, wurde von vielen als Normalität verinnerlicht; diese Haltung hat tatsächlich gewisse Privilegien der „weißen“ ArbeiterInnenklasse gegenüber „den Ausländern“ als materielle Grundlage. Verschlechterungen, die in den letzten Jahrzehnten vom Kapital gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse durchgesetzt wurden, verbinden sich in der Wahrnehmung von vielen Lohnabhängigen, geschürt von Teilen der Politik und der Medien, mit dem Anstieg der Zuwanderung. Der Rassismus von ArbeiterInnen ist durch und durch reaktionär; dennoch muss der „Ausländerhass“ derjenigen Lohnabhängigen, die der rassistischen Hetze und Spaltung auf den Leim gehen und die letztlich selbst (relativ privilegierte) Opfer davon sind, von dem der Hauptprofiteure und Organisatoren des Rassismus unterschieden werden.

39. Der rassistische Konsens ist auch deshalb so stark, weil die Rolle der etablierten ArbeiterInnenbewegung und der offiziellen „Linken“ fatal ist. Die Standortpolitik der Gewerkschaften ist in der nationalistischen und rassistischen Logik gefangen und reproduziert sie. In etlichen Fällen fordern Gewerkschaften sogar eine noch stärkere nationale Abschottung und einen „Schutz“ der heimischen Arbeitsmärkte vor AusländerInnen (beispielsweise längere „Übergangsregelungen“ bei der EU-Osterweiterung). Die Sozialdemokratie agiert völlig in der Logik des Kapitalismus, exekutiert die Durchsetzung der „Festung Europa“ an führender Stelle und beschließt in Regierungen und Parlamenten diverse Verschärfungen von spezifischen „Ausländergesetzen“. Die Grünen, die zwar nicht zur ArbeiterInnenbewegung gehören, aber von vielen als „links“ wahrgenommen werden, sind scheinbar und in der Asylpolitik tatsächlich progressiver als die etablierten Großparteien. Sie denken aber ebenfalls in der Logik des Systems, es geht ihnen vor allem um die Interessen „unserer Wirtschaft“, sie fordern dementsprechend höhere Quoten für Fachkräfte und stellen insgesamt keine grundsätzliche Alternative dar – schon gar nicht für einen Kampf der Lohnabhängigen.

40. Unter denjenigen, die eine bewusste antirassistische Haltung einnehmen, sind ungünstigerweise politische Konzepte verbreitet, die ungeeignete Antworten auf den Rassismus darstellen. Viele orientieren sich auf ein klassenübergreifendes Bündnis all jener, die offiziell gegen Rassismus sind, und landen so in einem „antirassistischen“ Boot mit dem Establishment, also mit den Verantwortlichen der sozialen Zustände und den „politisch korrekten“ OrganisatorInnen des staatlichen Rassismus. Das Bündnis mit diesen Leuten ist nicht nur zynisch, sondern auch zahnlos, weil diese natürlich nur zu Lippenbekenntnissen bereit sind und ihre Politik fortsetzen. Darüber hinaus führt ein solches Bündnis auch dazu, dass Antirassismus mit dem politischen Establishment identifiziert wird und sich Opfer der Politik des Establishments somit vom Antirassismus distanzieren (was sie nicht der Eigenverantwortung für ihre Haltungen enthebt).

41. Ebenso verfehlt sind Hoffnungen in den Staat, wie sie beispielsweise in Forderungen nach staatlichem Vorgehen gegen Rassismus oder antirassistischen Schulungen für die Polizei (im Glauben, dass diese strukturell etwas ändern könnten) zum Ausdruck kommen; der Staat ist ein Instrument des Kapitals, seine Organe sind dementsprechend strukturell rassistisch, ExekutorInnen des Festung-Europa-Rassismus und unreformierbar. (Aus diesem Grund ist auch der Appell an den Staat für das Verbot von Naziorganisationen verfehlt. Ein solches Verbot würde diese Organisationen bestenfalls ein wenig und kurzfristig beeinträchtigen, doch werden sehr schnell neue Strukturen geschaffen, gleichzeitig verbreitet diese Losung aber fatale Illusionen in den Charakter und die Rolle des bürgerlichen Staates.)

42. Ein moralischer Antirassismus, der an das Gute in den einzelnen Individuen appelliert und für Offenheit gegenüber „den Fremden“ wirbt, verfehlt die gesellschaftlichen Ursachen von Rassismus und damit auch adäquate Kampfstrategien dagegen. Auch eine Idealisierung der „exotischen“ MigrantInnenkulturen, inklusive ihrer reaktionären Elemente, als „authentisch“ und „ursprünglich“, ist nicht nur falsch, sondern in Wahrheit eine karikaturhafte westliche Projektion und letztlich eine kaschierte Form des Rassismus.

43. Für MarxistInnen ist eine wichtige Aufgabe, dem Rassismus allgemein und der rassistischen Spaltung der ArbeiterInnenklasse im Besonderen politisch entgegenzutreten. Das bedeutet, dass wir in unseren Publikationen und unserer tagtäglichen Praxis systematisch gegen Rassismus auftreten, dass wir die Ursachen, die Profiteure und die Funktion von Rassismus klar benennen. Wir fordern grundlegende demokratische Rechte für Minderheiten ein, egal ob es sich um alteingesessene Gruppen oder um relativ neu Zugewanderte handelt. Auch wenn wir der Kleinstaaterei an sich skeptisch gegenüber stehen, treten wir für das Recht auf Selbstbestimmung (bis hin zur Lostrennung) ein, wann immer das eine von nationaler oder rassistischer Unterdrückung betroffene Gruppe möchte – das gilt etwa für slowenische Gebiete in Südkärnten ebenso wie für das Baskenland oder Korsika. Wir sind für zwei- oder mehrsprachige öffentliche Aufschriften überall dort, wo eine relevante Anzahl einer Minderheit lebt. Gleichberechtigter muttersprachlicher Unterricht muss nicht nur für traditionelle Territorialminderheiten, sondern auch für ZuwandererInnen selbstverständlich sein. Zurückzuweisen gilt es auch jegliche Forderungen nach „Integration“ von MigrantInnen. Freilich soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, am öffentlichen und sozialen Leben ihrer (neuen) Wohnorte bestmöglich zu partizipieren. Oft impliziert die Forderung nach „Integration“, auch bei sich links gebenden, alternativen und liberalen KleinbürgerInnen, aber in Wirklichkeit eine Unterordnung und Einfügung der MigrantInnen in die dominante Kultur der Mehrheitsbevölkerung. Hier gilt es, auch wenn wir in allem Kulturen reaktionäre Strukturen kritisieren, das Recht der MigrantInnen auf Ausübung ihrer eigenen Kultur und Verwendung ihrer eigenen Sprache zu verteidigen. Gleiche demokratische Rechte bedeuten natürlich auch, dass alle Menschen, die dauerhaft in einem Land leben, unabhängig von ihrem Geburtsort oder ihrem Reisepass, gleichberechtigtes Wahlrecht haben müssen. Ein neu entstehender europäischer Nationalismus mag zwar alte Nationalismen teilweise verdrängen, ist aber nicht weniger reaktionär; er dient als ideologisches Bollwerk des weißen „christlichen Abendlandes“ und als Absicherung der „Festung Europa“ gegen Armutsflüchtlinge und Migrant/inn/en aus „fremden Kulturkreisen“ und muss dementsprechend von SozialistInnen bekämpft werden. Dem stellen wir die Perspektive der internationalen Solidarität gegenüber.

44. Die KapitalistInnen wollen eine Zuwanderung von billigen und rechtlosen Arbeitskräften, die entsprechend ihren Bedürfnissen reguliert wird. Rechte PolitikerInnen fordern einen „Zuwanderungsstopp“; die Sichtweise, dass „das Boot voll“ sei und ja schließlich „nicht alle zu uns kommen können“, wird von weiten Teile der Gesellschaft mitgetragen. Unsere Antwort darauf ist klar: Diese Schaffung von Feindbildern, mit deren Hilfe die sozialen Spannungen auf einen kollektiven Außenfeind (Flüchtlingen, ImmigrantInnen) abgewälzt werden sollen, müssen offen gelegt werden, reaktionäre Versuche, die Gemeinschaft der Staatsbürger/innen gegen den äußeren Feind zusammenzuschweißen, müssen zurückgewiesen werden. Den Tendenzen, die Grenzen zu schließen und das Asylrecht auszuhöhlen und immer weiter einzuschränken, müssen wir bewusst die Forderung nach einer unbegrenzten Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit gegenüberstellen. Mobilität, die Ein- und Auswanderung der ArbeiterInnen sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso untrennbare Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der ArbeiterInnen an der Arbeitsproduktion herabzusetzen, und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen besonders drastische Dimensionen an.

45. Natürlich wäre es fatal, die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und an einen niedrigeren Lebensstandard gewöhnter ArbeiterInnen aus Ländern mit vorwiegend landwirtschaftlicher Kultur erwachsen, zu vergessen. Aber die Antwort kann nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemaßregeln bestehen, insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluss anderer Nationalitäten, da diese Maßnahmen ihrem Wesen nach reaktionär sind. Die Antwort kann nur in einem internationalen Kampf für eine Angleichung der Lebensbedingungen auf einem globalen Niveau liegen. So muss niemand mehr vor Elend, Hunger, Verfolgung oder Krieg flüchten. Menschen werden weiterhin aus Lust und Neugier ihren Lebensmittelpunkt verändern. Aber dies wird nicht mehr aus Not geschehen, manche Menschen werden aus persönlichen Präferenzen auf die Nordhalbkugel des Planeten ziehen wollen, andere auf die Südhalbkugel. Dies wird dann aber ein Austausch bei gleichen Ausgangsbedingungen sein. Diese Vision geht weit über den Kapitalismus hinaus, doch ist sie die einzige Alternative zu den Zäunen und Mauern rund um EU-Europa und die USA.

46. Wir sind für offene Grenzen und weisen alle Versuche zurück, auch wenn sie vordergründig mit der Erhaltung der sozialen Stabilität und des Lebensstandards argumentiert werden, durch staatliche Beschränkungen die Einwanderung zu limitieren. Dies gilt selbstredend auch für die immer weitere Aushöhlung des Asylrechts. Zynisch wird Arbeitssuchenden aus Afrika eine Aufnahme in die Europäische Union verwehrt, weil sie nicht (politisch) verfolgt seien, sondern „nur“ Hunger, Armut und Verelendung in ihren Heimatländern entfliehen wollen. Die „illegalen“ ImmigrantInnen, die sich für die „Reise“ in die imperialistischen Zentren oft für Jahre verschuldet haben, sind konsequent gegen diejenigen zu verteidigen, die Maßnahmen zu verantworten haben, die Jahr für Jahr Tausenden das Leben kosten und selbst für eine bürgerliche Öffentlichkeit schockierend sein müssten. Die Unterscheidung in verfolgte Asylsuchende (denen oft ein jahrelanges Dahinvegetieren unter menschenunwürdigen Bedingungen in irgendwelchen Flüchtlingsheimen zugemutet wird) und denen, die lediglich auf der Suche nach einem besseren Leben sind und getrost in das Elend ihrer Heimatländer zurückgeschickt werden können, ist zutiefst inhuman und daher abzulehnen.

47. Das Eintreten für demokratische Rechte in den Fragen von Rassismus und Migration sowie einer internationalen Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit ist für MarxistInnen aber nicht ausreichend. Gerade weil Rassismus mit dem kapitalistischen System und mit dem Klassenkampf von oben durch die KapitalistInnen zu tun hat, ist es für uns zentral, den Antirassismus stets mit der sozialen Frage zu verbinden. Die Erfahrung des gemeinsamen Klassenkampfes ist die Grundlage der Solidarität der ArbeiterInnen aller Nationen, Ethnien und nach Rassenvorstellungen konstruierten Gruppen. Hier gilt es auch, die ArbeiterInnenbewegung in die Pflicht zu nehmen, eine gleichberechtigte Einbindung in den Gewerkschaften durchzusetzen und den Kampf gegen spezielle AusländerInnenbeschäftigungsgesetze aufzunehmen. Es ist die Aufgabe von Gewerkschaften und allen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, als VorreiterInnen der Gesellschaft zu fungieren und bewusst Schritte in Richtung einer die Kultur der MigrantInnengruppen umfassenden proletarischen Selbstorganisation zu setzen. Schließlich sind etwa die neuen Zuwanderungsminderheiten auch überproportional stark in der ArbeiterInnenklasse vertreten, jede rassistische Spaltung muss sich also besonders negativ in den Reihen des Proletariats auswirken. Für den gemeinsamen, über ethnische Grenzen hinausgehenden Kampf aller Lohnabhängigen ist eine gemeinsame revolutionäre sozialistische Organisation notwendig, die sich auf internationalistische Solidarität gründet. In einer solchen Organisation müssen Angehörige von Gruppen, die in der Gesellschaft rassistisch unterdrückt sind, das Recht auf gesonderte Treffen haben, um spezifische Probleme zu besprechen.

48. Der moderne Rassismus ist ein Kind der kapitalistischen Gesellschaft und die KapitalistInnenklasse wird auf ihn als erprobtes Herrschaftsinstrument nicht verzichten. Solange der Kapitalismus besteht, wird der Rassismus deshalb höchstens etwas zurückgedrängt, nicht aber völlig überwunden werden können. Erst eine Weiterführung des Klassenkampfes hin zu einer internationalen sozialistischen Revolution, die die bürgerlichen Staaten zerschlägt, die kapitalistische Ausbeutungsordnung beseitigt und eine arbeiterInnendemokratisch geplante Planwirtschaft einführt, wird die Grundlage für ein Absterben von nationalistischen und rassistischen Vorurteilen schaffen. Ethnische Unterschiede werden in einer nachkapitalistischen Gesellschaft nicht verschwinden. Im Gegenteil, verschiedene Kulturen werden sich – gelöst von den Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft und dem kapitalistischen Verwertungsdruck – freier entwickeln können als zuvor. Allerdings ist diese Tendenz nicht die einzige, sie wird mit einer Tendenz zur Verschmelzung der verschiedenen Kulturen gekoppelt sein. Jedenfalls werden der Sozialismus und eine klassenlose Weltgesellschaft, auch wenn sie verschiedene Sprachen und natürlich auch kulturelle Unterschiede kennen werden, nicht mehr durch Nationen charakterisiert und durch nationale, ethnische oder so genannten „rassische“ Differenzen geteilt sein. Äußerliche Erscheinungsformen wie Hautfarbe oder Körperformen werden zwar für eine Beschreibung vielleicht noch eine Rolle spielen, nicht jedoch für eine Kategorisierung. Die Menschen dieser künftigen Epochen werden schließlich nicht nur keine sich in der Gesellschaft bekämpfenden Klassen mehr kennen, sie werden auch mit vollem Recht von sich sagen können, dass sie keiner so genannten „Rasse“ oder Nation mehr angehören, sondern dass der gesamte Erdball ihre Heimat geworden ist und sie sich einer weltumspannenden Gesellschaft verbunden fühlen.

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Artikel von der Website der Revolutionär Sozialistische Organisation (RSO)