Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Kultur an die nationale Kandare gelegt
 

12/09

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Der Abgeordnete und frühere Minister Eric Raoult (konservativer Politiker des Regierungsblocks unter Sarkozy, Todesstrafenfan, Tunesien- und Israel-Lobbyist) ist schon seit längerem als übler Finger bekannt. Nun möchte er eine französische Literaturpreisträgerin senegalesischer Herkunft maßregeln – und fordert dabei gleich noch, sich über die Einführung allgemeiner Zensurregeln für politische Äußerungen von Persönlichkeiten des Literaturlebens zu verständigen. Sein Vorstoß trifft auf vielen Seiten auf scharfe Kritik – aber nicht beim französischen Kulturminister....

Faxgeräte haben etwas Praktisches an sich: Man kann sie so regeln, dass der gewünschte Empfänger die gesendete Nachricht erhält. Aber auch - indem man etwa den Knopf „Alle Presseempfänger“ drückt – auf die Weise, dass die halbe Welt über ihren Inhalt informiert wird. Jedenfalls sofern man zuvor eine Liste von Faxnummern diverser Redaktionen in den Apparat eingespeichert hat. Möchte man eine Message zwar unbedingt in die Öffentlichkeit bringen, aber nicht wirklich dazu stehen, so braucht man sich lediglich darauf berufen, aus Versehen auf den falschen Knopf gedrückt zu haben.

Ungefähr so erging es dem konservativen Abgeordneten Eric Raoult zu Anfang November 2009, als er eine wichtige Anfrage an den Kulturminister Frédéric Mitterrand richtete. Rein zufällig ging die, vermeintlich oder angeblich direkt an den Minister adressierte, schriftliche Frage gleichzeitig auch an sämtliche französische Presseredaktionen – und löste eine öffentliche Polemik aus. Rein zufällig, und seitens des Abgeordneten natürlich gänzlich unerwartet.

Gar zu gerne hätte Raoult von Kulturminister Mitterrand gewusst, ob nicht Preisträgern eines französischen Literaturpreises ein ‚devoir de neutralité’, also eine Pflicht zur Zurückhaltung in öffentlichen Meinungsäuerungen, obliege. Ein Konzept, das normalerweise im Zusammenhang mit der Treuepflicht von Beamt/inn/en gegenüber dem Staat angeführt wird, um freie Meinungsäuerungen von Staatsbediensten in gewissen Funktionen – etwa Polizisten und Militärs - zu unterbinden. Bei dem konservativen Abgeordneten ging es jedoch nicht um die Loyalitätspflicht von Uniformträgern, sondern von Schriftstellerinnen: Diese repräsentierten, einmal mit einem prestigeträchtigen Preis ausgestattet, ja ihr Land in der internationalen Öffentlichkeit. Also dürften sie auch gefälligst nicht dessen Ansehen, das „seiner Regierenden, seiner Institutionen“ ramponieren.

Im Visier hatte er dabei die Autorin Marie N’Diaye, die am 2. November o9 den renommierten Literaturpreis Goncourt zugesprochen bekommen hatte. Den Preis erhielt sie für ihr Buch Trois femmes puissantes (Drei starke Frauen), das die Lebensgeschichte dreier Protagonistinnen zwischen Afrika und Europa erzählt und schon seit Sommer dieses Jahres hohe Verkaufszahlen erzielte.

Marie N’Diaye ist das Kind eines senegalesischen Vaters – der die Familie jedoch verlie, als sie fünf Jahre alt war – und einer französischen Mutter. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Berlin. Die diesjährige Verleihung des Goncourt bestätigt die Tendenz aus dem vergangenen Jahr, Autorinnen und Autoren französischer Sprache, aber mit internationalem Profil oder verschlungenen Lebenswegen zu honorieren. Im Herbst 2008 war der Goncourt an den gebürtigen Afghanen Atiq Rahimi gegangen, der 1984 als junger Asylbewerber nach Frankreich gekommen war und sein Buch Syngué Sabour – es erzählt die Geschichte eines querschnittsgelähmten Mannes im Krieg – auf Französisch verfasst hatte. Der ebenfalls prestigeträchtige Preis Renaudot war damals, im November vergangenen Jahres, am selben Tag an den aus Guinea stammenden französischsprachigen Schriftsteller Tierno Monénembo für sein Buch Le roi de Kahel gegangen.

Doch dem rechten Abgeordneten gefiel die diesjährige Auswahl nicht. Nicht etwa deswegen, weil er an dem Buch etwas auszusetzen gehabt hätte, er hat es mutmalich auch gar nicht gelesen. Aber er hatte ein Interview mit Marie N’Diaye im Kopf, das im Laufe des Hochsommers im Kulturmagazin Les Inrockuptibles (Ausgaabe vom 18. August o9) abgedruckt worden war. Darin hatte N’Diaye ihre Aussage in einem Gespräch von 2007 bekräftigt, sie wolle Frankreich verlassen, weil die Rechte unter Nicolas Sarkozy gewählt worden sei und dabei auch die Stimmen vieler rassistischer Stimmbürger auf sich gezogen habe. Im Hinblick unter anderem auf den Umgang mit Einwanderern in dem Land erklärte Marie N’Diaye, das Frankreich Sarkozys habe eine „Polizeimentalität“ und sei „vulgär“ geworden; sie möge dort derzeit nicht leben. Einem Politiker des Regierungslagers wie dem Minister „für Einwanderung und nationale Identität“, Eric Besson, attestierte sie eine „monströse“ Mentalität.

Dies war in den Augen Eric Raoults zu viel, weshalb er auf die Idee verfiel, eine Treupflicht für Schriftsteller – als internationale Aushängeschilder Frankreichs –gegenüber ihrem Land „und seinen Institutionen“ zu fordern. Dabei stammten die kritischen Äuerungen der Autorin aus der Zeit mehrere Monate vor der Preisverleihung, und der Goncourt wird auch keineswegs vom Staat verliehen, sondern durch eine private Jury, in der vor allem die etablierten Verlage repräsentiert sind.

Seitdem reien die Proteste aus der Kulturwelt nicht mehr ab. Die Pariser Abendzeitung Le Monde druckte eine Seite mit Reaktionen von Schriftstellern ab, die ausschlielich negativ ausfallen, von Zensur oder dem Wunsch nach geistiger Kontrolle der Literatur sprechen. Atiq Rahimi, der Preisträger vom vergangenen Jahr - der sich ebenfalls, und kurz nach der Verleihung des Goncourt, politisch geäuert hatte und sich etwa gegen Abschiebungen in sein Herkunftsland aussprach – war der Auffassung, Victor Hugo oder Albert Camus müssten sich angesichts solcher Vorstellungen im Grabe umdrehen. Das Kulturmagazin Les Inrockuptibles legte am 18. November d.J. nach und druckte eine Serie von Reaktionen aus der Kulturwelt ab. Dabei sind dieses Mal nicht allein Schriftsteller wie – erneut – Rahimi oder Patrick Modiano, Preisträger des Goncourt im Jahr 1978, die Autorin Anne Wiazemsky oder der britische Romancier Hanif Kureishi. Sondern auch etwa die Schauspielerin Juliette Binoche, der Regisseur Antoine de Caunes („für Künstler darf allein der Himmel die Grenze bilden“), der Sänger Alain Souchon oder der Fernsehkomiker und Schauspieler Jamel Debbouze. Sie alle fordern die Freiheit des Denkens und kulturellen Schaffens gegen autoritäre Bevormundung aus der Politik ein. Unterdessen erschien auch eine Petition von Schriftstellern zur Unterstützung Marie N’Diayes. Zu ihren Unterzeichnern zählen etwa der bekannte Romanautor François Bon oder der sozialkritische Schriftsteller François Salvaing.

Monsieur Le Lobbyist

Eric Raoult seinerseits ist kein Unbekannter. Er sa als „Minister für Stadtentwicklung und Integration“, der für die so genannten sensiblen Vorstädte zuständig war, in der bürgerlichen Regierung von Alain Juppé in den Jahren 1995 bis 97. Ferner amtiert er seit 1995 und bis heute als Bürgermeister von Le Raincy, der reichsten Stadt im Bezirk Seine-Saint-Denis – in der nördlichen Pariser Trabantenstadtzone -, dessen zum Teil prächtige Bauten und Villenviertel sich von den umliegenden Sozialghettos und Plattenbaustädten umso drastischer abheben. Anlässlich der Unruhen in den Banlieues im Herbst 2005 zog er die Aufmerksamkeit auf sich, indem er als einziger Bürgermeister in seinem Bezirk von der Möglichkeit Gebrauch machte, auf die Notstandsgesetzgebung zurückzugreifen und Ausgangssperren zu verhängen. Seit dessen Gründung ist Raoult auch Vorsitzender des Bezirksverbands der UMP im Département Seine-Saint-Denis. (Die UMP wurde im Jahr 2002 durch die Fusion mehrerer, zuvor organisatorisch getrennt existierender, bürgerlicher Parteien geschaffen.)

Raoult zählt im Parlament zu den entschiedenen Gegnern einer Homosexuellen-Ehe und den Befürwortern der Todesstrafe. Kürzlich löste er eine Diskussion aus, indem er in der Nationalversammlung in der ersten Novemberwoche die Einführung eines Labels für „frankreichfreundliche Länder“ (pays amis de la France) forderte. Dieses solle traditionellen Bündnispartnern – genannt wurde in der Debatte die zentralafrikanische Erdölrepublik Gabun – verliehen werden und ihre Produkte im Handel begünstigen. Raoult ist ferner Vorsitzender einer Parlamentariergruppe „der Freunde Israels“ und auch der parlamentarischen Freundschaftsgesellschaft für Tunesien; er äuert sich häufig zu Themen, die Nordafrika oder den Nahen Osten betreffen.

Raoult lanciert nicht zum ersten Mal eine Polemik. Erst jüngst stand er im Mittelpunkt einer heftigen Auseinandersetzung, als er (am 31. Oktober dieses Jahres im Fernsehsender ‚Berbère Télévision’) die Entscheidung der tunesischen Diktatur – zu deren Lobbyisten in Frankreich er zählt – rechtfertigte, eine Reporterin der liberalen Pariser Zeitung Le Monde am Flughafen von Tunis festzunehmen und umgehend abzuschieben. Die Nordafrikaspezialistin der Zeitung, Florence Beaugé, war im Kontext der Wahlfarce um die „Wiederwahl“ von Präsident Ben Ali Ende Oktober o9 auf diese Weise unfreiwillig nach Paris zurückgeschickt worden. Raoult hatte öffentlich behauptet, die Journalistin habe den tunesischen Präsidenten mit unflätigen Worten behandelt und seine Ehefrau Leila Trabelzi als Schlampe oder Nutte bezeichnet. Ein Vorwurf, der nicht stimmte und dem Abgeordneten eine schneidende Replik durch die liberale Abendzeitung am 6. November eintrug. Seine Anschuldigungen hatte Raoult offenkundig von Zuträgern der tunesischen Regimepresse übernommen, denn sie finden sich ansonsten in deren Zeitungen wieder - wo man auch nicht zimperlich damit ist, detailreiche Behauptungen über das angebliche Sexualleben der Journalistin oder anderer Regimekritiker auszuwalzen. Raoult offenbarte dadurch nicht nur sein Näheverhältnis zum tunesischen Polizeistaat, sondern vor allem auch ein reichlich gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit.

Ein schüchterner Minister

Frédéric Mitterrand seinerseits zeigte sich ausgesprochen schüchtern gegenüber dem Anliegen, das der Abgeordnete Raoult an ihn herangetragen hatte. Der Kulturminister weigerte sich, in die Debatte einzugreifen. Er erklärte am 12. November o9, die Preisträgerinnen und Preisträger des Goncourt hätten „ein Recht, zu sagen, was sie wollen“; er erinnerte ferner daran, dass der Literaturpreis keine staatliche Einrichtung sei. Dieses Recht auf freie Meinungsäuerung gelte aber auch für den Abgeordneten, der die Polemik auslöste: „Eric Raoult, der ein Freund und ein schätzenswerter Mann ist, hat das Recht, als Bürger, selbst als Mandatsträger zu sagen, was er denkt.“ Er fügte hinzu: „Ich habe nicht Schiedsrichter zu sein zwischen einer Privatperson, die sagt, was sie denkt, und einem Abgeordneten, der sagt, was er auf dem Herzen hat. Das betrifft mich als Bürger – jedoch geht es mich nichts als Minister an.“

Aller Wahrscheinlichkeit nach stand Frédéric Mitterrand vor der Notwendigkeit einer Wahl – und musste sich für eine Seite entscheiden, wollte er nicht den Ast absägen, auf dem er sitzt. Denn in breiten Teilen der Regierungspartei UMP gilt er längst als unsicherer Kantonist. Schon seine Nominierung – im Namen der durch Präsident Sarkozy ausgerufenen „Politik der Öffnung“, die dazu dient, ehemalige Prominente des gegnerischen politischen Lagers einzusammeln und für Ministerposten zu rekrutieren – war in konservativen Kreisen höchst umstritten. Seitdem Mitterrand im Oktober in eine, durch die extreme Rechte vom Zaun gebrochene, „Sittenaffäre“ verwickelt wurde, schien sein Stuhl zeitweise mächtig zu wackeln. So zitierte Libération am 9. Oktober o9 einen UMP-Abgeordneten mit den Worten: „Sowieso/Ohnehin schätzte unsere Wählerschaft weder die Kultur noch die Homosexualität. Aber beides zusammen wird ihr zu viel...“

Die linksalternative Gewerkschaft SUD der Beschäftigten im Kulturministerium hat sich unterdessen in einem Offenen Brief an den Minister gewandt und seine „konsternierende Ohnmacht“, oder scheinbare Ohnmacht, beklagt. Die Gewerkschaft stellt einen Zusammenhang zur aktuellen Debatte um „nationale Identität“ (vgl. dazu erscheinenden Extra-Artikel) und um das Abwerben rechtsextremer Wähler durch Regierungspolitiker her. Und sie fügt hinzu: „Marie N’Diaye hatte Sie ausdrücklich gebeten, sich zu Wort zu melden, um dieser grotesken Polemik ein Ende zu setzen (...). Monsieur le ministre, wir fordern Sie feierlich dazu auf, endlich den Mut zu finden, öffentlich eine mutige und würdige Position einzunehmen..“

Inzwischen hat Eric Raoult seine Anfrage an Frédéric Mitterrand offiziell „zurückgezogen“. Darauf beruft sich der Kulturminister nun, um zu erklären, die Debatte sei gegenstandslos geworden, und eine weitere Wortmeldung zum Thema zu verweigern.

Eric Raoult schwächte seine Äuerungen seinerseits mittlerweile formal ein wenig ab. Statt von einer Neutralitätspflicht sprach er nunmehr von einem „Grundsatz der Mäigung“ (principe de modération) für die Literaturpreisträger, was Meinungsäuerungen zu politischen oder gesellschaftlichen Streitfragen betrifft. Was in der Sache jedoch auf dasselbe hinausläuft.

Nicht nur aus der französischen Kulturwelt kamen zahlreiche Stellungnahmen zu den jüngsten Vorfällen, sondern auch die politische Opposition reagierte. Der frühere 68er und inzwischen geläuterte Linksliberale Daniel Cohn-Bendit erklärte zu der Debatte: „Eric Raoult belegt, dass er auch ein Speichellecker“ – im französischen Original wird statt des deutschen Worts der landesübliche Begriff „Stiefelablecker“ benutzt – „Nicolas Sarkozys ist“. Der grüne Abgeordnete im Europaparlament erblickte darin die Drohung, eine „Republik der Schleimer“ heraufziehen zu sehen. Der sozialdemokratische Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë warf dem konservativen Abgeordneten kaum verhüllt Rassismus vor; falls die Schriftstellerin nicht schwarz wäre, hätte Eric Raoult sich nicht erlaubt, auf dieser Weise und in diesem Ton mit ihr umzuspringen. Zumal Raoult auch eine Parallele zu dem ebenfalls Sarkozy kritisch gegenüber stehenden Sänger und Ex-Tennisspieler Yannick Noah sowie dem früheren Fuballnationalspieler Liliane Thurame – mit den Worten, „sogar“ die beiden seien „nicht so weit gegangen“ wie die Autorin Marie N’Diaye – gezogen habe. Beide sind ebenfalls schwarzer Hautfarbe, Noah hatte nach der Wahl 2007 zeitweilig seine Auswanderung angekündigt.

Eric Raoult seinerseits erklärte am Abend des 17. November o9 in einer Fernseh-Talkshow: „Ich habe das Gefühl, dass die Todesstrafe wieder eingeführt worden ist – für mich.“ Das linksliberale Wochenmagazin Marianne fand unterdessen den Titel/folgende Schlagzeile für ihn: „Klischees aller Länder, vereinigt Euch – und das (Ganze) ergibt Eric Raoult!“

Die jüngste Polemik muss auch im Kontext der aktuellen Regierungskampagne und staatsoffiziell ausgelösten Debatte zum Thema „nationale Identität“ betrachtet werden. Am 12. November 2009 hielt Präsident Sarkozy eine über einstündige Rede zum Thema, und inzwischen wurde eine Parlamentsdebatte über die Nationalidentität für den 08. Dezember anberaumt. In diesen Zeiten, wo französische Patrioten und Chauvinisten sich ihrer selbst vergewissern möchten, wird man sich doch von einer Schriftstellerin nicht in die Suppe spucken lassen... – Zusammen mit rund 20 weiteren Prominenten des Geistes- und Kulturlebens hat Marie N’Diaye sich unterdessen in der Zwischenzeit in einem öffentlichen Aufruf, den die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ als Gastkommentar publizierte, gegen den „nationalen Identitäts“-Quark gewandt. Unter dem Motto „Nein zu einer Debatte, die auf xenophoben (fremdenfeindlichen) Reflexen beruht“.
 

Editorische Anmerkungen

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