Der Abgeordnete und frühere
Minister Eric Raoult (konservativer Politiker des
Regierungsblocks unter Sarkozy, Todesstrafenfan, Tunesien- und
Israel-Lobbyist) ist schon seit längerem als übler Finger
bekannt. Nun möchte er eine französische
Literaturpreisträgerin senegalesischer Herkunft maßregeln –
und fordert dabei gleich noch, sich über die Einführung
allgemeiner Zensurregeln für politische Äußerungen von
Persönlichkeiten des Literaturlebens zu verständigen. Sein
Vorstoß trifft auf vielen Seiten auf scharfe Kritik – aber
nicht beim französischen Kulturminister....
Faxgeräte haben etwas
Praktisches an sich: Man kann sie so regeln, dass der
gewünschte Empfänger die gesendete Nachricht erhält. Aber auch
- indem man etwa den Knopf „Alle Presseempfänger“ drückt – auf
die Weise, dass die halbe Welt über ihren Inhalt informiert
wird. Jedenfalls sofern man zuvor eine Liste von Faxnummern
diverser Redaktionen in den Apparat eingespeichert hat. Möchte
man eine Message zwar unbedingt in die Öffentlichkeit bringen,
aber nicht wirklich dazu stehen, so braucht man sich lediglich
darauf berufen, aus Versehen auf den falschen Knopf gedrückt
zu haben.
Ungefähr so erging es dem konservativen Abgeordneten Eric
Raoult zu Anfang November 2009, als er eine wichtige Anfrage
an den Kulturminister Frédéric Mitterrand richtete. Rein
zufällig ging die, vermeintlich oder angeblich direkt an den
Minister adressierte, schriftliche Frage gleichzeitig auch an
sämtliche französische Presseredaktionen – und löste eine
öffentliche Polemik aus. Rein zufällig, und seitens des
Abgeordneten natürlich gänzlich unerwartet.
Gar zu gerne hätte Raoult von Kulturminister Mitterrand
gewusst, ob nicht Preisträgern eines französischen
Literaturpreises ein ‚devoir de neutralité’, also eine Pflicht
zur Zurückhaltung in öffentlichen Meinungsäuerungen, obliege.
Ein Konzept, das normalerweise im Zusammenhang mit der
Treuepflicht von Beamt/inn/en gegenüber dem Staat angeführt
wird, um freie Meinungsäuerungen von Staatsbediensten in
gewissen Funktionen – etwa Polizisten und Militärs - zu
unterbinden. Bei dem konservativen Abgeordneten ging es jedoch
nicht um die Loyalitätspflicht von Uniformträgern, sondern von
Schriftstellerinnen: Diese repräsentierten, einmal mit einem
prestigeträchtigen Preis ausgestattet, ja ihr Land in der
internationalen Öffentlichkeit. Also dürften sie auch
gefälligst nicht dessen Ansehen, das „seiner Regierenden,
seiner Institutionen“ ramponieren.
Im Visier hatte er dabei die Autorin Marie N’Diaye, die am 2.
November o9 den renommierten Literaturpreis Goncourt
zugesprochen bekommen hatte. Den Preis erhielt sie für ihr
Buch Trois femmes puissantes (Drei starke Frauen), das die
Lebensgeschichte dreier Protagonistinnen zwischen Afrika und
Europa erzählt und schon seit Sommer dieses Jahres hohe
Verkaufszahlen erzielte.
Marie N’Diaye ist das Kind eines senegalesischen Vaters – der
die Familie jedoch verlie, als sie fünf Jahre alt war – und
einer französischen Mutter. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann
und ihren Kindern in Berlin. Die diesjährige Verleihung des
Goncourt bestätigt die Tendenz aus dem vergangenen Jahr,
Autorinnen und Autoren französischer Sprache, aber mit
internationalem Profil oder verschlungenen Lebenswegen zu
honorieren. Im Herbst 2008 war der Goncourt an den gebürtigen
Afghanen Atiq Rahimi gegangen, der 1984 als junger
Asylbewerber nach Frankreich gekommen war und sein Buch Syngué
Sabour – es erzählt die Geschichte eines querschnittsgelähmten
Mannes im Krieg – auf Französisch verfasst hatte. Der
ebenfalls prestigeträchtige Preis Renaudot war damals, im
November vergangenen Jahres, am selben Tag an den aus Guinea
stammenden französischsprachigen Schriftsteller Tierno
Monénembo für sein Buch Le roi de Kahel gegangen.
Doch dem rechten Abgeordneten gefiel die diesjährige Auswahl
nicht. Nicht etwa deswegen, weil er an dem Buch etwas
auszusetzen gehabt hätte, er hat es mutmalich auch gar nicht
gelesen. Aber er hatte ein Interview mit Marie N’Diaye im
Kopf, das im Laufe des Hochsommers im Kulturmagazin Les
Inrockuptibles (Ausgaabe vom 18. August o9) abgedruckt worden
war. Darin hatte N’Diaye ihre Aussage in einem Gespräch von
2007 bekräftigt, sie wolle Frankreich verlassen, weil die
Rechte unter Nicolas Sarkozy gewählt worden sei und dabei auch
die Stimmen vieler rassistischer Stimmbürger auf sich gezogen
habe. Im Hinblick unter anderem auf den Umgang mit
Einwanderern in dem Land erklärte Marie N’Diaye, das
Frankreich Sarkozys habe eine „Polizeimentalität“ und sei
„vulgär“ geworden; sie möge dort derzeit nicht leben. Einem
Politiker des Regierungslagers wie dem Minister „für
Einwanderung und nationale Identität“, Eric Besson,
attestierte sie eine „monströse“ Mentalität.
Dies war in den Augen Eric Raoults zu viel, weshalb er auf die
Idee verfiel, eine Treupflicht für Schriftsteller – als
internationale Aushängeschilder Frankreichs –gegenüber ihrem
Land „und seinen Institutionen“ zu fordern. Dabei stammten die
kritischen Äuerungen der Autorin aus der Zeit mehrere Monate
vor der Preisverleihung, und der Goncourt wird auch keineswegs
vom Staat verliehen, sondern durch eine private Jury, in der
vor allem die etablierten Verlage repräsentiert sind.
Seitdem reien die Proteste aus der Kulturwelt nicht mehr ab.
Die Pariser Abendzeitung Le Monde druckte eine Seite mit
Reaktionen von Schriftstellern ab, die ausschlielich negativ
ausfallen, von Zensur oder dem Wunsch nach geistiger Kontrolle
der Literatur sprechen. Atiq Rahimi, der Preisträger vom
vergangenen Jahr - der sich ebenfalls, und kurz nach der
Verleihung des Goncourt, politisch geäuert hatte und sich
etwa gegen Abschiebungen in sein Herkunftsland aussprach – war
der Auffassung, Victor Hugo oder Albert Camus müssten sich
angesichts solcher Vorstellungen im Grabe umdrehen. Das
Kulturmagazin Les Inrockuptibles legte am 18. November d.J.
nach und druckte eine Serie von Reaktionen aus der Kulturwelt
ab. Dabei sind dieses Mal nicht allein Schriftsteller wie –
erneut – Rahimi oder Patrick Modiano, Preisträger des Goncourt
im Jahr 1978, die Autorin Anne Wiazemsky oder der britische
Romancier Hanif Kureishi. Sondern auch etwa die Schauspielerin
Juliette Binoche, der Regisseur Antoine de Caunes („für
Künstler darf allein der Himmel die Grenze bilden“), der
Sänger Alain Souchon oder der Fernsehkomiker und Schauspieler
Jamel Debbouze. Sie alle fordern die Freiheit des Denkens und
kulturellen Schaffens gegen autoritäre Bevormundung aus der
Politik ein. Unterdessen erschien auch eine Petition von
Schriftstellern zur Unterstützung Marie N’Diayes. Zu ihren
Unterzeichnern zählen etwa der bekannte Romanautor François
Bon oder der sozialkritische Schriftsteller François Salvaing.
Monsieur Le Lobbyist
Eric Raoult seinerseits ist kein Unbekannter. Er sa als
„Minister für Stadtentwicklung und Integration“, der für die
so genannten sensiblen Vorstädte zuständig war, in der
bürgerlichen Regierung von Alain Juppé in den Jahren 1995 bis
97. Ferner amtiert er seit 1995 und bis heute als
Bürgermeister von Le Raincy, der reichsten Stadt im Bezirk
Seine-Saint-Denis – in der nördlichen Pariser
Trabantenstadtzone -, dessen zum Teil prächtige Bauten und
Villenviertel sich von den umliegenden Sozialghettos und
Plattenbaustädten umso drastischer abheben. Anlässlich der
Unruhen in den Banlieues im Herbst 2005 zog er die
Aufmerksamkeit auf sich, indem er als einziger Bürgermeister
in seinem Bezirk von der Möglichkeit Gebrauch machte, auf die
Notstandsgesetzgebung zurückzugreifen und Ausgangssperren zu
verhängen. Seit dessen Gründung ist Raoult auch Vorsitzender
des Bezirksverbands der UMP im Département Seine-Saint-Denis.
(Die UMP wurde im Jahr 2002 durch die Fusion mehrerer, zuvor
organisatorisch getrennt existierender, bürgerlicher Parteien
geschaffen.)
Raoult zählt im Parlament zu den entschiedenen Gegnern einer
Homosexuellen-Ehe und den Befürwortern der Todesstrafe.
Kürzlich löste er eine Diskussion aus, indem er in der
Nationalversammlung in der ersten Novemberwoche die Einführung
eines Labels für „frankreichfreundliche Länder“ (pays amis de
la France) forderte. Dieses solle traditionellen
Bündnispartnern – genannt wurde in der Debatte die
zentralafrikanische Erdölrepublik Gabun – verliehen werden und
ihre Produkte im Handel begünstigen. Raoult ist ferner
Vorsitzender einer Parlamentariergruppe „der Freunde Israels“
und auch der parlamentarischen Freundschaftsgesellschaft für
Tunesien; er äuert sich häufig zu Themen, die Nordafrika oder
den Nahen Osten betreffen.
Raoult lanciert nicht zum ersten Mal eine Polemik. Erst jüngst
stand er im Mittelpunkt einer heftigen Auseinandersetzung, als
er (am 31. Oktober dieses Jahres im Fernsehsender ‚Berbère
Télévision’) die Entscheidung der tunesischen Diktatur – zu
deren Lobbyisten in Frankreich er zählt – rechtfertigte, eine
Reporterin der liberalen Pariser Zeitung Le Monde am Flughafen
von Tunis festzunehmen und umgehend abzuschieben. Die
Nordafrikaspezialistin der Zeitung, Florence Beaugé, war im
Kontext der Wahlfarce um die „Wiederwahl“ von Präsident Ben
Ali Ende Oktober o9 auf diese Weise unfreiwillig nach Paris
zurückgeschickt worden. Raoult hatte öffentlich behauptet, die
Journalistin habe den tunesischen Präsidenten mit unflätigen
Worten behandelt und seine Ehefrau Leila Trabelzi als Schlampe
oder Nutte bezeichnet. Ein Vorwurf, der nicht stimmte und dem
Abgeordneten eine schneidende Replik durch die liberale
Abendzeitung am 6. November eintrug. Seine Anschuldigungen
hatte Raoult offenkundig von Zuträgern der tunesischen
Regimepresse übernommen, denn sie finden sich ansonsten in
deren Zeitungen wieder - wo man auch nicht zimperlich damit
ist, detailreiche Behauptungen über das angebliche Sexualleben
der Journalistin oder anderer Regimekritiker auszuwalzen.
Raoult offenbarte dadurch nicht nur sein Näheverhältnis zum
tunesischen Polizeistaat, sondern vor allem auch ein reichlich
gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit.
Ein schüchterner Minister
Frédéric Mitterrand seinerseits zeigte sich ausgesprochen
schüchtern gegenüber dem Anliegen, das der Abgeordnete Raoult
an ihn herangetragen hatte. Der Kulturminister weigerte sich,
in die Debatte einzugreifen. Er erklärte am 12. November o9,
die Preisträgerinnen und Preisträger des Goncourt hätten „ein
Recht, zu sagen, was sie wollen“; er erinnerte ferner daran,
dass der Literaturpreis keine staatliche Einrichtung sei.
Dieses Recht auf freie Meinungsäuerung gelte aber auch für
den Abgeordneten, der die Polemik auslöste: „Eric Raoult, der
ein Freund und ein schätzenswerter Mann ist, hat das Recht,
als Bürger, selbst als Mandatsträger zu sagen, was er denkt.“
Er fügte hinzu: „Ich habe nicht Schiedsrichter zu sein
zwischen einer Privatperson, die sagt, was sie denkt, und
einem Abgeordneten, der sagt, was er auf dem Herzen hat. Das
betrifft mich als Bürger – jedoch geht es mich nichts als
Minister an.“
Aller Wahrscheinlichkeit nach stand Frédéric Mitterrand vor
der Notwendigkeit einer Wahl – und musste sich für eine Seite
entscheiden, wollte er nicht den Ast absägen, auf dem er
sitzt. Denn in breiten Teilen der Regierungspartei UMP gilt er
längst als unsicherer Kantonist. Schon seine Nominierung – im
Namen der durch Präsident Sarkozy ausgerufenen „Politik der
Öffnung“, die dazu dient, ehemalige Prominente des
gegnerischen politischen Lagers einzusammeln und für
Ministerposten zu rekrutieren – war in konservativen Kreisen
höchst umstritten. Seitdem Mitterrand im Oktober in eine,
durch die extreme Rechte vom Zaun gebrochene, „Sittenaffäre“
verwickelt wurde, schien sein Stuhl zeitweise mächtig zu
wackeln. So zitierte Libération am 9. Oktober o9 einen
UMP-Abgeordneten mit den Worten: „Sowieso/Ohnehin schätzte
unsere Wählerschaft weder die Kultur noch die Homosexualität.
Aber beides zusammen wird ihr zu viel...“
Die linksalternative Gewerkschaft SUD der Beschäftigten im
Kulturministerium hat sich unterdessen in einem Offenen Brief
an den Minister gewandt und seine „konsternierende Ohnmacht“,
oder scheinbare Ohnmacht, beklagt. Die Gewerkschaft stellt
einen Zusammenhang zur aktuellen Debatte um „nationale
Identität“ (vgl. dazu erscheinenden Extra-Artikel) und um das
Abwerben rechtsextremer Wähler durch Regierungspolitiker her.
Und sie fügt hinzu: „Marie N’Diaye hatte Sie ausdrücklich
gebeten, sich zu Wort zu melden, um dieser grotesken Polemik
ein Ende zu setzen (...). Monsieur le ministre, wir fordern
Sie feierlich dazu auf, endlich den Mut zu finden, öffentlich
eine mutige und würdige Position einzunehmen..“
Inzwischen hat Eric Raoult seine Anfrage an Frédéric
Mitterrand offiziell „zurückgezogen“. Darauf beruft sich der
Kulturminister nun, um zu erklären, die Debatte sei
gegenstandslos geworden, und eine weitere Wortmeldung zum
Thema zu verweigern.
Eric Raoult schwächte seine Äuerungen seinerseits
mittlerweile formal ein wenig ab. Statt von einer
Neutralitätspflicht sprach er nunmehr von einem „Grundsatz der
Mäigung“ (principe de modération) für die
Literaturpreisträger, was Meinungsäuerungen zu politischen
oder gesellschaftlichen Streitfragen betrifft. Was in der
Sache jedoch auf dasselbe hinausläuft.
Nicht nur aus der französischen Kulturwelt kamen zahlreiche
Stellungnahmen zu den jüngsten Vorfällen, sondern auch die
politische Opposition reagierte. Der frühere 68er und
inzwischen geläuterte Linksliberale Daniel Cohn-Bendit
erklärte zu der Debatte: „Eric Raoult belegt, dass er auch ein
Speichellecker“ – im französischen Original wird statt des
deutschen Worts der landesübliche Begriff „Stiefelablecker“
benutzt – „Nicolas Sarkozys ist“. Der grüne Abgeordnete im
Europaparlament erblickte darin die Drohung, eine „Republik
der Schleimer“ heraufziehen zu sehen. Der sozialdemokratische
Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë warf dem konservativen
Abgeordneten kaum verhüllt Rassismus vor; falls die
Schriftstellerin nicht schwarz wäre, hätte Eric Raoult sich
nicht erlaubt, auf dieser Weise und in diesem Ton mit ihr
umzuspringen. Zumal Raoult auch eine Parallele zu dem
ebenfalls Sarkozy kritisch gegenüber stehenden Sänger und
Ex-Tennisspieler Yannick Noah sowie dem früheren
Fuballnationalspieler Liliane Thurame – mit den Worten,
„sogar“ die beiden seien „nicht so weit gegangen“ wie die
Autorin Marie N’Diaye – gezogen habe. Beide sind ebenfalls
schwarzer Hautfarbe, Noah hatte nach der Wahl 2007 zeitweilig
seine Auswanderung angekündigt.
Eric Raoult seinerseits erklärte am Abend des 17. November o9
in einer Fernseh-Talkshow: „Ich habe das Gefühl, dass die
Todesstrafe wieder eingeführt worden ist – für mich.“ Das
linksliberale Wochenmagazin Marianne fand unterdessen den
Titel/folgende Schlagzeile für ihn: „Klischees aller Länder,
vereinigt Euch – und das (Ganze) ergibt Eric Raoult!“
Die jüngste Polemik muss auch im Kontext der aktuellen
Regierungskampagne und staatsoffiziell ausgelösten Debatte zum
Thema „nationale Identität“ betrachtet werden. Am 12. November
2009 hielt Präsident Sarkozy eine über einstündige Rede zum
Thema, und inzwischen wurde eine Parlamentsdebatte über die
Nationalidentität für den 08. Dezember anberaumt. In diesen
Zeiten, wo französische Patrioten und Chauvinisten sich ihrer
selbst vergewissern möchten, wird man sich doch von einer
Schriftstellerin nicht in die Suppe spucken lassen... –
Zusammen mit rund 20 weiteren Prominenten des Geistes- und
Kulturlebens hat Marie N’Diaye sich unterdessen in der
Zwischenzeit in einem öffentlichen Aufruf, den die liberale
Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ als Gastkommentar publizierte,
gegen den „nationalen Identitäts“-Quark gewandt. Unter dem
Motto „Nein zu einer Debatte, die auf xenophoben
(fremdenfeindlichen) Reflexen beruht“.
Editorische
Anmerkungen
Wir
erhielten den Artikel vom Autor.