Vor 25 Jahren, am 15. August
1984, begann der bewaffnete Kampf in den kurdischen Gebieten der
Türkei. Die linke Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hatte zum
Kampf gegen die Militärdiktatur, die sich am 12. September 1980
an die Macht geputscht hatte, und gegen die jahrzehntealte
Unterdrückung der KurdInnen in der Türkei aufgerufen. Ihre
Kurdischen Befreiungskräfte (HRK) attackierten an diesem Tag die
staatlichen Institutionen in den Dörfern Eruh und Semdinli und
gaben damit das Signal für einen breitangelegten Guerillakampf
in den kurdischen Gebieten der Türkei.
Der türkische Staat reagierte mit verschärfter Repression. Im
Laufe der 90er Jahre wurden rund 4.000 kurdische Dörfer vom
türkischen Militär zerstört, um die soziale Basis der Guerilla
zu zersetzen. Bis zu 40.000 Menschen fielen dem Krieg zum Opfer.
Bei diesem Krieg bekam der türkische Staat entscheidende
Unterstützung vom Imperialismus: z.B. die BRD lieferte Waffen
aller Art an das türkische Militär und trieb die Verfolgung der
kurdischen Organisationen im Ausland voran, u.a. durch das
Verbot der PKK in Deutschland.
Bis heute wird die kurdische Sprache unterdrückt und darf zum
Beispiel nicht an Bildungsinstitutionen oder auf politischen
Veranstaltungen in der Türkei verwendet werden. Jeder Versuch
der legalen politischen Arbeit der KurdInnen wird mit Repression
beantwortet. So läuft weiterhin ein Verbotsverfahren gegen die
auch im türkischen Parlament vertretene linke Partei für eine
Demokratische Gesellschaft (DTP), die im März bei den
Kommunalwahlen zur stärksten Kraft in den kurdischen
Landesteilen wurde.
Dieser 25-jährige Kampf hat die Lebensbedingungen der KurdInnen
im türkischen Staat grundlegend geändert: Das Zurückdrängen des
Staates durch die PKK-Guerilla in den 90er Jahren ermöglichte
ein Aufblühen einer Massenbewegung in den kurdischen Gebieten:
politische Parteien, Gewerkschaften, eine Frauenbewegung, eine
Jugendbewegung usw.. Während der türkische Staat früher
überhaupt die Existenz des kurdischen Volkes leugnete (sie
wurden “Bergtürken” genannt und ihre Sprache zu einem primitiven
Dialekt des Türkischen erklärt), ist es heute nicht
überraschend, wenn türkische PolitikerInnen bei
Wahlkampfauftritten ein paar Worte in kurdischer Sprache sagen.
Die Pläne der Regierung
Mit der Ankündigung „gute Dinge werden geschehen“ und der
erstmaligen Benennung der „kurdischen Frage“ als „größtes
Problem der Türkei“ löste der türkische Ministerpräsident
Abdullah Gül im Frühjahr 2009 eine neue Dynamik aus. Die
Hintergründe sind vor allem geopolitischer Natur. Mit dem
angekündigten Rückzug der US-BesatzerInnen aus dem Irak wächst
die Verantwortung der Türkei als prowestlicher Ordnungsmacht im
Mittleren Osten. Dazu kommt die gestiegene energiepolitische
Bedeutung der Türkei als Transitweg für Öl- und Gaspipelines wie
die geplante Nabucco-Gaspipeline. Voraussetzung für die
Sicherheit der Energieleitungen und die Rolle als regionaler
Großmacht ist eine Eindämmung des kurdischen Aufstandes.
Dabei setzen Regierung und Armee einerseits auf die Zerschlagung
der kurdischen Selbstorganisation. Die Militäroperationen gegen
die PKK gingen trotz eines seit dem Frühjahr ausgerufenen
einseitigen Waffenstillstandes der Guerilla weiter, während
gleichzeitig über 1.000 Mitglieder und FunktionärInnen der DTP,
der DTP-regierten Stadtverwaltungen, der kurdischen
Frauenbewegung und der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes
KESK verhaftet wurden. Gleichzeitig versucht die Regierung, mit
der Ankündigung einer „kurdischen Initiative“ Einfluss unter der
kurdischen Bevölkerung zu bekommen und der DTP das Wasser
abzugraben.
Der Spielraum der Regierung ist eng. Denn der mächtige
Generalstab beharrt auf „roten Linien“. Weder eine Änderung der
nach dem Militärputsch von 1980 vorgelegten Verfassung, die eine
Einheit von Staat und türkischer Nation behauptet, noch eine
Autonomieregelung oder Unterricht in kurdischer Sprache seien
zulässig. Gespräche mit der PKK und ihrem in Isolationshaft
sitzenden Vorsitzenden Abdullah Öcalan lehnen die Militärs
ebenso wie die Regierung völlig ab. Die „Lösung“ soll also ohne
kurdischen Partner allein vom Staat realisiert werden. Die
mittlerweile nur noch als „Projekt der nationalen Einheit“
bezeichnete „kurdische Initiative“ sieht lediglich kleinere
Zugeständnisse wie kurdischsprachige Ortsschilder und
Kurdologie-Institute an Universitäten vor. Dagegen werden
weiterhin jegliche kollektiven Rechte – insbesondere das
Selbstbestimmungsrecht – verweigert. Ebenso bleiben die
grundlegenderen Probleme – Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde
Infrastruktur – in den kurdischen Landesteilen bestehen. Die
Befreiung Kurdistans bzw. der KurdInnen scheint damit noch in
weiter Ferne zu liegen.
Die Strategie der PKK
Die PKK propagierte von Anfang an einen gemeinsamen Kampf des
kurdischen Volkes und des werktätigen türkischen Volkes gegen
die Militärjunta. Doch ihre Strategie war auf ein Bündnis
zwischen dem kurdischen Volk und den Werktätigen der Welt
beschränkt. Obwohl sie sich “Arbeiterpartei” nannte, zielte sie
nicht auf die eigenständige Organisierung und die internationale
Vereinigung der Werktätigen. Deswegen strebte sie keine grenz-
und sprachübergreifende Organisierung aller Unterdrückten im
türkischen Staat und im Nahen Osten, sondern eben nur ein
Bündnis an.
Die PKK machte immer klar, dass nur der Sozialismus die
kurdische Frage lösen könnte. Doch ihre Sozialismusvorstellung
war immer vage, geprägt durch den Stalinismus der UdSSR und den
“arabischen Sozialismus” in Ländern wie Syrien. Am Anfang ihres
Kampfes setzte sich die PKK gegen den Großgrundbesitz ein, aber
ihr Programm ging nie darüber hinaus hin zur Abschaffung des
Privatbesitzes an Produktionsmitteln und der Etablierung einer
Planwirtschaft.
In den letzten Jahren hat die kurdische Befreiungsbewegung ihre
Ziele immer gemäßigter gemacht. Neben anarchistischen
Versatzstücken über Basisdemokratie sowie einer starken Betonung
der Frauenbefreiung gibt es vor allem politische Vorschläge, die
sich auf eine Verfassungsänderung zur Anerkennung der kurdischen
Identität, kurdischen Schulunterricht und mehr regionale
Selbstverwaltung im Rahmen des bestehenden Staates beschränken.
Das Ziel eines eigenständigen Staatswesens – ob sozialistisch
oder nicht – ist aufgegeben worden, eine weitreichende
Landreform ist zumindest momentan kein Thema für PKK und DTP.
Die Erfahrungen der KurdInnen im Nordirak zeigen, dass eine
kurdische Autonomie (bzw. eine De-Facto-Unabhängigkeit) im
Rahmen des kapitalistischen Systems und mit Unterstützung der
imperialistischen Mächte nur manchen KurdInnen hilft. In den
kurdischen Gebieten im Irak haben die Clanstrukturen um die
Politiker Barsani und Talibani (die trotz der
durchkapitalisierten Natur der Wirtschaft weiterbestehen) sich
unheimlich bereichern können. Aber die Masse der KurdInnen dort
bleibt in Arbeitslosigkeit, Armut oder in Abhängigkeit als
SpendenempfängerInnen der korrupten Regierungsparteien, die
wiederum am Tropf der Bagdader Zentralregierung und des
US-Imperialismus hängen.
Für eine wirkliche Befreiung der KurdInnen bedarf es einer
grundlegenden Änderung der wirtschaftlichen Ordnung: eine
Landreform und vor allem der industrielle Aufbau des Landes nach
einem demokratisch von der werktätigen Bevölkerung und ihren
Organisationen erstellten Plan. Die imperialistischen Mächte und
die lokalen Bourgeoisien, die die KurdInnen seit 100 Jahren als
Spielball benutzen, haben kein Interesse an einem solchen
Projekt. Das kann nur international, durch die Werktätigen aller
Länder, durchgeführt werden.
Für die Einheit der Unterdrückten
Nicht Regierung und Armee, sondern die türkischen ArbeiterInnen
und Werktätigen sind die reale Adresse für eine
gleichberechtigte und demokratische Lösung der kurdischen Frage.
Sicherlich herrscht hier noch eine starke chauvinistische
Verblendung bis hin zu offenem Rassismus. Doch auch die
türkischen Werktätigen leiden unter den Kosten des Krieges. Es
sind ihre Söhne, die als einfache Soldaten im Kampf gegen die
PKK verheizt werden. Und es sind die offiziell gegen die PKK
geschaffenen Antiterrorgesetze, die auch gegen türkische
SozialistInnen und GewerkschafterInnen zu Anwendung kommen.
Notwendig für die Befreiung der KurdInnen ist eine Strategie,
die die ArbeiterInnen vor allem in der Westtürkei auf einer
revolutionären Grundlage – die das Selbstbestimmungsrecht der
KurdInnen und aller unterdrückten Völker anerkennt – vereinigt.
Neben einer demokratischen und antimilitaristischen Agenda
erfordert das auch eine soziale Programmatik. Gerade weil die
Millionen ArbeiterInnen in den Slums der Westtürkei sowohl
türkischer wie kurdischer Herkunft sind, ist eine gemeinsame
Organisierung notwendig. Denn nur diese ArbeiterInnenklasse hat
die Macht, die auch eine gut organisierte Guerilla nicht
aufbringen kann: nämlich die Wirtschaft zum Stillstand bringen,
den riesigen Militärapparat der Türkei und die KapitalistInnen
in die Knie zu zwingen und den Imperialismus aus dem Land zu
jagen.
Die kurdische Bewegung steht 25 Jahre nach dem Beginn des
bewaffneten Kampfes an einem Scheideweg. In den letzten Jahren
haben führende kurdische PoltikerInnen und Teile der Basis
öffentlich mit dem Gedanken gespielt, ihre Rechte im Bündnis mit
reaktionären Mächten wie dem US- oder dem EU-Imperialismus
durchzusetzen. Doch jetzt steht die kurdische Bewegung in der
Türkei ganz ohne BündnispartnerInnen da: selbst die kurdische
Bourgeoisie im Nordirak hat den KurdInnen in der Türkei den
Rücken gekehrt, um ihre guten Beziehungen zu Ankara zu
verteidigen. Damit bleibt als einzigeR potentielleR
BündnispartnerIn eben die internationale ArbeiterInnenklasse.
Der kurdischen Bewegung, als einzige linksausgerichtete
Massenbewegung in der Region, wenn sie sich nicht mit weiteren
25 Jahren von Unterdrückung und minimalen Zugeständnissen
abfinden will, bleibt nur die Option, eine internationale
Bewegung der Ausgebeuteten ins Leben zu rufen.
* Weg mit dem PKK-Verbot und weiteren Repressionsmaßnahmen gegen
die KurdInnen in Deutschland! Für Solidarität der Linken und
ArbeiterInnenbewegung, trotz der notwendigen Kritik!
* Für eine sozialistische und internationale Ausrichtung der
kurdischen Bewegung! Für ein freies und sozialistisches
Kurdistan im Rahmen einer sozialistischen Konföderation des
Nahen- und Mittleren Ostens!
von Wladek Flakin (unabhängige Jugendorganisation REVOLUTION)
und Nick Brauns (Marxistische Initiative), 1. Dezember 2009
beide AutorInnen sind SozialistInnen in Berlin, die im
Kurdistan-Solidaritätskomitee aktiv sind
Editorische
Anmerkungen
Wir
erhielten den Artikel von den
AutorInnen. Beide
AutorInnen sind SozialistInnen in Berlin, die im
Kurdistan-Solidaritätskomitee aktiv sind. Erstveröffentlicht
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