Am 12. und 13.12.2009
diskutierten wir in einem Wochenendseminar über die Absteiger
aus der Mittelschicht. Die Mehrzahl der Diskutierenden waren
„TransferempfängerInnen“. Welch ein Aufschrei würde durch die
Mitte gehen, denn normalerweise ist es im Mainstream umgekehrt,
die Mittelschicht diskutiert im Feuilleton über die Unterschicht
und grenzt sich vor allem von dieser ab. Wir versuchten uns
allerdings, in die Mittelschicht und ihre Abstiegssorgen
hinzuversetzen, dabei kamen aber auch „positive“ Ressentiments
zur Sprache. Ich habe zum Beispiel zunehmende Ressentiments
gegen die neuen Mittelschichten, die postmodernen Milieus, die
die Innenstädte gentrifizieren und Hartz IV-BezieherInnen aus
ihrer Lebenswelt (das ist nicht nur die Wohnung) verdrängen,
einen Zwangsumzug habe ich bereits hinter mir. Wenn sie alles
Interessante wie im Prenzlauer Berg verdrängt haben, bleibt der
gähnend langweilige Lebensstil der Bobos (Boheme Bourgeoisie)
mit haufenweise überteuerten Restaurants und anderem Klimbim.
Dann sind sie wieder unter sich, wie vorher zum Beispiel im
Schwabenland.
Was ist eigentlich die
Mittelschicht? Die Mittelschicht sind jene
Bevölkerungsgruppen, die zwischen 70 und 150 % des
Medianeinkommens zur Verfügung haben. Der Median ist das
Einkommen, das die obere von der unteren Hälfte der
EinkommensbezieherInnen trennt. Er lag 2006 bei ca. 16 000 Euro,
die Jahresnettohaushaltseinkommen der Mittelschicht liegen
zwischen 11 000 und 24 000 Euro. Noch nie gab es einen so hohen
Lebensstandard wie bei heutigen MittelschichtsrentnerInnen. Die
Mittelschicht wird also nach dem Einkommen definiert. Aber auch
nach der Form der Lebensführung, denn meistens wird behauptet,
sie würde sich von der Unterschicht durch immaterielle Faktoren
unterscheiden; Bildung spielt dabei eine große Rolle. Während
„die“ Unterschicht ungebildet sei, würde die Mittelschicht ihren
Wertehorizont erweitern. Je mehr sich Teile der Mittelschicht
bedroht fühlen, je mehr kehren sie kulturelle Unterschiede zur
Unterschicht heraus. Die Abgrenzung ist die Waffe im Kampf um
die gesellschaftliche Positionierung. Nach Bourdieu gehört zu
jeder sozialen Lage ein passender Habitus, in den gehobenen
Lagen geht es um Stil, wichtig ist der „Stallgeruch“. 71% der
Mittelschicht bezeichnen sich als pflichtbewusst, 47% als
leistungsstark. Sie wollen etwas leisten, ihre Pflichten
erfüllen, aber im Gegenzug wollen sie Teilhabe.
Ein Sonderfall ist der Osten. Den ostdeutschen Angestellten
fehlt bisher jedes Mittelschichtsbewusstsein. 57% der
Ostdeutschen ordnen sich den ArbeiterInnen zu. Die
Prekarisierung der Angestellten ist eine Proletarisierung. Von
einer erwerbstätigen sozialen Mitte kann im Osten kaum
gesprochen werden. 2004 verdienten nur 24,2% der ostdeutschen
Erwerbstätigen 1500 Euro oder mehr im Monat. Bei Selbständigen
sind es meistens Notgründungen. Die Nettovermögen gingen von
2002 bis 2007 um ca. 11% zurück (auf durchschnittlich 31 000
Euro pro Person). In der DDR gab es keine breite Mittelschicht,
und das ist in den neuen Bundesländern bis heute so. Paul Nolte
sprach aus, was sich die Herrschenden sonst nicht trauen, man
solle nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Zwischen dem Osten und
Westen gibt es Klassenunterschiede, die DDR sei eben ein
Arbeiter- und Bauernstaat gewesen, denn die Mittelschichten
seien abgewandert.
In der Soziologie wird längst nicht mehr von Klassen oder
Schichten gesprochen, sondern von Milieus. Auch in der Mitte
gäbe es verschiedene Milieus. Der konservative Teil der Mitte
glaubt an Hierarchien, an Ordnung und Einordnung. Er will einen
sicheren Platz in der Gesellschaft haben und wählt konservative
Parteien oder den konservativen SPD-Flügel. Die moderne Mitte
setzt stark auf Eigenverantwortung. Die Grünen sind die Partei
der oberen Mittelschicht, die Mehrheit der Grünen sind Kinder
von Bildungsbürgern oder höheren Beamten.
Die SINUS-Milieus, die aus der
Marktforschung stammen, unterscheiden zwischen eher postmodernen
Milieus (Hedonisten im unteren Bereich, Experimentalisten in der
Mitte, Moderne Performer und Postmaterielle oben) und eher
traditionellen Milieus (Konsum-Materialisten und
Traditionsverwurzelte unten, dann die DDR-Nostalgiker und die
bürgerliche Mitte, und schließlich oben die Konservativen und
Etablierten). Menschen ohne Arbeit sind in diesen Milieus nicht
vorgesehen, auch keine Aussteiger. In unserem Seminar fand sich
niemand, der sich einem Milieu zuordnen konnte. Die Postmodernen
arbeiten oft als Selbständige in der modernen Arbeitswelt, es
sind die Jungen. Die Experimentalisten
profitieren vor allem von ihren gutsituierten Elternhäusern. Die
SINUS-Milieus definieren die Identität über das Konsumverhalten.
In den Milieus gibt es keine Klasse, die auf Kosten einer
anderen Klasse lebt. Es gibt keine Ausbeutung und keine
Gerechtigkeitsdebatte. Es gibt nur noch Pluralität. Es besteht
angeblich nur noch eine Ansammlung von Individuen, die alle eine
Extrablase bräuchten, da sie zusammengesetzte Persönlichkeiten
sind.
Viele aus den postmodernen Milieus, die aus der Mittelschicht
stammen, haben den Aufstieg aufgrund ihrer prekären
Einkommenssitution nicht geschafft, zerren aber vom Einkommen
bzw. Vermögen ihrer Eltern. Sie bewegen sich zum Beispiel als
Freiberufler in Netzwerken, wo sie so tun müssen, als seien sie
aufgestiegen. Als Beispiel sei eine selbständige
Graphikdesignerin genannt, die etwas Kreatives machen wollte,
stylisch auftreten muß, und einen großbürgerlichen Lebensstil
als Belohnung erwartete. Oftmals steht in diesen Milieus die
Frage im Raum, kann ich meinen Lebensstil aufrechterhalten. Was
ist, wenn ich krank werde oder meine Eltern den Geldhahn
abdrehen? Kann ich mir eine Familie leisten? Abstiegssorge ist
auch, der Konkurrenz nicht gewachsen zu sein.
Für einen Daimlerarbeiter, der eher dem traditionellen Milieu
zugeordnet wird, ist die größte Abstiegssorge, seine Stelle zu
verlieren, auch hier hängt oft ein Haus und eine Familie dran.
In diesen Großbetrieben sind die gewerkschaftlichen Forderungen
am meisten durchgesetzt, daher ist der Verlust dieser Arbeit um
so schwerwiegender. Es geht alles verloren, was von den
Gewerkschaften errungen wurde. Die Stelle bei Daimler- Benz
trägt zum Status bei, als Daimlerarbeiter ist er Mensch, z.B.
kreditwürdig. Ein Daimler-Stammarbeiter gehört zur Oberschicht
des Proletariats. Mit dem Stellenverlust bricht das Selbstbild
zusammen. In den Großbetrieben sind die Abstiegssorgen oftmals
noch durch hohe Abfindungen abgefedert.
Während die Stammbelegschaften in
den Großbetrieben gewerkschaftlich organisiert sind und oft
gemeinsam gegen Entlassungen kämpfen, versuchen die
Freiberufler, sich allein durchzuwurschteln.
Früher war es berechtigt, von einer Klasse des Proletariats zu
sprechen. Denn die Arbeiter glichen sich in ihrer Einkommens-
und Vermögenssituation, in ihrer Mentalität und in ihrem
Habitus, in ihrer Lebensweise und ihrem Lebensstil, in ihren
Wohnvierteln und ihrer langfristigen stabilen Ordnung. Was hat
aber heute eine prekäre, alleinerziehende Verkäuferin, die
vielleicht wegen eines Pfandbons gekündigt wird, mit einem
Daimler-Stammarbeiter gemein, der bei Entlassung eine Abfindung
von 200 000 Euro bekommen würde, oder mit einem
Experimentalisten, der zwar prekär arbeitet, aber eine Million
erbt. Sämtliche Strukturmerkmale (Einkommen, Vermögen, Status,
Habitus, Mentalität, Bildung, Lebensstil, Wohnsituation,
Stabilität oder Instabilität) unterscheiden sich. Ich würde mich
auch weigern, als Hartz IV-Bezieherin mich mit einem sogenannten
prekären „Kreativen“ in einen Topf werfen zu lassen, einem
Prekären, der mich aus meinem Wohnviertel verdrängt und bei dem
man weiß, dass er nicht nur von seinem geringen Einkommen lebt.
Deshalb ist auch schwierig, von einer Klasse des Prekariats zu
sprechen. Die Klassenstruktur verläuft quer im „Prekariat“. Was
haben eine Verkäuferin und ein Bauarbeiter, die beide
Niedriglöhner sind und die nur von ihrer Arbeitskraft leben,
denn mit einem hippen Kulturarbeiter aus der Mittelschicht zu
tun, der sein prekäres Einkommen mit elterlicher Unterstützung
bzw. mit einem Erbe aufstockt? In Deutschland werden Billionen
vererbt. Hinter der Sorglosigkeit der Prekären in den
„Kreativberufen“ stehen dann oftmals die Immobilie, der
Börsengewinn, das Erbe, die Eltern. Und viele werden noch ihren
Platz in der Gesellschaft finden, auch dank des Vermögens. Für
Robert Kurz ist es der Faktor, warum diese postmodernen
Youngsters so „gut“ drauf sind. Ihre Lust an kulturindustriellem
Mitmachen kombinieren sie mit einer Unlust an radikaler
Gesellschaftskritik.
Und doch gibt es in der Linken eine Sehnsucht, von Klassen und
einem revolutionären Subjekt zu sprechen. Es ist die Sehnsucht
nach Solidarisierung und Widerstand. Gerade jene, die arm
geboren und vermögenslos sind, sollten sich solidarisieren, denn
sie werden im Kapitalismus am meisten unterdrückt, weil sie nur
ihre Arbeitskraft haben, die sie zu Markte tragen müssen. Sie
sind auf Lohnarbeit oder Hartz IV geworfen. Aber sie sind die
Sprachlosesten, auch in der Mittelschichtslinken kommen sie kaum
zu Wort.
Aber, ob wir jetzt von Klassen, Schichten und Milieus sprechen,
die Herrschenden versuchen, jegliche Solidarisierung der
Unterdrückten zu verhindern. Das geht am besten dadurch, die
„Leistungsträger“ gegen die „Schmarotzer“ aufzuhetzen. Die
Mittelschicht kann man am besten aufgrund der Angst vor dem
Abstieg gegen die Unten aufwiegeln, denn die Mittelschicht
schrumpft.
Die Mitte bröckelt vor allem am unteren Rand ab. Eine Studie des
DIW im Frühjahr 2008 stellte fest, dass der Anteil der
Mittelschicht an der Bevölkerung von 62% in 2000 auf 54% in 2006
zurückgegangen ist. Mc Kinsey veröffentlichte 2008 ebenfalls
eine Studie, die feststellte, dass bis 2020 nicht einmal jeder
zweite Deutsche der Mittelscicht angehört.
Es gibt einen Mitgliederschwund der Mitte von 5 Millionen
Menschen, darunter 3 Millionen klassische Familienhaushalte. Die
Zone des prekären Wohlstands wächst. In dem fragilen Kartenhaus
darf nichts dazwischenkommen. Aus der Lebensstandardsicherung
der Mittelschicht durch den Sozialstaat wird ein
Grundsicherungsstaat für die Unterschicht. Statussicherung hieß
früher die Gewährleistung einer angemessenen Erwerbsbiographie.
Heute ist das Merkmal des Verlierers: Festhalten am erlernten
Beruf, lokale Verwurzelung,
langfristige Bindungen. Die moderne Arbeitswelt läßt derlei
nicht mehr zu. Gleichzeitig sind die Bruttolöhne zwischen 2000
und 2007 gesunken; dagegen steigen die Abgaben. Die Kaufkraft
sinkt und große Teile der Mittelschicht werden nicht mehr den
Lebensstandard der Elterngeneration erreichen. Zudem steigen die
Anforderungen im Job steigen. Und vielen droht Altersarmut.
Insbesondere beklagen Mittelschichtler die fehlende Anerkennung
der Arbeit. Ihre Leistung sei unterbewertet. Die Unzufriedenheit
in der Mittelschicht wächst.
Ein wirkliches Sicherheitsgefühl gibt es nur in der oberen
Mittelschicht und bei den Reichen.
Die Mittelschicht ist gespalten,
die Vermögens- und Einkommensverhältnisse polarisieren sich und
die Lohnungleichheit steigt.
Die Mittelschicht hat Abstiegssorgen. Nach Heitmeyer haben 50%
in unteren sozialen Lagen, 40% in der Mitte, 25% in oberen
Positionen Angst vor Arbeitslosigkeit. Nicht jede Sorge bedeutet
auch eine Gefährdung. Aber auch die Leistungsfähigen sehen, dass
kritische Lebensereignisse oder Alter ihre Leistungsfähigkeit
verringern können. Angst machen vor allem die Veränderungen in
der Arbeitswelt und die Veränderungen der sozialen
Sicherungssysteme. Das Versprechen Leistung gegen Sicherheit
scheint aufgelöst. Die Mittelschicht glaubte immer an den
Aufstieg, jetzt hat sie die Drohgebärde des Abstiegs vor Augen.
Sie haben den Leistungskriterien entsprochen, und trotzdem Angst
vor dem Abstieg.
Dabei hatte sich die Mittelschicht einen Sozialstaat geschaffen,
um von ihren Abstiegssorgen befreit zu sein. Der Sozialstaat war
ein Mittelschichtssozialstaat, der durch die neoliberalen
Angriffe zerstört wurde. Das Risiko Erwerbslosigkeit wird nicht
mehr durch den Sozialstaat abgedeckt. Besonders dramatisch ist
die Lücke zwischen ALG I und ALG II, die Erwerbslosen müssen
einen Großteil ihres Vermögens aufbrauchen, um einen Anspruch
auf Hartz IV zu bekommen. Die Verarmung ist die Vorraussetzung
für den Erhalt der Grundsicherung für Arbeitslose. Der
Sozialstaat sorgt dabei nicht für eine Lebensstandardsicherung
der Mittelschicht, sondern für eine Grundsicherung der
Unterschicht. ArbeitnehmerInnen aus der Mittelschicht fragen
sich daher, warum sie sich aufopfern und Steuern/ Sozialabgaben
zahlen, wenn sie immer weniger davon haben. Sie haben sich
aufgeopfert, um im Alter, bei Krankheit und Arbeitslosigkeit
abgesichert zu sein, was aber immer weniger geschieht. Nun wehrt
sich die Mittelschicht dagegen, die Unterschicht zu finanzieren.
Die Mittelschichten sind sauer, dass der Sozialstaat nicht mehr
zu ihrer Lebensstandardsicherung beiträgt, sondern nur noch das
Überleben der „unproduktiven“ Bevölkerungsteile (Erwerbslose,
Junge, arme Alte, Kranke, Erwerbsunfähige, Faule,
Aussteiger)sichern würde. Warum sollten sie den Sozialstaat
finanzieren, wenn der nicht ihren Absturz verhindert. Als ob
Steuern nur für Hartz IV gezahlt werden. Steuern werden erhoben
für Straßen, Polizei, Militär, Justiz, Verwaltung, Bildung, die
Infrastruktur des Wirtschaftslebens und den Finanzmarkt (siehe
Bürgschaften). Der Philosoph Sloterdijk forderte gar die
Abschaffung der Zwangssteuern und deren Umwandlung in Geschenke
an die Allgemeinheit. Er sprach von einer „Revolution der
gebenden Hand“. Den Geiz der Wohlhabenden berechnet er damit
nicht. Die Armen haben keine Rechte mehr, sondern sind auf die
Gabe der Reichen angewiesen. Die Kultur der Almosen umfasst ein
„mildtätiges Herabblicken“ und ein „hilfesuchendes
Emporblicken“, ansonsten ist Verhungern angesagt. Statt sozialer
Rechte ein Almosenstaat, soweit wird schon in der Mitte gedacht.
Die Spaltung der Gesellschaft in steueraktive Leistungsträger
und in unproduktive Nichtleistungsträger.
Um die neoliberale Reaktion auf die Abstiegsängste noch weiter
zu beleuchten, ein Blick in das Buch „Die Ausplünderung der
Mittelschicht“. Fatalerweise kommt gerade der Angriff auf den
Sozialstaat aus der Mitte der Gesellschaft. Die Mittelschicht
sei der Geldautomat der Republik, die Mittelschicht würde
ausgeplündert.
Ich zitiere aus dem Buch:
„Sie haben was geleistet. Sie
bringen sich ein. Dennoch sind Sie permanent vom Abstieg bedroht
und von den Politikern als Zahlmeister der Nation auserkoren-
und werden noch dazu mit Undank überhäuft.“ (Beise, S.7)
„In dieser Gesellschaft wird Politik an die Ränder gedacht: Gebt
den Armen, nehmt den Reichen! In Wirklichkeit geht es gegen uns,
gegen die in der Mitte. Lange schon leiden wir unter einer
Politik der Ausplünderung.“ (Beise, S.9)
„Im Abschwung wird der Staat uns weiter schröpfen. Aber warum?
Viele Milliarden Euro werden für Soziales ausgegeben, und die
Not steigt dennoch...Wir sind die Mittelschicht. Was anderen
gegeben wird, fehlt uns...Wir haben Jobs, arbeiten viel,
verdienen aber auch nicht schlecht. Wir wohnen gut...Nur Sparen
für`s Alter, nachhaltig vorsorgen, uns und den Kindern etwas
aufbauen- all das, was für Menschen wie uns einst normal war und
die Gesellschaft stabilisierte, das können wir nicht mehr.“
(Beise, S.10ff.)
„Wer Freiheit will, muss Ungleichheit aushalten.“ (Beise, S.113)
Die Mitte sei gekennzeichnet
durch eine bestimmte Weltsicht, Wertvorstellungen, durch eine
Bildungs- und Leistungsorientierung, durch ein ausgewogenes
Verhältnis von staatlicher Fürsorge und Eigenverantwortung sowie
einem Sicherheitsbedürfnis und Risikobereitschaft, durch eine
Balance von Sicherheit und Freiheit. Jetzt aber schrumpfe in der
Mitte die Zufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage. Wenn die
Mittelschicht aufgibt, würde sie nach Marc Beise wie folgt
reagieren: durch Resignation (es schwindet der Wille zu
politischer Partizipation; Lethargie bei Wahlen), durch
Schwarzarbeit (Flucht in die Schattenwirtschaft), durch
Auswandern (die Leistungsstarken würden gehen; Protest der
Mittelschicht) und durch Rebellion (hier wird die Linkspartei
genannt...).
Klaus Dörre (auch jemand aus der Mittelschicht) argumentiert
ganz anders als die Neoliberalen.
„Die Verunsicherung der
Mitte resultiert aus einer Politik im Namen eben jener Mitte,
die die Verantwortung für materielle Sicherheit und
Statussicherung zunehmend in den Aufgabenbereich des Individiums
verlagert. Im flexiblen Kapitalismus drohen jene Arbeits- und
Lebensorientierungen, die in der Vergangenheit als Garanten
gesellschaftlichen Erfolges galten, auf breiter Front entwertet
zu werden.“ (Dörre, S.255)
Die Mitte stand für geordnete,
„gut bürgerliche“ Lebensführung. Heute sei sie mit
Beschäftigungsunsicherheiten und Belastungen durch
Sozialbeiträge und Steuern konfrontiert. Der neoliberalen
Argumentation, die Mittelschicht sei die Melkkuh der Nation,
antwortet er, dass erst der Wohlfahrtsstaat eine breite
Mittelschicht entstehen ließ. Er schuf Stabilität und
Sicherheit. Vom Wohlfahrtsstaat wurden Biographien,
Generationenverhältnisse, Familienformen, Konsummuster,
Siedlungsstrukturen, die alltägliche Lebenspraxis der Bürger
geprägt. Beispiele sind das Arbeitslosengeld, die dynamische
Rente, BAFÖG, Pendlerpauschale, Eigenheimzulage,
Pflegeversicherung, Kindergeld, Ehegattensplitting usw. Der
Wohlfahrtsstaat hat den Siegeszug der Mitte erst ermöglicht. Er
hat den Boden für den sozialen Aufstieg und die Dominanz der
Lebensführung der Mitte bereitet. Die Krise des
Wohlfahrtsstaates ist eine Krise der Mittelschichten. Die
Mittelschicht war ein Produkt des Wohlfahrtsstaates, z.B.
Sozialleistungen wie Rente und Arbeitslosenversicherung,
Förderung des Ausbaus privater Immobilien, Pendeln vom Stadtrand
zum Arbeitsplatz, Arbeitszimmer steuerbegünstigt, Beamtenstatus
wuchs, Schulen und Unis waren kostenlos etc. Helmut Schelsky
sprach früher von einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“,
Ulrich Beck von einem „Fahrstuhleffekt nach oben“. Die Zeiten
sind vorbei.
Gute Bildung schützt nicht mehr
vor Armut. Trotzdem wird Bildung als Wunderwaffe bezeichnet, so
braucht man nicht Gelder umverteilen. Dabei hängt der
Bildungserfolg von der sozialen Herkunft ab. Die prekäre
Beschäftigung ist immer mehr in qualifizierten
Mittelschichtsberufen zu finden. Das Prekariat repräsentiert
einen Teil der Mittelschicht. Trotz guter Qualifikation haben
sie Mühe, die Arbeitsverhältnisse zu stabilisieren. Die
Mittelschicht zersplittert dadurch, die Konflikte um Wohlstand,
Status und aussichtsreiche Arbeit wachsen. Die Mittelschichten
seien die Leistungsträger, mit ihrer „ehrlichen Arbeit“ sichern
sie „unseren Wohlstand“, und werden dann auch noch steuerlich
belastet. Ihre Leistungen sollen gewürdigt werden, ihr Status
solle gesichert werden.
Die Mitte schlägt mit Ressentiments zurück, z.B. gegen die
unproduktiven Elemente der Gesellschaft..
Es gibt eine aktuelle Tendenz,
wie oben schon beschrieben, die Deutschen in die Klasse der
Produktiven (das sind jene, die Steuern zahlen) und in die
Klasse der Unproduktiven (die keine Steuern zahlen) einzuteilen.
Dann wären wir wieder in der Zwei-Klassen-Gesellschaft,
allerdings einer sehr fragwürdigen. Die politisch bewußte
Verweigerung aufgrund eines unmenschlichen Systems, zu dem man
nichts von oben gewolltes beitragen möchte, bleibt ausgeblendet.
Weder Sinn noch Inhalte der Arbeit der Steuerbürger wird
thematisiert, noch was zum Beispiel Ein-Euro-Jobber und
Ehrenamtliche zum Erhalt des Gemeinwesens beitragen. Auch die
Reproduktionsarbeit vor allem von Frauen mit Kindern wird nicht
anerkannt.
Und die Verarbeitungsformen der Abstiegssorgen sind oft
unsolidarisch, d.h. die Mittelschicht grenzt sich
kulturalistisch von der Unterschicht ab. Die Unterschicht wird
verächtlich gemacht, sie sei z.B. ohne Bildung. Vorraussetzung,
um Gruppen gegeneinander auszuspielen ist, dass jeglicher
gesellschaftlicher Bereich mit einem Arbeitskraftüberangebot
überfüllt ist. In der Arbeitswelt grassiert die Angst vor
Arbeitslosigkeit, zu viele warten draußen. Es gibt zu viel
Arbeitskraft und zu wenig Nachfrage. Aufgrund des Überangebotes
an Arbeitskraft, sind viele Arbeitgeber nicht mehr bereit,
ausreichend Lohn zu zahlen. Die Prekarität reicht mittlerweile
bis in die Mittelschicht. Die Abstiegsdrohung betrifft zunehmend
die bisher „Stabilen“. Die Aufwärtsmobilität ist dagegen
bedroht, das führt zur Enttäuschung. Die Arbeitenden sehen sich
in Konkurrenz zu anderen, sie sind ersetzbar. Da die
Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt drängen, werden die Ansprüche
der (potentiellen) Lohnarbeiter heruntergesetzt. Arbeitnehmer
und Arbeitslose werden gegeneinander ausgespielt, die
Betroffenen entsolidarisieren sich. Die Parole der
"Leistungsträger" heißt dann: „Keine Leistung ohne
Gegenleistung“. Man soll sich sein Leben mittels Lohn verdienen.
Und da eine Unterbietungskonkurrenz herrscht, soll man bereit
sein, zu immer schlechteren Bedingungen (z.B. zu Niedriglohn) zu
arbeiten. Die Unzufriedenheit mit der Arbeit, das Arbeitsleid,
führt oft zu einer aufgestauten Wut gegen Sozialschmarotzer und
Ausländer. Dabei steht die Forderung im Raum, dass niemand aus
der Reihe tanzen darf, alle sollen sich opfern. Gerechtigkeit
bedeutet dann, dass alle Opfer bringen müssen. Es entsteht ein
Groll gegen jene, die nicht bereit sind, sich zu opfern. Die
Anziehungskraft von rechtspopulistischer Politik steigt. Die
Logik ist dann: Mir geht es schlecht, also soll es den anderen
auch schlecht gehen.
Die Mittelschicht grenzt sich gegen die „Kultur der Armut“ ab,
aber wie ist denn die Kultur der Mittelschicht? Die Ideale der
Herrschenden wurden nach unten, in die Mittelschicht,
transferiert. Die Mittelschicht wurde ans herrschende System
gebunden. Die Kultur der Mittelschicht, zu der z.B. die
Leistungsideologie gehört, hat es geschafft, einen bestimmten
Lebensstandard zu schaffen. Auch die Arbeitnehmer in den
Stammbelegschaften gehören heute zur Mittelschicht, denn auch
sie haben sich oftmals einen Lebensstandard geschaffen, zu dem
ein Haus, ein Auto etc. zählen. Das was die Mitte als gute Zeit
ansah (Wirtschaftswunder), war für andere eine „Spießerhölle“.
Die Mitte ist für die Machtverhältnisse verantwortlich, sie
stützt die parlamentarische Demokratie. Ein „gesunder, in sich
ruhender“ Mittelstand von Gewerbetreibenden, akademischen
Berufen, Lehrern, Beamten und Hausbesitzern gilt seit je als
beste Versicherung gegen politischen Radikalismus und
revolutionäre Experimente. Obwohl die Mittelschicht Profiteur
des Wohlfahrtsstaates war, sehen 41% der Befragten überwiegend
Chancen in einem Rückzug des Staates; 68% glauben in erster
Linie für den Staat zu arbeiten. Mit ihrer Leistungsorientierung
passen sie sich dem Streß in der Arbeitswelt an, sie haben ein
ausgesprochenes Karrieredenken und eine Ellenbogenmentalität,
ohne aufzubegehren. Mit ihrer Bildungsorientierung setzen sie
auch ihre Kinder unter Streß, oftmals ist die gesamte Zeit der
Kinder verplant. Häufig arbeiten beide Elternteile und haben
kaum Zeit für ihre Kinder. Die Vernachlässigung der Kinder in
der Mittelschicht wird allerdings nicht thematisiert,
entsprechend werden die Kinder mit Konsumgütern vollgestopft.
Sie wollen sich auch moralisch über die Unterschicht erheben,
z.B. indem sie bio essen und ethisch konsumieren. Dabei sind sie
mit ihren Häusern, Autos und Flugreisen, ihrem Konsumverhalten
die größten Co²- Verschmutzer. Sie grenzen sich von der
Unterschicht ab, dabei ist ihre „Leitkultur“ auch sehr
fragwürdig, ihre Bürgerlichkeit, ihr sogenannter Fleiß, ihre
Anpassungsbereitschaft, die Leistungsideologie, das
Arbeitsethos, die Werte, der Habitus. Die neuen Mittelschichten
sind verantwortlich für die Gentrifizierung. Es gibt in der
Mittelschicht eine Renaissance der Innenstadt, ein Run auf die
Stadt, insbesondere bei den Performern und Hedonisten (machen
1/3 der Stadtbevölkerung aus). Heute machen die
nicht-traditionellen Mittelschichtsmilieus 33% aus, 2020 sind es
laut Hallenberg 51%. Sie wollen oftmals das Lebensgefühl auf dem
Land mit dem in der Stadt verschmelzen. Sie wollen unter sich
bleiben und bringen auch die Anspruchshaltung mit. Früher war es
der Traum vom Eigenheim (wie heute auch noch bei den
Traditionalisten). Jene Stadtbezirke, die sie dominieren, werden
langweilig (wie der Prenzlauer Berg oder Mitte) oder sind es
schon längst (wie Steglitz oder Wilmersdorf). Es herrscht
Tristesse, die Preise sind überteuert.
Ich bin in der DDR in einer proletarischen Gesellschaft
aufgewachsen und empfand den Mittelschichtshabitus, mit dem ich
dann im Westen konfrontiert war, als arrogant und abstoßend. Die
proletarisierten Armen weltweit tun mir leid, angesichts des
Überlegenheitsgefühls dieser weißen Mitte der reichen
Industrieländer. Diese weiße Mitte lebt auch noch auf Kosten der
harten, unterbezahlten Arbeit dieser proletarisierten Massen.
Auch in der Mittelschichtslinken herrscht die Leistungsideologie
der Mitte. Arbeitsverweigerer sind selten, sie sind vor allem in
der Erwerbslosenszene zu finden und sie sind oft schon arm
geboren. Ansonsten tummeln sich in der Linken viele
Freiberufler, denen es um Existenzsicherung und Profilierung
geht. Sie wollen mit Politik Geld machen. Viele versuchen sich
auch an die Linkspartei anzudocken. Eine Partei, die
mittlerweile ein Unternehmen mit hunderten (tausenden?)
Arbeitsplätzen ist. Da geht es um Postenjagd. Inwiefern das die
außerparlamentarische Linke verändert, wird ebenso nicht
diskutiert- wie, dass die kapitalistischen
Verwertungsverhältnisse längst in die Linke eingesickert sind.
Da weiß man dann nicht mehr, wer wirklich authentisch ist oder
wem es um persönliche Vorteile geht.
Die Linke ist nur ein
Abbild dieser Gesellschaft.
Na dann bis zur nächsten Revolution...
Quellen:
Das Parlament, 59. Jahrgang, Nr.
38, 14.9.2009
Marc Beise, Die Ausplünderung der Mittelschicht, Bundeszentrale
für politische Bildung Bonn 2009
Robert Castel, Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg,
Ausgrenzung, Campus Verlag Frankfurt/New York 2009
Editorische
Anmerkungen
Wir
erhielten den Artikel von der
AutorIn