Jahre des Alarmismus. 1989/90
Ein Wendepunkt für die westdeutsche Linke – Teil 2 eines Rückblicks


von Bernard Schmid

12/09

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Von 1989 nach 1991: Entstehung und Zerfall der „Radikalen Linken“, Herausbildung der antinationalen-antideutschen Strömung

Im 1. Teil eines Rückblick auf das Jahr 1989, betrachtet durch die Brille der damaligen westdeutschen Linke, schilderte der Verfasser dieser Zeilen die Herausbildung eines dreifachen politischen Kontextes. Es handelt sich um die Entstehung der vorübergehenden Allianz unter dem Namen „Radikale Linke“ (RL), die sich insbesondere als Reaktion auf die galoppierende Verbürgerlichung der Partei DIE GRÜNEN formiert; um die einsetzende Abwendung eines Teils der Linken von sozialen Massenbewegungen und insbesondere der Friedensbewegung (deren „nationale Aufladung“ gleichzeitig von anderer Seite her versucht wird); und um den Aufstieg einer rassistischen und chauvinistischen extremen Rechten in Gestalt der damals erfolgreichen Wahlpartei „Die Republikaner“. In dieses historische Umfeld platzt im Herbst 1989 die Nachricht von der Staatskrise der DDR hinein. Und dann erfolgt, am 9. November jenes Jahres, der Mauerfall in Berlin.

Darauf reagiert die westdeutsche Linke in unterschiedlicher Weise. Ihre Reaktion ist durch ein doppeltes Muster geprägt, genauer, sie polarisiert sich zwischen zwei einander entgegengesetzten Polen: Auf der einen Seite herrscht eine verhalten positive Erwartungshaltung gegenüber dem, was zukünftig eventuell an Positivem mit den Umbrüchen „im Osten“ einhergehen könne - beispielsweise bezogen auf eine nunmehr mögliche Zusammenarbeit mit Linken aus der Ex-DDR. Die positivste Haltung formuliert die damalige Bundesvorständlerin der grünen Partei Renate Damus, die zum linken Flügel zählt, 1990 in der taz: Endlich sei das Zerr- und Schreckbild eines autoritären Staatssozialismus weggefallen. Dem Kapitalismus fehle es dadurch nunmehr an einem negativen Spiegel- oder Schreckbild, so dass sich künftig die Kritik an ihm und die Debatten um Systemalternativen auf sympathische Varianten eines ökologischen Sozialismus (und nicht auf die „real existierende“ Kasernensozialismus-Variante der DDR) drehen würden. Insofern sei der Wegfall des DDR-Realsozialismus nur ein erster Schritt, dem weitere positive Schritte folgen würden, die dann auch vom real existierenden Kapitalismus weg führen würden.

Beim damaligen Kommunistischen Bund, der die Monatszeitung unter dem Kürzelnamen AK (nicht mehr Arbeiterkampf, noch nicht Analyse und Kritik) herausgibt und bei dem Verfasser dieser Zeilen „damals“ aktiv ist, wird der Umbruch von 1989 nicht derart rein positiv gedeutet. Vielmehr herrscht ein Bewusstsein vor, dass durch den sich abzeichnenden Wegfall des „realsozialistischen“ Blocks und der „Systemkonkurrenz“ die weltweiten Voraussetzungen dafür, etwa in Afrika, Asien oder Lateinamerika politische Alternativen jenseits des kapitalistischen Weltmarkts zu verfolgen, erst einmal schlechter ausfallen. Auch wenn sich der KB niemals positiv auf den „Realsozialismus“ sowjetischer Bauart als positives Gesellschaftsmodell bezogen hatte, so wurde doch die Rivalität beider Blöcke als strategische Voraussetzung, die Machtpositionen der Machthaber in den kapitalistischen Zentralländern zu begrenzen und ihre planetaren Bestrebungen auszubremsen, begriffen. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, wie dunkel oder auch wie apokalyptisch die Negativszenarien ausfallen sollen - oder müssen -, die man nun voraussehen könne. Eine der wichtigsten Streitfragen dreht sich darum, ob und in welchem Ausmaß eine auf Ideologie basierende Eigendynamik des (spezifisch deutschen) Nationalismus die Umbrüche von 1989/90 in der Noch-DDR vorantreibe, und welche historischen Gefahren damit einhergingen.

Vor dem Hintergrund der im Frühjahr 1989 (im Zusammenhang mit den Diskussionen um Abkehr von der Friedensbewegung und um die Massenbasis der extremen Rechten - in Form der Wählerschaft der REPs und DVU -, im Zusammenspiel auch mit der Frage nach der Eigendynamik von rassistischer oder nationalistischer Ideologie) begonnenen Diskussionen um „Massenfeindlichkeit“ zeichnet sich ein kleinerer Teil des KB-Spektrums schon früh durch sehr harsche Reaktionen aus. Seine These: Die Menschen, die da nun „massenhaft“ mit scharz-rot-goldenen Fahnen über die noch bestehende BRD/DDR-Grenze einreisen, sind genau so motiviert, wie sie es darstellen. Also vom Streben nach Verwirklichung ihres „Deutschtums“, von durch und durch chauvinistischer und nationalistischer Ideologie beseelt. Vordergründige materielle Beweggründe sind eher tief zu hängen, und die reale Gefahr besteht, dass dieser „Mob“ eine völkische Mobilisierung lostritt, deren Eigendynamik schwer abzuschätzen ist. Im Herbst 1989 erscheint der damalige AK mit einem Leitartikel in Form eines Kommentars auf den Seiten 1 und 2, der von einem Angehörigen dieser Minderheit im KB - Detlef zum Winkel (de.) - verfasst worden ist. Unter der Überschrift „Liebe Deinen Zoni wie Dich selbst“ lässt der Artikel sich relativ gehässig über jene DDR-BürgerInnen, die damals im Zuge der ersten „Ausreisewelle“ noch über Prag und die westdeutsche Botschaft in der CSSR über die so genannte „Zonengrenze“ einreisen, aus. Sie werden als durch und durch völkisch verdorbenes Pack dargestellt, dem beiläufig mit dem Stärke markierenden Satz „Sonst kommt der Zahnarzt“ gedroht wird.

Auch sonst wird - mit bedeutend weniger schrillen Tönen - in Teilen des KB eine grundsätzlich Ablehnung und Furcht vor der sich anbahnenden „deutschen Einheits“-Dynamik mit dem drohenden Durchbruch eines deutsch-völkischen Nationalismus begründet. Hingegen setzen andere Personen im KB eher auf ein Herangehen, das den Schwerpunkt bei der Erklärung der aktuellen Umbrüche auf die „kapitalistische Durchdringung Osteuropas“ und das Vordringen der „Marktwirtschaft“ legt, wie etwa der damalige AK-Autor Knut Mellenthin (kt.).

Auf einer bundesweiten Diskussionstagung des KB, an einem Wochenende Mitte Januar 1990 in Hamburg, kommt es zu sichtbaren Verwerfungen und zu einem ersten Bruch. Der AK-Autor Jürgen Elsässer („Jürgen, Stuttgart“) stellt dort seine Thesen zur Diskussion, die in einem Artikel behandelt werden, dessen Erscheinen zunächst verschoben worden war. Er wird dann am 5. Februar 1990 unter dem programmatischen Titel „Weshalb die Linke anti-deutsch sein muss“ publiziert werden. Darin schildert der Autor das drohende Überschwappen eines spezifischen, durch die deutsche Geschichte geprägten Nationalismus, dessen historische (nach 1945 erreichte) Bändigung nun wegzufallen drohe. Dieser Nationalismus unterscheide sich vom bürgerlichen-republikanischen Nationalstaatsgedanken französischer Prägung, da ihm eine eigene Sozial- und Nationalgeschichte tief eingeschrieben sei: In Frankreich habe das Bürgertum gleichzeitig mit der Begründung des modernen Nationalstaats die liberale Revolution vollzogen. In Deutschland hingegen hätten - liberale wie sozialistische - Revolutionen noch immer mit einer Niederlage geendet, so dass dem (völkischen) Nationalismus statt eines bürgerlichen Wertekanons eher die Identifikation mit dem starken Staat und der Volksgemeinschaft innewohne. Nunmehr drohe vor diesem Hintergrund die historische Gefahr einer Neuauflage des deutschen „Sonderwegs“, jenseits westlicher bürgerlicher Staatsmodelle. Und in allernächster Zukunft drohten, auf dem Weg dahin, unmittelbare Gefahren: Wenn die Nachbarstaaten die deutsche Vereinigung hinnähmen, „wer wollte ihnen [den Deutschen] dann noch die Atombombe, die Streichung des Asylrechts aus der Verfassung, die Beteiligung an Militärinterventionen untersagen?“ Appelliert wurde durch den Autor auch daran, man müsse nunmehr auch (für die radikale Linke unkonventionelle) historische Bündnisse - wie den Appell an den britischen Thatcherismus und an französische Gaullisten, doch lieber der deutschen Wiedervereinigung möglichst viele Hindernisse in den Weg zu legen - anvisieren.

Ihm widersprach auf besagter Konferenz eine Mehrheit der Anwesenden. Besonders heftig fiel der Widerspruch seitens von Knut Mellenthin aus, der auf Elsässers relativ positiver Schilderung des Morgenthau-Plans am Ende des Zweiten Weltkriegs (der eine Desindustralisierung Deutschlands vorsah) - als eines gescheiterten Versuchs zur Eindämmung des deutschen Machtpotenzials - erwiderte: „Nun kann man wie Pol Pot auf Massenvertreibungen und Zwangsumsiedlungen (aus den Industriestädten) setzen…“ Der Angesprochene reagierte aggressiv auf den Pol Pot-Vergleich, der durch seinen Urheber dahin gehend präzisiert wurde, dass er keine Parallele ziehe, „weil Jürgen nicht die Machtmittel hat“ wie Pol Pot. Ein später nicht mehr zu kittender Bruch deutete sich auf dieser Konferenz erstmals an. Im Anschluss erschien der umstrittene Artikel von „Jürgen, Stuttgart“ Anfang Februar 1990 im AK. Die besonders umstrittene Schlussforderung nach „Auflösung Deutschlands“ (als Nationalstaat) war in der Druckfassung ergänzt worden durch die Präzisierung: „…in eine multikulturelle Gesellschaft“.

In der Folgezeit sortierten sich die meisten Mitglieder des damaligen KB in die neue Polarisierung ein, auch wenn einige unserer GenossInnen eine Positionierung entlang der Grabenlinie „Mehrheit“ versus „Minderheit“ bewusst verweigerten. Ab April 1990 standen sich zwei relativ klar voneinander abgrenzbare Blöcke gegenüber, „KB-Mehrheit“ und „KB-Minderheit“. Und ein Jahr später sollte dann, auf einem Auflösungskongress in Hamburg, auch dezidiert die organisatorische Spaltung besiegelt werden. Ab da gruppierte sich die bisherige KB-Minderheit um ihr ab dem Winter 1991/92 erscheinendes Kassiber unter dem Titel Bahamas, das sich inhaltlich noch deutlich vom heutigen gleichnamigen (und aus ihm hervorgegangenen) Organ der am weitesten nach rechts gedrifteten„Antideutschen“ unterschied. Dessen Name entstammt ursprünglich einer Trotzreaktion auf einen Ausspruch des AK-Autors kt., der den AnhängerInnen der „Minderheits“-Linie einmal entgegen hielt, mit ihrer Position könnten sie auch „auf die Bahamas auswandern“, anstatt zu versuchen, Politik zu machen.

Die strategische Option der bis dahin als „KB-Minderheit“ firmierenden Gruppe bestand im Wesentlichen darin, den Bündnisansatz „Radikale Linke“ (RL) fortzuentwickeln, der jedoch schon Anfang 1991 unter den Bedingungen des damaligen Golfkriegs - siehe unten - wieder auseinanderfallen würde. Die historische Perspektive bestand darin, eine Ablehnungsfront der radikalen Verweigerer und Verweigerinnen gegenüber den aktuellen Umbrüchen und dem „nationalen Taumel“ zu sammeln. Diese Bündnisoption gipfelte in mehreren Mobilisierungen, bei denen es darum ging, „in historisch bedeutsamer Stunde“ ein vernehmbares Nein zu formulieren. Auf ihrem Höhepunkt demonstrierten unter dem Slogan „Nie wieder Deutschland“, am 12. Mai 1990, rund 20.000 Menschen aus verschiedenen radikal linken Gruppen (auch, aber keineswegs allein aus dem Umfeld der RL), aus dem autonomen Spektrum usw. Eine Folgedemonstration am 3. November 1990 in Berlin unter dem Motto „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ fiel aber, mit rund 7.000 TeilnehmerInnen, bereits schwächer aus.

Auf der anderen Seite versuchte die bisherige „Mehrheitsfraktion“, eine Option des Bezugs auf soziale Bewegungen und gesellschaftliche Konflikte aufrecht zu erhalten. Unterstützt wurde beispielsweise eine Demonstration am 16. Juni 1990 zum Thema Abtreibung, bei dem es darum ging, zu versuchen, Bestimmungen des zumindest in Punkten wie „Recht auf Schwangerschaftsabbruch“ progressiveren DDR-Rechts in die - theoretisch neu auszuarbeitende -Verfassung des künftigen vereinigten Deutschlands herüberzuretten. In Teilen der bisherigen „KB-Mehrheit“ versuchte man es, aus mal größerer und mal geringer werdender Distanz, mit Bündnisoptionen gegenüber der (damals noch) SED-PDS. Denn die „Westausdehnung“ der PDS stand als strategische Notwendigkeit bevor, und manche Linke warfen die Frage auf, inwieweit nicht diese Partei als Ausgangsbasis für die bislang in Westdeutschland fehlende „sozialistische Massenpartei“ dienen könne. Einzelne Personen der „KB-Mehrheit“ - wie Andrea Lederer, Claudia Gohde und Heinrich Eckhoff - betätigten sich früher oder später bei der PDS, während andere Teile der bisherigen Mehrheitsfraktion diesen Schritt nicht aktiv mit vollzogen.

Es deutete sich auch bereits an, dass sich innerhalb beider bislang relativ geschlossen auftretender Gruppierungen („KB-Mehrheit“ und „KB-Minderheit“) Ausdifferenzierungsprozesse anbahnen würden. Weder mochten alle Angehörigen der „Mehrheit“ in die PDS hinein streben, noch zogen alle AnhängerInnen der „Minderheit“ an einem Strang. In den Reihen der Letzteren machten sich ab 1990/91 überhöhte alarmistische Tendenzen bemerkbar. Aktuelle Entwicklungen im „wiedervereinigten“ Deutschland wurden von manchen Figuren systematisch auf der Folie der Geschichte der ersten Jahre des „Dritten Reiches“ interpretiert. So erinnert sich der Autor dieser Zeilen an eine Diskussion im Spätherbst 1991 in den damaligen Räumlichkeiten der AK-Redaktion, in der ein damaliger Autor der Zeitung (Klaus Dr., später um 1994 Redakteur bei der ‚jungen Welt’; inzwischen politisch abgetaucht) einen Plan aus dem Hause Bertelsmann zur nunmehr möglichen kapitalistischen Durchdringung „Mittel- und Osteuropas“ mit den Worten kommentierte: „Das ist der neue Generalplan Ost.“ Kleiner Unterschied zwischen den beiden historischen Epochen: Der durch die NS-Bürokratie aufgelegte „Generalplan Ost“ sah die Ermordung von 40 bis 50 Millionen „slawischen Untermenschen“ vor…

Nicht nur in den Reihen von AnhängerInnen der „Radikalen Linken“ und/oder der „KB-Minderheit“ war damals vor dem Heraufziehen eines „Vierten Reiches“ gewarnt worden. Beispielsweise druckte die Berliner ‚taz’ im Frühjahr 1990 - während sich die deutsch-deutsche Währungsunion als Vorstufe der Wiedervereinigung anbahnte - eine Karikatur, in der sie satirisch als Zielsetzung der herrschenden Politik formulierte: „Ein Reich, ein Volk, wie Früher“. Einige Ereignisse nach dem Vollzug der staatlichen „Wiedervereinung“ am O3. Oktober 1990 schienen den Alarmprognosen dann auch zunächst Recht zu geben.

Tatsächlich kam es vor allem in den Anfangsjahren nach dem Zusammenschluss von BRD und DDR nicht nur zu einer Welle von nationalistischen und rassistischen Manifestationen, sondern auch zu massenhafter Gewalt gegen Einwanderer vor allem im Zusammenhang mit der berüchtigten so genannten „Asyldebatte“, dieser staatlich orchestrierten Hetzkampagne der 1991 bis 93 im Vorfeld der Änderung des Grundgesetz-Artikels 16 zum Asylrecht. In Hoyerswerda (September 1991) und Rostock (August 1992) verbrannten Gebäude, in Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993) dann auch Menschen. Im Anschluss daran, und an die am 26. Mai 1993 erfolgte Grundgesetz-Änderung, zog das deutsche politische Establishment dann aber die Grenze und dämmte die freigewordene rassistische Dynamik wieder ein. Neonazi-Gruppierungen - die nach ihrem „Übertritt“ in der Ex-DDR massiv tätig geworden waren - wurden erstmals staatlich verboten. Durch die Aufnahme der „Republikaner“ in die Verfassungsschutzbereichte der meisten Bundesländer wurde allen Staatsbediensteten signalisiert, dass nunmehr Schluss mit lustig sei - und dass die Betätigung von BeamtInnen für die extreme Rechte unter Umständen mit Berufsverbot geahndet werden könne. Wurden REPs und DVU durch „Asyldebatte“, politisches Klima und Medienberichterstattung eher nach oben gespült, so wurden sie nunmehr als Schmuddelkinder dargestellt. Und ihre Wahlergebnisse sanken denn auch; bei der Europaparlamentswahl 1994 flogen die „Republikaner“ (3,5 %) der Stimmen aus dem Europäischen Parlament, in das sie 1989 mut über 7 Prozent der Stimmen triumphal eingezogen waren, wieder hinaus. Ab diesem Zeitpunkt verpuffte der allzu schrille Alarmismus von Teilen der damals noch so bezeichneten „Antinationalen“ (als Vorläufern der Antideutschen) - unter ihnen AnhängerInnen der vormaligen „KB-Minderheit“ -, die unmittelbare Parallelen vom „Dritten“ zum „Vierten Reich“ zogen. Im Juli 1993 hatten beispielsweise Anhänger dieser Strömung eine Gedenkfeier in der Hamburger Sankt Michaels-Kirche für die Bombardierung von 1943 gestört und unter anderem auf einem Transparent den Slogan benutzt: „Bomber Harris said: I would do it again. We say: do it now again!“ Diese faktische Gleichsetzung von Hitler-Deutschland und Kohl-Deutschland (jedenfalls bezüglich der ihnen gegenüber gebotenen Konsequenzen) war denn doch historisch starker Tobak; sie war der Anlass für den Verfasser dieser Zeilen - selbst ein früheres Mitglied der KB-Minderheit, der sich in Einzelpunkten von ihr zu entfernen begonnen hatte- , diesem Milieu definitiv die Gefolgschaft aufzukündigen.

Weitere politisch-ideologische Wandlungsprozesse kamen in diesem Segment der (Ex-)Linken später hinzu, insbesondere durch die sich extrem stark verschiebende Wahrnehmung des Nahostkonflikts. Einen Bezug zu Israel und den Konflikten im Nahen Osten hatte die „antinationale“ respektive „antideutsche“ Diskussion zunächst nicht unmittelbar - bekam ihn aber im Laufe des Golfkriegs von Januar/Februar 1991. In den ersten Tagen der Flächenbombardierung des Irak antwortete die dortige Diktatur auf die Offensive der von den USA geführten Kriegskoalition, indem sie Scud-Raketen (sowjetischer Bauarbeit, aber mit Hilfe des deutschen Thyssen-Konzerns aufgemotzt) auf militärische Stellungen in Saudi-Arabien und dann auch in Richtung Israel abfeuern ließ. Die dort, in Israel, entstandenen Schäden waren damals militärisch bedeutungslos, es gab freilich zwei zivile Tote durch Einsturz eines Hauses infolge eines Raketeneinschlags (und etwa ein Dutzend Opfer von Unfällen mit Gasmasken, die etwa durch falsches Aufsetzen der Maske erstickten). Aber in ihrer Wirkung sollten diese - auf militärischem Niveau eher symbolischen - Attacken vor allem dazu dienen, die Meinung der Straße in vielen arabischen Ländern zugunsten des irakischen Regimes zu mobilisieren, indem die Konfrontation ausgeweitet wurde. Verbal drohte der irakische Präsident Saddam Hussein später damit, die (wenig treffsicheren) Raketen beim nächsten Beschuss mit Giftgasköpfen zu bestücken. Militärisch war er dazu mutmaßlich überhaupt nicht in der Lage, da die Verlängerung der Reichweite dieser Kurzstreckenraketen durch Thyssen auf Kosten ihrer Trägerkapazität ging. Aber verlassen wollte man sich darauf in der israelischen Bevölkerung nicht, zumal fest stand, dass das irakische Regime zum damaligen Zeitpunkt C-Waffen besaß: Es hatte 1988 Giftgas gegen Kurden im Nordirak eingesetzt. (Wogegen in Westdeutschland nur kleine Gruppen, u.a. linkere Gruppen am Rande der breiten Friedensbewegung gegen die NATO-Nachrüstung, protestiert hatten, während der Irak die technologischen Grundlagen dafür u.a. aus der BRD bezogen hatte.)

Daher saßen viele Menschen in Israel verängstigt in Schutzbunkern, und die Drohung mit dem Giftgaseinsatz rief natürlich historische Traumata wach. Und da es zum Teil deutsche Firmen waren, die dem Irak bei der chemischen Aufrüstung geholfen hatten, wurden historisch aufgeladene Vorwürfe laut und Vergleiche zu jenen (anderen) deutschen Firmen, die Giftgas in die Vernichtungslager geliefert hatten, gezogen.

Dies ist die Geburtsstunde dessen, was später zur zentralen „antideutschen“ Ideologie gerinnen sollte. Angesichts der noch frischen Warnungen vor dem «Vierten Reich» - die staatliche Vereinigung von BRD und DDR, im Oktober 1990, lag zum Zeitpunkt des Golfkriegs nur drei Monate zurück – schienen diese lauten Vorwürfe nun die Wiederkehr des historischen Monstrums zu bestätigen. Eine Assoziationskette war schnell gesponnen, an der damals einige Beiträge in der taz (namentlich von dem Historiker Götz Aly) sowie der Zeitschrift ‚KONKRET’ (ab ihrer Ausgabe 03/1991) mit strickten: Deutschland findet zu seiner Vergangenheit zurück; Deutschland hat dem Irak Giftgas geliefert; das irakische Regime möchte Israel auslöschen und bereitet sich darauf vor; zugleich gehen in Deutschland Hunderttausende Menschen gegen die Bombardierung des Irak auf die Straße. Klar war damit scheinbar folgendes: Hitlers langer Arm macht nun seine Pläne zur Ausrottung der Juden mittels Gasmord wahr. Ähnlich, wie viele Deutsche nach 1945 nur an die Opfer der Bombardierung Dresdens dachten und daher sich selbst und ihre Nation zum angeblichen Opfer des Zweiten Weltkriegs stilisierten, ist auch dieses Mal die Empörung über die Bombenteppiche nur die Ablenkung vom wahren Verbrechen (wie damals vom Holocaust). Die deutschen Massen sind, einmal mehr, Komplizen eines schnauzbärtigen Diktators, der vom Ende der Juden träumt.

In Wirklichkeit waren die Dinge nicht ganz genauso miteinander verkettet, wie man es wahrhaben wollte. Tatsächlich hatten deutsche Firmen (neben französischen und US-amerikanischen Unternehmen oder staatlichen Institutionen) in den 80er Jahren an der Aufrüstung des Irak, auch im nicht konventionellen Bereich, mitgewirkt. Aber diese Aufrüstung hatte nicht zum Zweck, einen Angriff auf Israel zu ermöglichen, sondern erfolgte im Rahmen des Krieges zwischen dem Irak und dem Iran. Dieser mörderische Krieg, der von 1980 bis 88 dauerte, wurde durch fast alle führenden Industrieländer mit massiven Waffenlieferungen (oft an beide Seiten, wie im Falle der Bundesrepublik, während Frankreich «einseitig» den Irak ausrüstete) unterhalten. Trug er doch dazu bei, die eigene Konjunktur zu unterstützen, aber auch zwei Regionalmächte zu schwächen, die OPEC zu spalten und den Ölpreis (der 1985/86 sein historisches Rekordtief erreichte) damals in den Keller rutschen zu lassen. Eine Kriegsführung des Irak gegen Israel lag zu jener Zeit nicht im Bereich des Denkbaren, und es hätte auch nicht im Interesse der US-Administration gelegen, die ihrerseits ebenfalls massiv an der damaligen Aufrüstung des Irak – auch im Bereich der bakteriologischen Kriegführung, wie die New Tork Times im August 2002 ausführlich berichtete - beteiligt war. Und schließlich waren offizielle deutsche Stellen am Jahresanfang 1991, zum Zeitpunkt des Krieges, längst auf einen Kurs der Unterstützung Israels und der Befürwortung des US-Krieges gegen den Irak eingeschwenkt.

Zunächst hatte die Führung des wiedervereinigten Deutschland gar eigene Ambitionen zur militärischen Teilnahme an dem Konflikt angemeldet: Der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) schickte sich etwa im Oktober/November 1990 dazu an, 72 Tornado-Kampfflugzeuge der Bundeswehr auf die NATO-Basis Incirlik im Südosten der Türkei zu verlegen. Also in die Nähe des absehbaren Kriegsschauplatzes, und eventuell in Reichweite irakischer Raketen. Doch die Ambitionen der Bundesrepublik, die soeben mit dem Zwei-plus-Vertrag frisch ihre volle staatliche Souveränität zurück erlangt hatte, wurden durch ihre westlichen Bündnispartner ausgebremst: Einer allzu schnellen Ausweitung des militärischen Aktionsradius der Bundeswehr mochten diese nicht zustimmen. Der Kohl-Regierung wurde beschieden, man habe sie nicht um militärische Hilfe gerufen. Dass Ende Januar 1991 in Deutschland die Diskussion aufflammte, ob man nicht militärisch dem bedrohten Israel zu Hilfe kommen müsse (konkret aufgehängt an der Aufforderung, Abwehrraketen vom Typ ‘Patriot' aus Bundeswehrbeständen zu liefern), verschaffte vielen deutschen Politikern einen moralisch blütenweißen und von „historischer Sensibilität“ zeugenden Vorwand, um eine stärkere Rolle Deutschlands wieder ins Gespräch zu bringen. Ein SPD-Politiker, der damalige Wiesbadener Oberbürgermeister Achim Exner, wollte gleich die Bundeswehr nach Israel entsenden, wurde aber zurückgepfiffen, zumal man das dort gar nicht gefordert hatte. Ein Bundeswehrgeneral, Reinhard Schmückle, der dem damaligen CSU-Chef F-J. Strauß nahe stand, bezeichnete die Präsenz der Bundeswehr im türkischen Incirlik – die auf ein paar kleinere Flugzeuge vom Typ ‘Alpha-Jet' hatte abgespeckt werden müssen, nachdem die Verbündeten keine Tornados der Bundeswehr anfordern wollten – als „praktische Trauerarbeit und Vergangenheitsbewältigung“. So ging nationaler Wiederaufstieg im Jahr 1991, und an dem Grundmuster hat sich seither wohl nicht so sehr viel geändert. 

Aber die Gründer der neuen ideologischen Strömung hinderte das nicht daran, ein anderes Szenario aufzumachen: Das „Vierte Reich“ agierte doch sichtbar, im Schatten des Golfkonflikts, verborgen hinter den Umrissen der irakischen Diktatur, die mit massenhafter Komplizenschaft der (friedensbewegten) Deutschen auf den Straßen agierte. Die militärischen Angebote an die westlichen Mächte hinter den USA dienten nur zur Täuschung, waren aber ein durchsichtiges Manöver. Anlässlich einer Diskussion mit mehreren AutorInnen, die in Konkret 06/1991 publiziert wurde, vertraten mindestens anderthalb - Eva Groepler und, zögernd, auch Hermann L. Gremliza - implizit oder explizit die Auffassung, Deutschland sei in Wirklichkeit „wenn Kriegspartei, dann auf der Seite des Irak“ gewesen. Das Bündnis Radikale Linke (RL) war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits, vor diesem Hintergrund, an massiv gewordenen politischen Widersprüchen zerplatzt. Es hatte die Herausgebe seiner „Flugschrift“ zum Golfkrieg, die zum 1. März 1991 erschienen war, nicht überlebt: Zwischen Kriegsbefürwortern im Namen des Antifaschismus und Anti-Antiantisemitismus einerseits und KriegsgegnerInnen anderseits war die Kluft unüberbrückbar geworden.

War das zum damaligen Zeitpunkt noch eher eine bloße Assoziationskette, die auf nicht allzu viel tiefgreifende theoretische Reflexion abgestützt war, so ging der „harte Kern“ in den folgenden Jahren daran, eine veritable Ideologie darauf zu konstruieren. In «antideutschen» Publikationen wurde diese später allmählich, Zug um Zug, ausformuliert. Seitdem hat sich der Israelkult- und Philosemitismus-Unfug unter (früheren) radikalen Linken ausgebreitet und in ihren Reihen einen veritablen neuen Dogmatismus hervorgebracht, der längst seinerseits seltsame Blüten treibt – vom moralischen Rigorismus junger ex-veganer „Antideutsch-Antifas“ bis zur wahnhaft verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung eines Tjark Kunstreich oder Clemens Heni. Aber dies ist ein anderes Kapitel…

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor.