Was die Linke noch immer vergisst.
Eine feministische Kritik der politischen Ökonomie

von der Autorinnengruppe Feministische Ökonomie

12/10

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„Frauen, denkt ökonomisch!" mahnte die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Fräser 2005. Sie zeigte auf, dass die Analysen und Forderungen der Neuen Frauenbewegung seit den 90er Jahren mar-ginalisiert und von der Wirtschaftswissenschaft nicht anerkannt werden. Gender Studies zählen an den heutigen Hochschulen zu den Cultural Studies und berücksichtigen kaum ökonomische Fragen, obwohl die Ökonomie wesentliche Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse hat. Wir werfen deshalb einen feministischen Blick auf die Volkswirtschaft und die Funktionsweise des kapitalistischen Systems und formulieren feministische Vorschläge jenseits der keynesianischen Vorstellungen vieler Gewerkschaften. Es geht um die bis heute auch in linken Debatten marginalisierten Felder, in denen Wohlstand erzeugt wird: insbesondere die Arbeit in Privathaushalten, die unbezahlte oder bezahlte Hausarbeit sowie die Betreu-ungs- und Pflegearbeit. Die feministische Ökonomie nimmt diese blinden Flecken der Mainstream-Ökonomie unter die Lupe und integriert die so genannte Reproduktionswirtschaft und Gare-Ökonomie in ihre makro-ökonomische Analyse.

Was ist Wirtschaft und was beinhaltet Care-Ökonomie?

Zweck des Wirtschaftens ist, mit den verfügbaren Ressourcen nachhaltig ein ausreichendes Güterangebot zu schaffen und die Versorgung für alle zu garantieren. Hauptziel der kapitalistischen Ökonomie ist die Akkumulation von Kapital. Die Grundlage dafür, dass überhaupt Kapital akkumuliert und Profite erzielt werden können, ist die so genannte „Reproduktion der Arbeitskraft". Die kapitalistische Ökonomie kann nur funktionieren, wenn diese Leistungen zumindest teilweise in unbezahlter Arbeit erbracht werden. Während sich die Linke noch immer auf die „traditionelle Sozialstaatsdebatte beschränkt" (Madörin 2007, 142) und diese Grundbedingung der Kapitalakkumulation nach wie vor verkennt, integriert die feministische Ökonomie die so genannte Reproduktionswirtschaft und Care-Ökonomie in ihre makro-ökonomische Analyse.

Unter Care-Arbeit versteht die feministische Ökonomie alle unbezahlten und bezahlten Arbeiten(1) für die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Erwachsenen sowie die Hausarbeit für abhängige wie arbeitsfähige Personen(2) (Madörin 2007, 142/143). Arbeiten also, die das Überleben und das tägliche Wohlbefinden von Menschen gewährleisten. Sie sind die Voraussetzung für die Produktion von Gütern sowie für guten Lebensstandard und gesellschaftlichen Wohlstand. 2004 wurden in der Schweiz 53 Prozent der Bruttowertschöpfung im bezahlten Sektor erwirtschaftet, enorme 47 Prozent im unbezahlten Sektor (Schätzung aufgrund von Daten des Bundesamtes für Statistik; Madörin 2007, 144 u. 2010). Fast die Hälfte der in der Schweiz geleisteten Arbeit wird also unbezahlt erbracht.

66 Prozent der unbezahlten Arbeit werden aktuell von Frauen geleistet (Madörin 2010, 7). Das Verhältnis von unbezahlter zu bezahlter Arbeit beträgt bei Frauen 2:1, bei Männern ist es genau umgekehrt. Die Bruttowertschöpfung der unbezahlten Frauenarbeit beträgt etwa 30 Prozent, die des gesamten Banken- und Versicherungssektors hingegen lediglich 9 Prozent (Madörin 2007, 145). Würden Frauen ihre unbezahlte Arbeit nur um 10 Prozent kürzen, hätte dies dieselbe Auswirkung auf das Bruttoinlandprodukt wie die Schliessung sämtlicher Einrichtungen des bezahlten Gesundheits- und Sozialwesens (Madörin 2007, 145).

Würde die unbezahlte Care-Arbeit mit einem marktgängigen Lohn entgolten, betrügen die Steuereinnahmen der Schweiz etwa 108 Milliarden Franken. Gegenwärtig betragen sie (inkl. Ertrags und Kapitalsteuern) rund 60 Milliarden Franken (Madörin, 2010, 16). Wäre die unbezahlte Arbeit marktüblich bezahlt, liesse sich aus deren Steuereinnahmen die gesamte Care-Arbeit komfortabel finanzieren. Die Kosten für das gesamte Gesundheits- und Sozialwesen machen nur gerade drei Prozent des erweiterten BIP aus (Madörin, 2007, 145). Dem Staatshaushalt entgehen so ungeahnte Möglichkeiten zur Finanzierung des Service public. Die Schweizer Staatsquote befindet sich im europäischen Vergleich mit 2l Prozent am untersten Rand (Madörin, 2007, 145).

Eine gewisse Umverteilung der unbezahlten Arbeit findet zwar statt, jedoch nicht von Frau zu Mann, sondern von Frau zu Frau: Immer öfter übernehmen Migrantinnen in prekarisierten oder illegalisierten Arbeitsverhältnissen Haus-, Pflege-und Betreuungsarbeiten.

Divergierende Produktivitäten: ökonomische Dynamiken als Ursache der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie

Die für die Erzielung wirtschaftlicher Profite zentrale Steigerung der Arbeitsproduktivität brach Mitte der I970er-jahre aus verschiedenen Gründen ein. Der Ökonom Jochen Hartwig hält in Anlehnung an William J. Baumols Modell des „unbalancierten Wachstums" fest, dass der tendenzielle Rückgang des Wirtschaftswachstums „fundamental produktionstechnische Ursachen" hat, d.h. die technischen Rationalisierungsmöglichkeiten sind allmählich ausgeschöpft (Hartwig 2005). Die ökonomische und neoklassische Markttheorie besagt aber unbeirrt, dass sich die Löhne automatisch an die Arbeitsproduktivität (und Nachfrage) anpassen, d.h. je rationeller produziert wird, desto mehr kann verkauft werden, desto höher wiederum sind die Löhne. Diese Marktlogik hat fatale Folgen für die Geschlechterverhältnisse im Allgemeinen und die Entwicklung der Löhne im Besonderen.

Das Konzept des Ernährerlohns der 50er Jahre hat sich überlebt. Mit der nachlassenden Produktivitätssteigerung in der Industrie und den damit sinkenden Löhnen reichte ein Lohn pro Haushalt nicht mehr. Die Teil-Technisierung der Hausarbeit, die Erosion der Attraktivität der Kleinfamilie und gesellschaftliche Individualisierungsprozesse trugen weiter dazu bei, dass mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt stiessen. Dabei fand eine Verschiebung von „nicht-marktvermittelten Gare-Tätigkeiten hin zu markt- und vor allem staatsförmigen, bezahlten Gare-Lohnarbeiten statt" (Chorus 2007, 209/210). Einerseits muss-ten nun Tätigkeiten, die Frauen zuvor als Gratis-Arbeit geleistet hatten, bezahlt werden (Hausarbeit, Kinderbetreuung, Pflege für Familienangehörige und die Herstellung von (Fertig-) Mahlzeiten), andererseits sollten diese notwendigen Dienstleistungen aber trotzdem für die ganze Bevölkerung erschwinglich bleiben. Mascha Madörin führt in ihrer Studie zur Gare-Ökonomie der Schweiz (Madörin 2008, 22-24) aus, dass
in arbeitsintensiven Bereichen wie beispielsweise dem Gesundheitssektor Leistungen unabhängig von den realen Kosten immer allen Menschen zur Verfügung stehen müssen. Der Zeitaufwand für die Erbringung von personenbezogenen Dienstleistungen ist meist nicht reduzierbar. Er lässt sich durch den Einsatz von Maschinen oder technischer Neuerungen nicht steigern wie es im Fabrikbetrieb der Fall ist. Effizienz führt nicht unbedingt zu Effektivität, was im Begriff „divergierende" (auseinanderdriftende) Produktivitäten gefasst wird. Denn „Gare ist nicht die Produktion eines Produktes (Subjekt-Objekt-Verhältnis), sondern die Entwicklung einer Beziehung (ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis)", wie Silke Chorus schreibt (2007, 205). In allen Branchen - auch im Gare-Bereich - wird dennoch der gültigen ökonomischen Logik entsprechend laufend Optimierung, sprich Erhöhung der Arbeitsproduktivität angestrebt. So entsteht die Kostenkrankheit („Cost disease"), wie sie der US-amerikanische Ökonom William J. Baumol bereits in den 1960er Jahren voraussagte.(3) Deren genuin ökonomische Logik jedoch ignorieren Ökonominnen und Politikerinnen, die behaupten, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen und die steigenden Staatsausgaben seien eine vermeidbare Ursache der gegenwärtigen Wachstumsschwäche. Verkannt wird, dass die angebliche Kostenexplosion nicht auf eine Verteuerung der Leistungen zurückzuführen ist, sondern lediglich darauf, dass ihre Kosten in Folge ihrer geringeren Fähigkeit zur Produktivitätssteigerung nicht gleich stark gesunken sind wie die Kosten in der Güterproduktion. Verschärfend kommt hinzu, dass infolge der erhöhten Erwerbstätigkeit von Frauen die Nachfrage nach Gare-Dienstleistungen laufend steigt, also genau in dem mit der „Kostenkrankheit" befallenen Lohnsegment.

Berufssparten, die kaum wertschöpfend sind, weil darin die Produktivität nicht in dem Masse gesteigert werden kann wie in der Güterproduktion, weisen deshalb in der Regel auch ein geringeres Lohniveau auf. Solange sich die Lohnhöhe an der monetären Wertschöpfung, d.h. der Kapitalakkumulationsquote, orientiert, so lange bleiben personenbezogene Dienstleistungen strukturell bedingt tief bezahlt. Die klassische Orientierung gewerkschaftlicher Lohnpolitik an Produktivitätsentwicklung und Inflationsrate greift somit zu kurz. Wo sich kein Kapital akkumulieren lässt, braucht es andere gesellschaftliche Lösungen.

Seit dem Fordismus(4) hat sich die Gesamtarbeitszeit pro Haushalt erhöht; zusätzlich zu den fast gleich gebliebenen Hausarbeitsstunden leisten heute die meisten Frauen viele Erwerbsarbeitsstunden. Die neoliberale Ideologie, die jede zu ihrer eigenen Lebensunternehmerin macht, individualisiert jegliche Mehrfachbelastung. Sie negiert das aufgrund der divergierenden Produktivitäten zwangsläufig entstehende strukturelle Problem (und die ausgeschöpfte Rationalisierbar-keit im ohnehin kleiner werdenden Industrie-Sektor(5). Dass die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie eine Folge der Kapitalakkumulationsprobleme, also ökonomischer Dynamiken ist, wird weder als ökonomisches noch als politisches Thema behandelt. Vielmehr wird diese Tatsache in schönen Begriffen wie „Work-Life-Balance" verschleiert und ans Individuum delegiert: Mit effizienter Organisation soll frau ihren Alltag durchstrukturieren, ja selbst im so genannten Freizeitbereich ihre Produktivität „freiwillig steigern". Dies wirkt sich auch fatal auf politische Mobilisierungsmöglichkeiten aus. „Der desorganisierte Kapitalismus macht aus Scheisse Gold, indem er über die neue Geschlechtergerechtigkeit fabuliert und darüber, wie herrlich weit die Frauen es doch gebracht hätten." (Fräser 2009, 52)

Andere Verteilungskämpfe um andere Güter

Während die traditionelle Gewerkschaftspolitik des Fordismus auf die Verteilung von Gütern konzentriert war, stehen wir vor einer grundlegend neuen Situation. Umkämpft sind heute in industrialisierten Ländern weniger materielle Güter, sondern personenbezogene, bezahlte wie unbezahlte Dienstleistungen, die Gare-Arbeit. Besonders ungleich verteilt sind dabei die zeitliche Arbeitsbelastung und deren Entlöhnung. Für die Gewerkschaften stellt sich hier das Problem, dass dieser Kampf oft nicht als Kampf um ein dem Kapital abgetrotzter Mehrwert erscheint, weil es für die Beteiligten wenig evident ist, was ihre permanente Zeitnot mit den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals zu tun haben soll. Es wäre eigentlich Aufgabe der Gewerkschaften, genau dies verständlich zu machen, ihre traditionelle Politik konzentriert sich jedoch meist auf Erwerbsarbeit und betrachtet den Rest als Frage der Umverteilung im Sinne einer Abfederung der Härten der kapitalistischen Produktion.

Heute sind in zentraleuropäischen Ländern etwa ein Viertel aller in Lohnarbeit erstellten Produkte personenbezogene Dienstleistungen (Madörin 2008, 27) und dieser Anteil steigt laufend (Madörin 2007, ISO und 2010). Diese Dienste lassen sich infolge der beschriebenen ökonomischen Dynamiken nicht innerhalb der kapitalistischen Logik herstellen — oder nur um den Preis eines massiven Lohndumpings oder einer ebenso massiven Verteuerung dieser Leistungen, die sie für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich machen würden. Angesichts dieser Tatsachen handelt es sich hierbei nicht mehr um eine Frage der Umverteilung und somit auch nicht einfach um eine Frage des Sozialstaates. Vielmehr sind von diesem Problem nicht bloss ärmere Bevölkerungsschichten, sondern die grosse Mehrheit der Bevölkerung betroffen. Aus einer links-feministischen Perspektive brauchte es deshalb eine grundsätzliche Neuorganisation des Verhältnisses zwischen kapitalistischer Güterproduktion und der im Rahmen kapitalistischer Produktion kaum mehr organisierbaren Bereitstellung personenbezogener Dienstleistungen, die - bezahlt und unbezahlt zusammen - weit mehr als die Hälfte des gesamten Wirtschaftens ausmachen. Die Versorgung mit Gare-Dienstleistungen stellt deshalb heute einen neuralgischen Punkt in der Auseinandersetzung mit den Kapitalinteressen dar.

Es ist ein grundsätzliches Spannungsverhältnis hoch entwickelter kapitalistischer Gesellschaften, dass nur der Bereich der Produktion von Gütern und Dienstleistungen für die Kapitalakkumulation von Interesse ist, gleichzeitig aber der Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen am meisten wächst — und damit notwendig mit den Interessen der Kapitalakkumulation kollidiert, da er sich im Wesentlichen über die Abschöpfung eines Teiles der in der Produktion erzielten Profite finanzieren muss.

Wenn für das Spannungsverhältnis zwischen der Produktion von Gütern und der Produktion von personenbezogenen Dienstleistungen keine befriedigende Lösung gefunden wird, führt dies zu verschärften Formen der Ausbeutung. Diese Dienste, die letztlich privatwirtschaftliche Kapitalakkumulation überhaupt erst ermöglichen, werden immer mehr unter versteckten ausbeuterischen Verhältnissen hergestellt.

Wirtschaftspolitische Wende: personenbezogene Dienstleistungen statt Autos für alle

Grundsätzlich ist die Annahme falsch, dass Wirtschaftswachstum allen zugute komme, und zu mehr sozialer wie Geschlechtergerechtigkeit führe(6). Höhere Produktivität, die für die Kapitalrenditen interessant ist, hat historisch gesehen oft zu vermehrter Armut geführt und nicht wie behauptet, zu Wohlstand (Madörin 2010). Es ist also jeweils sehr genau zu klären, welche Sektoren wachsen und ob sie privatwirtschaftlich organisiert sind oder von der öffentlichen Hand finanziert werden.

Die Wirtschaftszweige, die personenbezogene Dienstleistungen anbieten, haben heute das grösste Wachstumspotenzial.(7) Gleichzeitig sind dies jene Branchen, in denen keine Profite für die Privatwirtschaft zu erzielen sind. Für eine linksfeministische Wirtschaftspolitik heisst das die Notwendigkeit einer massiven Erhöhung der Staatsquote. Nur so kann verhindert werden, dass sich ein neuer Niedriglohnsektor festigt bzw. sich der informelle Arbeitsmarkt für illegali-sierte Migrantinnen, vorab Frauen, weiter ausdehnt. Ansonsten droht eine massive Unterversorgung mit Care-Leistungen für breite Bevölkerungsschichten.

Um die Kaufkraft der Leute und damit die Binnennachfrage zu heben, schafft der Staat traditionellerweise mittels eigener Investitionen Arbeitsplätze in der Konsum- und Güterindustrie. Keynes ging in den 1930er Jahren von einer Binnennachfrage aus, die allerdings für globalisierte Länder wie die Schweiz nicht mehr gegeben ist: Die Güterindustrie in der Schweiz produziert heute mehrheitlich fürs Ausland, während viele Güter aus dem Ausland importiert werden. Angebot und Nachfrage sind wesentlich globalisiert. Die einzige nach wie vor steigende Nachfrage im Inland ist die nach Gare-Dienstleistungen, welche lokal erbracht werden müssen. Deshalb haben staatliche Konjunkturprogramme primär hier anzusetzen: Es müssen Arbeitsplätze in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales geschaffen werden statt in der Konsum- und Güterindustrie. Dies umso mehr, als diese Sektoren aus den erwähnten Gründen privatwirtschaftlich nicht sozial und nachhaltig angeboten werden.

Die Kaufkraft der Menschen kann jedoch nicht nur über Arbeitplatzbeschaffung, sondern auch über die staatlich geförderte Vergünstigung von Gare-Dienstleistungen gesteigert werden. Wer viel Geld für teure Gare-Dienstleistungen ausgegeben muss, der/dem steht dieses Geld nicht mehr für Güter- und Freizeit-Konsum zur Verfügung. Dieses Verhältnis von Staatshaushalt und Privathaushalt wird in der linken Politik vernachlässigt, die am Neoliberalismus vorrangig das Verhältnis von Privatwirtschaft und Staat thematisiert. Es ist jedoch für die Situation von Frauen entscheidend: In der Regel führt eine hohe Staatsquote zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Erwerbsarbeit, indem hohe Steuern als eine Art Umverteilung von wertschöpfungsstarken zu wertschöpfungsschwachen Berufssegmenten fungieren - und dabei gleichzeitig Frauen von Gratisarbeit entlasten.(8)

Auch kollektive oder staatliche Anbieter von Gare-Dienstleistungen können dem Mythos der Möglichkeit zur Effizienzsteigerung im Bereich des Gesundheitswesens aufsitzen. Mana-ged Gare Modelle (SBG) oder das „Modell der Persönlichen Gesundheitsstelle PGS" (VPOD) sehen das Problem der steigenden Kosten im Gesundheitswesen lediglich in den Kosten für Arztkonsultationen und medizinische Untersuchungen. Der Umstand, dass es primär die Pflege ist, die zur Kostensteigerung im Gesundheitswesen beiträgt, und dass man diesen Sachverhalt aus ökonomischen Gründen ohne massiven Lohndruck nicht ändern kann, wird nicht gewürdigt. Stattdessen wird etwas unklar von Qualitätsmanagement oder einem ändern Umgang mit den technischen Entwicklungen gesprochen (vgl. Ringger 2005, 56: VPOD 2005, 21 f.; SGB 2007, 27-29; VPOD 2008). Sowohl das Managed Gare Konzept als die PGS resultieren in eine evidence-based medicine. Hier besteht die Gefahr einer McDonaldisierung von medizinischen Leistungen, da eine Standardisierung von Behandlungsabläufen der Komplexität und Individualität von Krankheitsprozessen nicht Rechnung tragen kann.

Steuersenkungen sind auch innerhalb der vorherrschenden kapitalistischen Logik irrational, weil damit im Endeffekt die Kaufkraft der Leute sinkt - und nicht steigt, wie uns marktgläubige Wirtschaftspolitikerinnen gerne weismachen wollen.
Der wertschöpfungsschwache Gare-Bereich weist geringere Löhne auf. Da Frauen hier ungleich stärker vertreten sind als Männer (Madörin 2007, 146-148 und 2008, 34/35), kann nur eine über Steuern erfolgte Umlagerung von wertschöpfungsstarken zu wertschöpfungs-schwachen Berufssparten Abhilfe schaffen und zu einem allgemeinen Anheben des Anteils von Frauen am gesamten Lohnerwerbsvolumen beitragen.

Um das Problem der divergierenden Produktivitäten nicht noch weiter zu verschärfen, muss ein Teil der Gare-Arbeit unbezahlt bleiben. Solange es jedoch unbezahlte Arbeit gibt, muss diese gerecht verteilt werden. Deshalb ist eine massive Erwerbsarbeitszeitverkürzung für alle und keine Rentenalterserhöhung für Frauen angezeigt.

Es müssen Instrumente zur sozialen Absicherung für Menschen in prekarisierten Arbeitsverhältnissen gefunden und über Möglichkeiten ihrer Organisierung nachgedacht werden. Vorrangig müssen illegalisierte Arbeitsverhältnisse von Hausangestellten, Pflege- und Betreuungspersonal in Privathaushalten über die Regularisie-rung ihres Aufenthaltsstatus' verbessert werden.

Unbezahlte Arbeit muss sozialversicherungswirksam werden. Sozialversicherungen sind mit Erwerbsarbeit verknüpft. Gute Leistungen erhalten ausschliesslich Personen mit hohem Einkommen. Hingegen sind Personen, welche unbezahlt Haushaltarbeit, Pflege oder Betreuung leisten, kaum oder sehr schlecht versichert; bspw. erhalten sie die minimale AHV- oder IV-Rente und keine Pensionskassenrenten. Ausser-dem sind bei Ausfällen einer gratis arbeitenden Person im Unfall- oder Krankheitsfall Versicherungen nicht gesetzlich geregelt (Bsp. Einzelkran-kentaggeld-Versicherung ist nicht obligatorisch im Unterschied zum UVG).

Alle Massnahmen zur Wirtschaftsankurbelung müssen auf deren Auswirkungen auf das
Geschlechterverhältnis hin untersucht werden. In internationalen Frauennetzwerken wie UNIFEM(9) wurden dazu Leitfäden ausgearbeitet, die verwendet werden können. Die Schweiz sollte zur Anwendung von Gender Budgeting bei Konjunkturprogrammen verpflichtet werden.

Kontrovers diskutierte Fragen, die noch keine abschliessende Antwort gefunden haben

Wollen wir als Feministinnen tatsächlich einen starken Staat fordern, den wir einst in der Frauenbewegung, auch wegen seiner Tendenz zur Bevormundung und wegen dem Problem der Bürokratisierung, heftig kritisierten (Stichwort: Väterchen Staat)? Doch wer sonst soll Gare-Dienstleistungen bereit stellen und deren Zugänglichkeit für alle garantieren?

Dient die Fokussierung auf eine nationalstaatliche Gesamtrechnung, in die auch die Satellitenkonti(10) der unbezahlten Arbeit integriert werden sollen, nicht dazu, die globale Ungleichheit weiter aus dem Blickfeld zu verlieren oder ihr sogar zuzudienen? Und wie verhält sich dies zur Tatsache, dass Gare trotz aller Globalisierung immer in irgendeiner Weise territorial organisiert werden muss, was wiederum eine ökonomische Gesamtrechnung, die am Nationalstaat orientiert ist, erforderlich macht?

Gender Mainstreaming führt - entgegen seinem ursprünglichen Anliegen - in seiner Umsetzung in der Gleichstellungspolitik oft zu einer Kulturalisierung und Individualisierung ökonomischer Problemlagen, indem bestehende Ungleichheiten auf bestimmtes Rollenverhalten zurückgeführt werden. Sitzen wir hier erneut einem neoliberalen Credo auf, das ökonomische Problemlagen am liebsten so rahmt, dass sie individuell handhabbar erscheinen - womit die Gleichstellung zu einer Aufgabe wird, die jede Frau selber für sich zu lösen hat? Wie gehen wir mit dem Paradox um, dass im Rahmen der offiziellen Gleichstellungspolitik aus der Frauenbewegung zu bewegende Frauen geworden sind?

Literatur

Bundesamt für Statistik. Thema Unbezahlte Arbeit.

http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/20/04.html

Chorus, Silke (2007): Who Gares? Kapitalismus, Geschlechterverhältnisse und Frauenarbeit. Regulations-theoretische Sehkorrekturen. In: Feministische Studien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, Jg. 25, Nr. 2, 202-216.

Donath, Susan (2000): The Other Economy. A Suggestion for a Distinctively Feminist Economics. In: Feminist Economics, Jg. 6, Heft 2, 141-162.

Fräser, Nancy (2005): Frauen, denkt ökonomisch! taz Nr. 7633 vom 7.4.2005.

Fräser, Nancy (2009): Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 54/Heft 8, 43-57.

Hartwig, Jochen (2005): Sind unsere gesamtwirtschaftlichen Probleme überhaupt lösbar? Arbeitspapier 112 der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, http://www.keynes-gesell-schaft.de/pdf/downloads/HagemanngesamtwirtschaftlicheProbleme.pdf

Madörin, Mascha (2001): Gare Economy- ein blinder Fleck der Wirtschaftstheorie. In: Widerspruch 40, 41-46.

Madörin, Mascha (2007): Neoliberalismus und die Organisation der Gare-Ökonomie. In: Denknetz Jahrbuch 2007: Zur politischen Ökonomie der Schweiz. Eine Annäherung, 141-162.

Madörin, Mascha, (2008): The Political and Social Economy of Gare. Switzerland. Research Report I. UNRISD-Studie zu Gare, Manuskript, Münchenstein/Genf.

Madörin, Mascha (2010): Feministische Ökonomie. Drei Unveröffentlichte Skripte. Zürich: Feministisches Leseseminar des Frauenforums VPOD Zürich, April 2010.

UNRISD: United Nations Research Institute for Social Development (2005): Gender Equality. Striving for Justice in an Unequal World

Anmerkungen

1) Wo nur die bezahlte Care-Arbeit gemeint ist, bevorzugen wir im Folgenden den in der feministischen Ökonomie ebenfalls gebräuchlichen Begriff der „personenbezogenen Dienstleistungen",
2) Ob auch so genannte Selbstarbeit wie sich waschen oder mobil sein dazuzuzählen ist, bleibt umstritten. Im Krankheitsfall jedoch müssten sie von jemand anderem verrichtet werden, würden also folgerichtig unter den Begriff „Arbeit" fallen und somit zur Makro-Ökonomie zählen.
3) Madörin 2008,149-151 und Donath 2000,118.
4) Mit Fordismus ist das „goldene Zeitalter" des Kapitalismus in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis Mitte der 1970er Jahre gemeint. Während dieser Zeit konnte das Kapital sowohl hohe Profite erzielen als auch gleichzeitig einen bescheidenen Wohlstand für viele schaffen und somit eine gewisse soziale Befriedung herstellen. Postfordismus bezeichnet die Zeit nach 1975, die von Krisen der Kapitalakkumulation und dem Versuch, die Profitabilität des Kapitals wieder herzustellen, gekennzeichnet ist.
5) Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die grossen Unterschiede der geleisteten Jahresstunden an Erwerbsarbeit von Land zu Land. Im europäischen Vergleich leisten Schweizerinnen und Schweizer am meisten Erwerbsarbeit. So sind es in der Schweiz 1'000 Stunden, in Deutschland 830 und in Frankreich 540 Stunden (Madörin, 2008,18).
6) UNRISD: United Nations Research Institute for Social
Development (2005): Gender Equality. Striving for Justice in an Unequal World, Chapter 3 and Chapter 5.
7) Madörin weist darauf hin, dass zwischen 1991 und 2007 47% aller Arbeitsplatzzunahmen in den klassischen Branchen der bezahlten Gare-Arbeit anfielen, nämlich im Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialwesen. Demgegenüber war die Zunahme der Arbeitsplätze im Finanzsektor in derselben Zeitspanne nur sehr gering (Madörin 2008, 31).
8) Es ist also nicht nur die Höhe des Salärs, das ich nach Abzug der Steuern in der Tasche habe, das für den Lebensstandard ganz entscheidend ist, sondern auch, was ich damit kaufen muss und zu welchem Preis (Madörin 2010).
9) http://www.gender-budgets.org/index.php?option=comjoomdoc&task=cat_view&gid=180&ltemid= 189
10) Damit bezeichnet man das erweiterte Bruttoinlandprodukt, in dem auch die unbezahlte Arbeit, in ihrem angenommenen monetären Wert berechnet, mit enthalten ist.


Editorische Anmerkungen

Autorinnengruppe Feministische Ökonomie Silvia Amsler, Iris Bischel, Diana Hornung, Bea Rüegg, Katja Schurter, Tove Soiland, Magda Vogel. Sie sind Teilnehmerinnen des Lese-Seminars „Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus", das die Gewerkschaft VPOD Zürich im Wintersemester 09/10 unter der Leitung von Tove Soiland angeboten hat. Mascha Madörin hat an drei zusätzlichen Seminarabenden referiert und freundlicherweise verschiedene Manuskripte zur Verfügung gestellt.

Dieser Text erschien in gekürzter Fassung in: Denknetz-jahrbuch „Zu gut für den Kapitalismus" (2010). Zürich: edition 8. Wir luden ihn von der Website http://www.denknetz-online.ch und konvertierten ihn nach HTML.

Care-Arbeit stand im Zentrum der Frauenkonferenz der Gewerkschaft VPOD, die am 12. und 13. November in Lausanne stattfand: einerseits die Vereinbarkeit von Erwerbs- und unbezahlter Care-Arbeit, anderseits die bezahlte Pflegearbeit, in der Migrantinnen eine grosse Rolle spielen. Ihre Arbeit müsse anerkannt und anständig bezahlt werden, fordern die VPOD-Frauen. Ausserdem verabschiedete die VPOD-Frauenkonferenz einen Antrag für eine «Wende zur Care-Gesellschaft» an die VPOD-Frauenkommission. Grundlage des Antrags war der Text "Was die Linke noch immer vergisst." Die Frauenkommission wird beauftragt, am VPOD-Kongress 2011 konkrete Forderungen an den Gesamtverband zu stellen.