Anmerkungen
Selbstausbeutung im Kapitalismus

von Anne Seeck

12/10

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Wie kam es zu den neuen Formen der Selbstausbeutung? Boltanski und Chiapello beschreiben in ihrem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“, dass die neuen sozialen Bewegungen einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung einer neuen Arbeitswelt geleistet haben. Sie unterscheiden zwischen der Künstler- und Sozialkritik, wobei die Künstlerkritik vom Kapitalismus aufgesogen wurde.

1) Der neue Geist des Kapitalismus

Die Sozialkritik

Zuerst wurde im Westen auf die Sozialkritik reagiert, mittels Sicherheitsgarantien, Verträgen und Kooperatismus, womit der Klassenkampf befriedet wurde. Kapitalismus wurde als Quelle der Armut in der Arbeiterschaft und als Quelle von Ungleichheit kritisiert. Arbeiter bedienten sich der Sozialkritik. Die Sozialdemokratie und der Sozialstaat als Partner des Kapitalismus verbürgerlichten und integrierten die Arbeiterklasse und machten sie damit gefügig. Die Sozialkritik wurde schließlich in die Rumpelkammer der Geschichte verbannt.
Was waren die Gründe für das Verstummen der Sozialkritik? Durch den Kooperatismus, das Co-Management und das Missmanagement der Gewerkschaften begann eine Abkehr von den Gewerkschaften. Die Mitgliederzahlen sanken. Dem aufgeblähten Gewerkschaftsapparat stand eine geringe Kampfbereitschaft gegenüber. Und auch die sozialen Klassen wurden in Frage gestellt. Sie verschwanden aus dem Bewußtsein.

Die Künstlerkritik der 68er

Während der Studentenbewegung im Westen (als auch bei der DDR-Subkultur) rückte die Künstlerkritik in den Mittelpunkt. Die Künstlerkritik spiegelt das Leben der Boheme wieder, dabei werden die in der Gesellschaft dominierenden Werte radikal in Frage gestellt. Erich Mühsam schreibt über die Boheme, dass „Boheme die gesellschaftliche Absonderung künstlerischer Naturen sei, denen die Bindung an Konventionen und die Einfügung in allgemeine Normen der Moral und der öffentlichen Ordnung nicht entspreche...Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium für die Boheme, sondern Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen.“ Es gehe nach Mühsam aber nicht nur um die „Führung des eigenen Lebens in größtmöglicher Ungebundenheit“, sondern auch um die „Arbeit für die soziale Befreiung aller“..
Die Künstlerkritik kritisiert den Kapitalismus als Quelle der Entzauberung und der fehlenden Authentizität der Dinge, Menschen, Gefühle und Lebensformen. Und sie kritisiert den Kapitalismus als Quelle der Unterdrückung. Er beeinträchtige Freiheit, Autonomie und Kreativität.
Seit Mitte der 70er Jahre nach der Studentenbewegung und dann mit den neuen sozialen Bewegungen ging es um die Künstlerkritik. Reaktion auf die Künstlerkritik war, dass die Autonomieforderungen als berechtigt anerkannt wurden. Sicherheit wurde gegen Autonomie eingetauscht. Flexibilität und Eigenverantwortung waren jetzt die neuen Stichworte. „Man tauschte Sicherheitsgarantien gegen Autonomie. Das ebnete einem neuen kapitalistischen Geist den Weg, der Mobilität und Anpassungsfähigkeit preist, während er dem vorangegangenen Geist mehr um Sicherheits- als um Freiheitsbelange zu tun war.“ (Boltanski, Chiapello, S. 255)
Der Kapitalismus vereinnahmte die Ideen derjenigen, die ihn vorher noch bekämpft haben. Der neue Geist des Kapitalismus stützte sich geradezu auf die Künstlerkritik. Er vereinnahmte die Künstlerkritik mit Leichtigkeit. Forderungen nach Autonomie wurden in Unternehmensstrukturen integriert, besonders in die neuen Mangementkonzepte.
Forderungen nach Kreativität stießen auf ein positives Echo. Die Opposition zwischen Geistesleben und Geschäftswelt hatte an Relevanz verloren.

Der Wandel in den 90er Jahren

In den 90er Jahren schien es, als hätten die Emanzipations-, Autonomie- und Authentizitätsforderungen ihre Berechtigung verloren, als seien sie als Werte der Moderne anerkannt. Dagegen gab es eine Zunahme an Unsicherheit und Ungewissheit.
Die Künstlerkritik richtete sich mit ihrer Forderung nach Emanzipation gegen den Traditionalismus und forderte größere Wahlmöglichkeiten. Aber hatte der Mensch jetzt die Wahl? Der Konsument will, was er wollen soll. Er ist Produkt einer Manipulation, der Kaufwunsch wird ständig stimuliert. Es entstanden neue Unterdrückungsformen, die sich vor allem in der neuen flexibilisierten Arbeitswelt manifestieren. Die Künstlerkritik kritisierte aber auch die Standardisierung und Vermassung. Es entstand der Wunsch nach Differenzierung. Der Eindruck der Vermassung wurde durch eine differenzierte Warenpalette abgeschwächt. Güter, die als authentisch galten, wurden in die Marktsphäre einverleibt. (Tourismus, Kulturaktivitäten, Freizeitgestaltung etc.) Authentisches Gut, wie das Kulturwesen, wurden ökonomisiert. Alles wird zur Ware. „Wie will man noch wissen, ob ein Autor ein „echter“ Rebell ist oder nur das Produkt einer „Verlagsstrategie“, ob ein Lächeln, eine freundschaftliche Geste, eine Einladung zum Abendessen Ausdruck spontaner und echt empfundener Symphatie ist oder z.B. auf einem Fortbildungskurs antrainiert wurde, um eine Dienstleistung attraktiver zu präsentieren, oder, schlimmer noch, auf eine Strategie zurückgeht, um Vertrauen zu wecken, Menschen für sich zu gewinnen und so mit größerer Gewißheit rein geschäftliche Interessen zu erreichen?“(Boltanski, Chiapello, S. 482)
Die Künstlerkritik war also nicht ganz unschuldig am Entstehen des neuen Geist des Kapitalismus. Sie wurde vom neuen Geist aufgesogen und schien zufriedengestellt.
Die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung für die einen gingen allerdings einher mit der Ausgrenzung jener, die nicht die Ressourcen haben, um die Chancen zu nutzen.
Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus war der Kapitalismus nicht länger auf ein Bündnis mit dem Sozialstaat angewiesen. Der Kapitalismus stand allein auf dem Feld und es war keine Alternative in Sicht.
Während die Künstlerkritik zur Zeit am Boden liegt, nimmt die Bedeutung der Sozialkritik durch die zunehmende Spaltung der Gesellschaft zu. Ausdruck waren in Deutschland z.B. die Sozialproteste vor Einführung von Hartz IV.

Notwendig ist eine Verknüpfung von Künstler- und Sozialkritik

Es kann aber nur um eine Verknüpfung von Künstler- und Sozialkritik gehen, wenn die Linke wirklich etwas verändern will. Das möchte ich z.B. an der Arbeit festmachen. Es kann heute nicht nur um die Sicherheit des Arbeitsplatzes und Lohngarantien gehen. Sicherheitsgarantien also, die die Sozialkritik fordert. Es geht auch um den Kampf gegen entfremdete Arbeitsbedingungen, für sinnvolle Arbeitsinhalte und Produkte der Arbeit. Und auch wenn das Arbeitsklima selbstbestimmt erscheint, aber die Produkte vorgegeben also fremdbestimmt sind, weil sie profitabel sein sollen, dann ist das auch zu kritisieren. Es geht also nicht um „Hauptsache Arbeit“. Und auch das neoliberale Motto: „Macht was ihr wollt, aber seid profitabel.“ ist abzulehnen.
Boltanski/Chiapello stellen Forderungen auf:
Die Künstlerkritik sollte „die Frage nach Emanzipation und Authentizität neu stellen. Dazu sollte sie von den neuen Formen der Unterdrückung und der Ökonomisierung ausgehen, die sie ungewollt erst ermöglicht hat.“ (S. 507)
Sicherheit ist auch als Emanzipationsfaktor anzusehen. Was die Arbeitsplatzsicherheit stärkt, verschafft Freiräume.
Der Kampf für die Statusverteidigung und -erlangung ist kein Rückzugsgefecht:„Die Erlangung eines Status kann jedoch nur unter zwei Bedingungen eine emanzipatorische Wirkung entfalten. Die erste Bedingung besteht darin, das verbesserte Sicherheitsgarantien nicht zu einer Standardisierung und Dequalifizierung der Arbeitsaufgaben führen dürfen, wie es beim Übergang des Markt- zum fordistischen Kapitalismus der Fall gewesen war...Die zweite Voraussetzung ist, dass der Status nicht in einer Art und Weise verfestigt werden darf, die jede Form der Bewährungsprobe, welcher Natur auch immer, unmöglich macht.“(S. 510f.)

Es kann nur heißen: Kultur- und Sozialkritik vereint als außerparlamentarische Bewegung im Kampf gegen das System und für alternative Gegenentwürfe.

Ein weiteres wichtiges Buch heißt „Mehr Druck durch mehr Freiheit“ von Glißmann und Peters.

2) Mehr Druck durch mehr Freiheit

Das Marktregime produziert ein neues Denken, das immer mehr um die Fragen kreist:
Wie mache ich mich verwertbar, wie verkaufe ich am besten meine Arbeitskraft, habe ich noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt, kann ich mich vielleicht selbständig machen, womit, wo sind meine Kompetenzen, die vielleicht profitabel sind, wie muß ich mich verändern (Stichwort Selbstmanagement), habe ich Beziehungen, wie nutze ich meine Kontakte usw.

Glißmann und Peters unterscheiden die alte und neue Form der Herrschaft.
25% arbeiten unter den neuen Bedingungen, 75% noch unterm alten Kommandosystem, besonders in Niedriglohngruppen.

Die alte Form kennt fast jede/r: ein System von Kontrolle, Befehlen und Anweisungen, ein Kommandosystem, indem es eine Befehlshierarchie gibt und die Menschen den Befehlen gehorchen, sie sind damit fremdbestimmt, solange sie gehorchen. Taylor hatte die Grundüberzeugung, dass der Mensch von einer natürlichen Abneigung gegen die Arbeit bestimmt sei. Aus diesem Menschenbild eines arbeitsunwilligen, lernunwilligen und verantwortungsscheuen Menschen leitet sich ein Führungsstil ab, der auf Überwachung und Kontrolle gründet. Das ist das Prinzip der fordistischen Fabrik.
Die Produktion in der fordistischen Fabrik wurde in linearer zeitlicher Abfolge umgesetzt, in dem japanischen Modell der toyotistischen Fabrik wurde dagegen das Endprodukt zum Ausgangspunkt der Betrachtung.
Die Abteilungen wurden direkt mit den Markterfordernissen konfrontiert. Betriebliche Hierarchieebenen wurden abgebaut. Diese Veränderungen brauchten die Aktivierung der Beschäftigten. Das setzte ein neues Menschenbild voraus. Ein Mensch, der kreativ, lernwillig, kooperationsfähig, eigeninitiativ etc. ist.
Aus diesem Menschenbild entstand auch ein neuer Führungsstil. Die Arbeitnehmer stehen nicht mehr vor dem Problem: Wie werde ich den Erwartungen von Vorgesetzten gerecht? Sondern: Wie befördere ich den Nutzen des Unternehmens?
Während im alten Kommandosystem Disziplin, pünktliche Einhaltung von Arbeitszeiten und genaues Befolgen von Vorschriften verlangt waren, fordern die neuen Mangementmethoden von den abhängig Beschäftigten unternehmerisches Handeln.
Glißmann/Peters sagen: „Anders als die traditionellen Organisationsformen sind die neuen Managementmethoden ...darauf angewiesen, dass keiner der Beteiligten wirklich begreift, was geschieht.“

Der klassische Unternehmer ist gegenüber dem Beschäftigten in der Rolle eines Kommandanten- er steht zwischen dem Beschäftigten und dem Markt. Und was geschieht jetzt beim neuen Herrschaftsystem:

Manöver 1: Der Unternehmer tritt zur Seite, so daß die Belegschaft mit den Rahmenbedingungen des Unternehmens, also mit dem Markt konfroniert ist. Die Arbeitnehmer werden in die Selbstständigkeit unternehmerischen Handelns entlassen.
Manöver 2: Aber der Unternehmer tritt nicht zur Seite, um auf seine Macht zu verzichten, sondern um sie zu festigen und auszubauen. So wie er für die Beschäftigten mehr Leistungsdruck durch Beseitigung von Zwang erreichen will, erstrebt er für sich selbst mehr Macht durch Verzicht auf Kontrolle.
 

Und darum muss Manöver Nr.1 mit Manöver Nr.2 verbunden werden:

Der Unternehmer verwandelt sich aus einer befehlenden und strafenden Instanz in eine Rahmenbedingung für unternehmerisch handelnde Beschäftigte im Unternehmen....
Die Arbeitnehmer werden zu unselbständigen Selbständigen, früher waren sie nur mit dem Kapitalisten konfrontiert, jetzt zusätzlich auch noch mit dem Markt, also dem Kapitalismus. Das nennt sich indirekte Steuerung. Der Abbau des Zwanges wirkt sich als Erhöhung des Leistungsdruckes aus.
Es gilt das Prinzip: „Macht was ihr wollt, aber seid profitabel!“
An die Stelle der Herrschaftsform Hierarchie tritt die Herrschaftsform Person.. Die ganze Person wird der Kapitalverwertung unterworfen.

Was bedeutet der Markt im Kopf? Jegliche Fähigkeit wird im Kopf zur Geschäftsidee umfunktioniert, jede kreative Regung, jeder geistige Blitz wird unter dem Gesichtspunkt betrachtet, kann ich damit was verdienen, auch die Linke ist davor nicht gefeit, kann ich den Text vielleicht als Artikel an eine Zeitung verkaufen, bin ich mit den Buchbeiträgen so auffällig, daß ich noch bei Vorträgen Honorare bekomme, mache ich mich wichtig in der Szene und fällt vielleicht ein Werkvertrag bei einer Stiftung ab usw.
Das ganze Leben wird marktförmig, was nützt mir für das ökonomische Überleben: die Kontakte, das Buch (Lebenslanges Lernen), das Outfit und das FitnessCenter, Anpassung im Team, auch Teamfähigkeit genannt usw. Auch in der Linken weiß man hier oftmals nicht mehr, was ist Idealismus und was zielt darauf hin, sich möglichst gut zu verkaufen, sich bedeutsam zu machen und somit bessere Verwertungs- und Karrierechancen zu haben.
Durch den Sozialabbau müssen sich die Menschen ständig mit ihrer ökonomischen Lage beschäftigen und alle Kraft, Energie, Phantasie, Kreativität für das Aufspüren von Nischen, Ecken, Marktlücken und Scheinchancen aufwenden.

Ist der neue Mensch ein homo oeconomicus?
Der homo oeconomicus ist eine satirische Ableitung vom homo sapiens.
Für den liberalen Vordenker Adam Smith ist der homo oeconomicus die Basis für die Wohlfahrt der Nationen. Der enthemmte Egoismus des Einzelnen führe dazu, dass auch der gesellschaftliche Wohlstand gesteigert wird. Der Ausdruck homo oeconomicus, geprägt von Eduard Spranger in seinem Buch Lebensformen (1914), bezeichnet die behauptete Grundtendenz von Menschen, das Leben nach rein wirtschaftlichen Kriterien auszurichten. Der ökonomische Mensch stellt in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voran.

Auch Peter Hartz malte in seinem Buch "Job-Revolution"(2001) einen neuen Menschen. Für Hartz ist der Mensch eine Maschine, die rund um die Uhr und ihr ganzes Leben arbeiten könnte. Angeblich sei diese Maschine nicht ausgelastet. Die hochtechnologische Produktionsweise brauche den Massenarbeiter nicht mehr, jetzt könne jeder „Unternehmer“ werden.

3) Die Linke und die Selbständigkeit

Die Linke hat ein Problem, ist sie noch glaubwürdig? Der Existenzkampf tobt. In der Linken tummeln sich zumeist unter 30jährige, die studieren und oft nebenher prekär arbeiten. Wer über 30 ist, wendet sich oft ganz von der Linken ab, weil er/sie mit dem Beruf voll ausgelastet ist, viele Politik- und Sozialwissenschaftler versuchen aber auch mit der Politik Geld zu verdienen und machen sich selbständig. Sie profitieren von ihren kollektiven Strukturen und nutzen ihre Kontakte. Draußen stehen die meist älteren Erwerbslosen in der Linken, die häufig isoliert sind und über keine „nützlichen“ Kontakte verfügen. Auch sie werden zunehmend aktiviert, als Alternativen bleiben ihnen Ein-Euro-Jobs oder die prekäre Selbständigkeit, die bei ihnen meistens als Aufstocker mehr oder weniger lange geduldet wird.

Hier einige Zitate aus dem Buch „Risse im Putz“ der Gruppe Blauer Montag:

„In Zeiten prekärer Existenzen entdecken nicht wenige Linke die Selbständigkeit- manchmal als selbst gewählte Chance, manchmal als einzige Alternative zu Hartz IV. Aber was passiert, wenn die eigene Politik und die linken Netze zu Quellen des Gelderwerbs werden?“

Die plötzliche Konkurrenzsituation

„Eine meiner einschneidendsten Erfahrungen mit der prekären Selbständigkeit war die damit verbundene Widersprüchlichkeit. Du verhälst dich als Linker mit bestimmten Ansprüchen, wie miteinander umgegangen werden soll, wie du auch arbeiten möchtest, wie man solidarisch sein sollte in einer gleichzeitig hochgradigen Konkurrenz- und Marktsituation. In meiner Wahrnehmung gibt es unter Linken keine Auseinandersetzung darüber, wie du etwa damit umgehst, wenn du mit deiner Genossin, mit der du in derselben Gruppe seit Ewigkeiten über Prekarisierung diskutierst, gleichzeitig konkurrieren musst bzw. tust.“
Man kommt in Konkurrenzsituationen, wo eigene Machtpositionen und Aus- und Abgrenzungsmechanismen ausgespielt werden. Man preist sich an und sagt potentiellen Auftraggebern, wie gut man ist.
Es müsste für Linke eigentlich auch selbstverständlich sein, nicht Lohn- bzw- Honorardrücker zu sein, ist es aber nicht. „Selbständige Wissensarbeit ist eine Form, die mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen arbeitet und sich auf sehr unterschiedlichen Märkten gleichzeitig bewegt, etwa im Bereich der politischen Bildung, im Bereich von Uni-Projekten, als JournalistInnen und Politik- oder GewerkschaftsberaterInnen. In einem selbständigen Multitasking gibt es einfach das Problem über die unterschiedlichen Bereiche hinweg so was wie Ministandards überhaupt zu formulieren.“

Der Konformitäts- und Verwertungsdruck

Da man als prekärer Wissensarbeiter von institutioneller Förderung abhängig ist, ergibt sich ein enormer Konformitätsdruck. Es ist peinlich, wenn man sein Wissen zu Discounter-Preisen verkauft und es auf die institutionellen Bedürfnisse zuschneidet.
„Nach meiner Erfahrung kommst du ganz schnell in Situationen, wo du dich als Linker fragen musst, was du da eigentlich machst...Plötzlich bist du in der Situation, dass du zu Veranstaltungen, die du politisch kritisiert hast oder die dir am Arsch vorbeigegangen sind, deswegen hingehst, weil dort deine Kunden rumlaufen und das Networking direkt und indirekt kommerziell wichtig ist. Plötzlich sind politische Mackerstrukturen verkaufsfördernd, die du immer bekämpft hast.“

Politik als Beruf

In der Linken gibt es eine Trennung von Privatem und Politik, Politik wird oft in der Freizeit gemacht. Wer nun mangels existenzsichernder Alternativen gezwungen ist, das Private und Politische zu verbinden, hat große Schwierigkeiten, „zu besprechen, was denn jetzt das Politische am Privaten ist.“

Selbstorganisation als Marktstrategie

Für einen zerstückelten Lebenslauf ist die Kontinuität der gewerkschaftlichen Organisierung schwierig zu begreifen, gefragt wäre Selbstorganisation.
„Das ist dann eine Form, wo die Selbstorganisation zum Markenzeichen und zum Abgrenzungsmerkmal wird, zu einem Label, das die eigene Verwertbarkeit befördert, also Element einer Verkaufsstrategie.“

Das Instrumentalisierungs- und Repräsentationsproblem

Auch in der Linken wird Networking immer wichtiger. Die Netzwerke werden für die Selbständigkeit verwertbar gemacht.

„Das, was die Basis für die meisten linken selbständigen WissensarbeiterInnen ist, ist doch das Gewebe aus Kontakten und sozialen Beziehungen. Wir bewegen uns ja durchaus in kollektiven Strukturen, die allerdings zur ökonomischen Ressource instrumentalisiert werden: Networking als Art von Kollektivität, die -platt gesprochen- zu Geld gemacht wird. D.h. wir begreifen Kollektivität und kollektive Strukturen als Marktressource und nicht mehr als Quelle von revolutionärer Subversion oder als Basis für eine Autonomie, die wir gegen die Marktgesetze wenden könnten.“

„Die andere Ebene der Auseinandersetzung ist natürlich die direkte Instrumentalisierung von Inhalten: Wie verändern sich meine Inhalte, wenn ich als Wissensarbeiter in dem politischen Prozess, über den ich nachdenke und schreibe, gar nicht drin bin und eigentlich nur abschreibe und das schreibe, was ich von anderen gehört habe. Wenn ich eigentlich nur als Berichterstatter fungiere, ohne dass die Leute, deren Berichte ich verwerte, irgendein Recht oder eine Möglichkeit haben, darüber mit zu entscheiden, was ich mit dem Zeug mache, das ich da verkaufe. In allen Zusammenhängen, die ich kenne, die aus selbständigen PolitikarbeiterInnen bestehen, ist das außerordentlich problematisch, insbesondere in einer Situation, wo ein Teil der Linken behauptet, es gebe kein Repräsentationsproblem mehr oder es gebe kein Problem einer hierarchisierten Öffentlichkeit mehr. Natürlich gibt es ein Repräsentationsproblem, und natürlich gibt es eine hierarchisierte Öffentlichkeit. Bürgerliche Öffentlichkeit produziert Machtverhältnisse: Einige, auch manche von uns, können sprechen, viele andere werden sprachlos gemacht.“

Auch für linke Selbständige wird ein Kosten-Nutzen-Denken immer wichtiger. Interessant ist dann, was sich ökonomisch wirklich auszahlt. Es geht um den konkreten Nutzen. „Und der besteht darin, sich besser auf dem Markt zu bewegen. Punkt.“ Viele haben auch Angst, sich zu sehr aufzublättern. „Das ist die Frage, wie ich eigentlich über meine Bedürfnisse und die Legitimität meiner Bedürfnisse rede, über meinen Alltag, meine Ökonomie, meine Privatökonomie, meine Erbschaften, mein Leben insgesamt.“
Organisierungsversuche müßten eher im Bereich der Reproduktion ausprobiert werden. (Was ja zur Zeit mit dem Thema Gentrifizierung getan wird.)

Aus: Auch mit Solidarität kannst du Pleite machen, In: Gruppe Blauer Montag, Risse im Putz, Assoziation A Berlin, Hamburg 2008

Zum Schluß eine Geschichte, die ich nach der Lektüre des Buches „Die Kunst der Selbstausbeutung“ von Jakob Schrenk schrieb.

4.) Günter und die Parallelgesellschaft- eine Geschichte

Günter wohnt in Neukölln. Er wird durchgefüttert von den Leistungsträgern. Nachts hat er deshalb Visionen von den Arbeitstieren, pardon Arbeitskraftunternehmern. Den Künstlern der Selbstausbeutung. Mach was du willst, aber sei profitabel. Multitasking. Immer erreichbar. Immer mehr leisten. Mehr Druck. Mehr Stress. Der Job hat immer größere Macht über dich. Du bist der Chef. Das Glück der totalen Erschöpfung. Ein Rausch. Der Kontrolleur sitzt im Kopf. Der Klassenkampf tobt im Kopf.
Günter wacht schweißgebadet auf. Der Alptraum ist Realität. Viele träumen davon.
Günter gehörte früher zur Gegenkultur. Er war ein Rebell und hatte eine Abneigung gegen Autoritäten. Er wollte autonom und flexibel sein, und keine Hierarchien. Prima sagten die Manager, dann seid ihr noch effizienter. Die Gegenkultur wurde von den Managern aufgesogen. Sei kein Langweiler, riskier was. Das öde Leben wird spannend- auf Arbeit. Es gibt keine Grenze. Der Arbeitstag hat 24 Stunden. Die Arbeitskraft optimiert und vermarktet sich permanent.
Günter träumte von einem Recht auf Faulheit. Der Traum ist ausgeträumt. Der Produktionsausstoß der Leistungsträger ist hysterisch. Er ist von Verrückten umgeben. Aber nein, er verwechselt was, er ist der Verrückte, weil er sich der hysterischen Arbeit entzieht. Im Halbschlaf summt es: „Günter, du hast eine negative Energie. Dein Kopf bräuchte eine Waschmaschine.“
Optimismus ist nur ein Mangel an Information. Den Spruch von Heiner Müller hat Günter verinnerlicht. Positives Denken liegt ihm fern. Er versteht die Welt nicht mehr.
Günter versucht weiterzuschlafen. Die Leistungsträger- immer gut drauf. Schlechte Laune können sie sich nicht leisten. Selbst die Emotionen sollen gewinnbringend sein. Die Smile Industrie sorgt für ein Klima der Begeisterung. Mitten im Klima der Angst, den Job zu verlieren. Mitten im Klima, in dem die Anforderungen steigen. Was ist echt, was gespielt? Der ganze Mensch wird gebraucht. Wichtigstes Instrument ist der Ellenbogen. Schwache kann man sich nicht leisten.
Erschrocken fährt Günter hoch. Ist er schwach? Was hat er nicht früher alles getan. Er ist um die Welt gereist. Indien, Australien, Afghanistan. Die erstarrten Spießer mit ihrem Reihenhaus haben ihn angekotzt. Er wollte mobil sein.
Jetzt müßte er jede Ortsanwesenheit dem Jobcenter melden, aber er hat auch kein Geld mehr zum Verreisen. Er war immer Aussteiger, jetzt sind die Normalbürger die Mobilen. Die Leistungsträger sind global unterwegs. Sie werden zu Nomaden und Günter sitzt fest. Sie müssen im Kopf und Beinen flexibel sein, Günter hat das Gefühl der Erstarrung. Hat er alles verkehrt gemacht? Er soll sich auch bundesweit bewerben, aber er will in Berlin bleiben. Sein spießiger Bruder ist Pendler, 200 Kilometer fährt er jeden Tag zur Arbeit. Sein Bruder mit Reihenhaus und Familie. Seine langweilige Mitschülerin jettet um die Welt, Arbeit und Leben ein Abenteuer. Ist die Welt verrückt geworden? Sein Leben eine Tristesse, er hat kein Geld, um was zu erleben.
Jetzt ist Günter hellwach. Er steht auf und geht ins Bad. Der Spiegel verheißt ihm nichts Gutes. Er sieht schlecht aus. Seine langen zottligen Haare hat er vor einem Jahr abgeschnitten. Jetzt trägt er graue Stoppeln. Sein Gesicht ist fahl, er hockt zu viel in der Bude. Er schaut nach unten. Sein Bauch wird immer dicker. Er säuft zu viel. Früher war er sportlich. Dick ist Unterschicht. Er müßte wieder laufen, dazu fehlt ihm jedoch die Energie. Joggen ist Zeitgeist. Auch das Fitnesstudio. Heute wird am Computer gearbeitet und der Sport immer wichtiger. Die Leistungsträger trainieren für ihre Firma. Der Körper gehört dem Arbeitgeber, er ist die Visitenkarte. Schon Günters Aussehen schreckt Arbeitgeber ab.
Seine Schwester sieht top aus. Sie achtet auf ihr Aussehen, das sei wichtig für die Arbeit, sagt sie. Die Nase hat sie sich operieren lassen. Seine Nase ist o.k. Aber die Zähne. Immer sieht er die lächelnden weißen Zähne in der Werbepause, dann muß er rausgehen. Überhaupt der Gesundheitsfanatismus. Günter dachte, bei seiner Lebensweise wird er nicht alt. Viele seiner Freunde sind tot. Er ist jetzt 55. Freunde hat er kaum noch. Eine Freundin auch nicht. Er fühlt sich nicht mehr attraktiv. Es zählt die Jugend. Günter beneidet manchmal die Männer, die sich junge Frauen nehmen. Aber will er das wirklich?
Einmal hatte er eine Freundin, die war zehn Jahre jünger. Die hat spät ein Kind bekommen, aber nicht von ihm. Sie hat es geschafft und wohnt im Prenzlauer Berg. Am liebsten hätte sie ihr Kind mit Vier zum Chinesisch-Unterricht geschickt. Aber Englisch machte es auch. Englisch für Säuglinge hat sie allerdings verpasst. Schon im Kinderzimmer wird getrimmt. Es tobt der Kalte Krieg in der Bildung.
Frühkindliche Förderung kannte Günter nicht. Das Abitur schaffte er trotzdem, denn er ist nicht blöd. Günter hat 30 Semester studiert, einen Abschluß hat er nicht. Das Leben war zu chaotisch. Einen passenden Lebenslauf kann er nicht vorweisen. Er hat es nicht geschafft. Früher wollte er das nicht. Heute kommen ihm die Zweifel. Es ist zu spät. Er machte immer, was ihn interessiert. Der Markt interessierte ihn allerdings nicht. Workaholic war er nie und das ist sein Problem. Die Süchtigen sitzen nicht auf der Straße, sondern in den Zentralen. Workaholic bedeutet ein erfülltes Leben und nicht Krankheit. Die totale Euphorie. Workaholics sind Helden. Die Helden der Selbstzerstörung. Der Mensch als Maschine. Der Wahn ist die Normalität. Die Arbeitswelt der Dealer.
Dealer braucht Günter auch. Früher schluckte er LSD. Heute raucht er immer noch Haschisch. Damit ist er out. Die Leistungsträger nehmen heute Leistungsdrogen wie Koks und Ecstasy. Wach bleiben, immer fit sein, das ist die Devise. Sei dynamisch. Nicht einschlafen oder der Realität entfliehen. Die Realität ist super. Nur- immer häufiger kommt es zum Burn out und Depressionen. Das erschöpfte Selbst.
Auch Günter ist oft depressiv. Aber nicht aus Erschöpfung, sondern aus Hoffnungslosigkeit. Er bekämpft die Depression mit Alkohol. Er ist das Symbol, vor dem die Leistungsträger Angst haben. Der Abstieg. Die Perspektivlosigkeit. Die unsichere Zukunft. Das Gegenmittel heißt, mehr arbeiten. Sie sind Leistungsträger auf Bewährung und müssen eine besonders gute Führung zeigen. Günter jagt ihnen Angst ein. Günters gibt es viele, zu viele. Deshalb knicken die Gewerkschaften ein, deshalb knicken die Jungen ein, die auf den Arbeitsmarkt drängen.
Günter drängt schon lange nicht mehr auf den Arbeitsmarkt.
Günter macht Musik, aber das zählt nicht. Davon kann er nicht leben. Er malt auch, aber auch davon kann er nicht leben. Du bist nur erfolgreich, wenn du dich auch vermarkten kannst. Und das kann Günter nicht. Günter hat seine Zweifel, er ist wohl nicht gut genug. Er hat weder Musik noch Kunst studiert, das waren immer seine Hobbys.
Er ist nicht aufgewachsen in einem Milieu, in dem das gefördert wurde. Sein Vater war Spießer und Bürokrat. Lebenslang eine Arbeit, eine Frau, ein Haus, eine Automarke. Ein stahlhartes Gehäuse. Dagegen hat sich Günter auflehnt. Der Vater ist nie entgleist, Günter schon. Jetzt sitzt er im Dreck.
Für den Vater war klar, wer keine Arbeit hat, ist selber schuld. Der Vater versteht nicht die neue Arbeitswelt, die eine ewige Tretmühle ist. Wer nicht mithält, fliegt raus. Die Routine wurde durch ein Laufband ersetzt. Zeitarbeit, Praktikas, working poor- das ist für den Vater eine fremde Welt. Die digitale Bohéme sowieso. Ein Punk mit rotem Irokesenkamm, der das Frisuren-Marketing nennt. Der über selbstbestimmte Arbeit erzählt und dabei in jedem Moment produktiv ist. Der meint, mit jeder Festanstellung beginne ein schleichender Verblödungsprozess und nicht mit den grauen Büromenschen tauschen will. Der für viel Freiheit und wenig Sicherheit wirbt. Ein Ein-Mann-Unternehmen, das voll ausgelastet ist. Der den Markt der Besoldung vorzieht und trotzdem nicht die FDP als Auftraggeber möchte. Das macht nicht nur den Vater, sondern auch Günter orientierungslos.
Die Subkultur als Vorreiter des Neoliberalismus? Auch Günter versteht die Welt nicht mehr. Nicht mehr den neuen Geist des Kapitalismus, der die Künstlerkritik der 68er für die eigenen Interessen aufgesogen hat. Günter fragt sich, ob er nur gekämpft hat, um den Kapitalismus zu modernisieren? Jetzt hat er eine Frau als Kanzlerin und einen Schwulen als Bürgermeister. War es das, was sie wollten.
Politik macht Günter schon lange nicht mehr, er hat aufgegeben.
Er ist Hartz IV-Bezieher und so fühlt er sich auch. Im Gegensatz zu den Leistungsträgern hat er Zeit. Da er was im Kopf und seine Hobbys hat, kann er seine Zeit nutzen. Nur nicht verwertbar machen. Dabei ist er doch eigentlich der Prototyp des Künstlers, der sich gegen die spießige Welt auflehnte. Er war immer autonom und kreativ. Ein Künstler hat nie Feierabend. Er wäre der ideale neue Arbeitnehmer. Aber er ist der Verlierer, der ein prekäres und gefährdetes Leben führt.
Günter glaubt, er sei interessant, nur merkt das in dieser Welt keiner mehr. Er fällt nicht auf und wird deshalb nicht beachtet. Günter sieht sich nicht als Produkt und das ist sein Problem. Er müßte an diesem Produkt feilen, es optimieren, sich präsentieren. Günter will und kann das nicht. Er will so bleiben, wie er ist. Und bleibt deshalb draußen. Günter hat kaum Geld, keine Arbeit, keinen guten Bildungsabschluß. Und kaum noch Kontakte. Wie auch, Günter ist ökonomisch nicht verwertbar. Er ist kein potentieller Auftraggeber. Er verfügt über kein Netzwerk. Er ist immer isolierter. Er wird nicht gebraucht. Er ist nicht nützlich.
In seiner Stammkneipe läßt er öfter anschreiben, beim Networking bleibt er außen vor. Von ihm ist nichts zu erwarten, er ist ganz unten.
Er passt nicht mehr in diese Welt der Aliens. Neukölln ist sein Rückzugsgebiet. Der Bürgermeister redet von einer Parallelgesellschaft in Neukölln. Die der islamischen Unterschicht. Günter meint eine andere. Die der Arbeitswütigen, die mit ihrer lästigen und sinnlosen Hyperproduktivität diese Welt zugrunde richten. Das Leben und das Klima zerstören. Die Endstation Neukölln ist sein Ausweg in einem Meer des Stillstands. Günter will nur seine Ruhe haben, wie viele andere hier auch- in dieser paradoxen Welt.

Empfehlenswerte Literatur:
Jakob Schrenk, Die Kunst der Selbstausbeutung, DuMont Buchverlag Köln 2007
Luc Boltanski, Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, UVK Konstanz 2006
Wilfried Glißmann/Klaus Peters: Mehr Druck durch mehr Freiheit, VSA Hamburg 2001
Richard Sennett: Der flexible Mensch, Siedler Berlin 2000

 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Text von der Autorin für diese Ausgabe.