Stichwort Castor

Statements der Gruppe "vonmarxlernen.de"
Gewaltfrage?
Demonstrationen gegen die Castortransporte

12/10

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onlinezeitung

Freitag Morgen: „Wer gehofft hatte, die Anti-Atom-Bewegung könnte in den vergangenen zehn Jahren eingeschlummert sein, eingelullt durch verkürzte Laufzeiten und eine Pause im Salzstock Gorleben – weit gefehlt.“ (SZ, 5.11.2010) Eine ziemlich große Protestbewegung „einzulullen“ – schon cool, wie der Meinungsprofi jetzt den Zweck des Ausstiegsbeschlusses kennzeichnet, den er damals höchstwahrscheinlich als „unter den gegebenen Möglichkeiten besten Kompromiss“ bezeichnet und für die Herstellung eines gediegenen gesellschaftlichen Konsenses gelobt hat.  Aber was scheren einen die Lügen von gestern, wenn es um die Demonstrationen von heute geht. „Bleibt friedlich!“ heißt jedenfalls wieder einmal die stetige Mahnung in Presse, Funk und Fernsehen, sonst wird euer Protest „unglaubwürdig“.  

Freitag Abend, Tagesschau: Noch bevor der erste Demonstrant mit einem Transparent gewedelt hat, spricht die Tagesschau-Tante von einem „bevorstehenden unruhigen Wochenende“. Da zwanzigtausend Demonstranten erwartet werden, „steht“ – auch das inzwischen offenbar völlig selbstverständlich! – einer „der größten deutschen Polizeieinsätze bevor“: über 16.000 Bullen sind schon vor Ort. Der Polizei-Pressesprecher darf in den Nachrichten verkünden, dass die Polizei für „Ordnung“ sorgen wird, was sonst? Alle, Zuschauer wie vor allem beteiligte Demonstranten, sollen sich Sorgen machen, dass nichts aus dem Ruder läuft. Um was es da eigentlich geht? Klar, irgendwie um Atomkraft, ungesund und so. Ein Vertreter der Protestler darf auch was dazu sagen: „Es komme nicht so sehr drauf an, dass der Castor-Zug umkehrt, sondern dass die Politik umkehrt. Sie müsse einfach zur Kenntnis nehmen, dass ihr Beschluss gegen die Mehrheit der Bevölkerung nicht durchsetzbar sei.“ Der Mann, obwohl seit Jahrzehnten auf derselben Demo unterwegs, scheint sich einen unverdrossen guten Glauben in die Wirksamkeit seines Tuns bewahrt zu haben – sowohl über die eigentlich guten Absichten einer Regierung, von denen er nach wie vor ausgeht, wie über die Wirksamkeit des demokratisch zugelassenen Protestwesens.  

Schwenk in den Bundesrat. Hier will die Opposition von SPD und Grünen den Beschluss stoppen, wird aber ausgebremst: Das Gesetz ist nicht zustimmungspflichtig. Pech. Jetzt wird das Bundesverfassungsgericht angerufen, kündigen Beck & Genossen an. Alles klar, Bürger? – die Frage, was ansteht in Deutschland, ist gut aufgehoben bei den Oppositionsparteien bzw. den Gerichten. Ihr solltet euch für etwas viel Wichtigeres interessieren!

„Wird es zu gewaltsamen Zwischenfällen kommen?“ – das ist die eine und mehr oder weniger ausschließliche Frage, mit der man für den Rest des Wochenendes per Nachrichtenticker unterhalten wird. (Die andere ist übrigens, wer den Polizeieinsatz bezahlen soll – Bund, Länder, Niedersachsen, die Atomindustrie? Auch ein schönes Thema für die Leserbriefe am Montag!) 

<Halten wir nur nur einmal nüchtern fest, was sich da gerade gegenübersteht, bevor es eventuell zu „gewaltsamen Zwischenfällen“ kommen wird:

  1. Eine Bundesregierung, die die deutsche Energiepolitik bestimmt.
  2. Energiekonzerne, die auf Basis staatlicher Beschlüsse, ausgerüstet mit jeder Menge Kapital und Kredit, ihr profitables Geschäft mit der Atomkraft betreiben.
  3. Eine ganze Abteilung deutscher Forschung und Wissenschaft, die sich den Anliegen der deutschen Politik widmet, mit Eifer bestellte Gutachten liefert und die vornehm die Schnauze hält, wenn ihre Ergebnisse nicht in die politische Linie passen.
  4. Eine deutsche Presse, die sich voller Verständnis und auf allen Kanälen der Frage annimmt, wie die nationale Führung die schwierige Aufgabe bewältigt, die deutsche Wirtschaft mit billigem Strom zu versorgen, Energieunternehmen aufzubauen, die der weltweiten Konkurrenz standhalten und gleichzeitig „die Gesellschaft“, die diese Prioritätensetzung leider noch nicht ganz teilt, nicht zu „spalten“.
  5. Ein Gewaltapparat, der sich vorsorglich in voller Montur aufbaut, seine Wasserwerfer auffährt, Pfefferspray, Schlagstock und juristische Konsequenzen gleich abschreckend für jeden androht, der den staatlichen Beschlüssen auch nur symbolisch in die Quere kommen will.
  6. Bei den Punkten 1 bis 4 ist übrigens nur die durch und durch friedliche  „Zivilgesellschaft“ am Werk. Erst wenn deren Gewaltapparat ins Bild kommt, wird normalerweise registriert, dass es in dieser demokratischen Gesellschaft überhaupt so etwas wie „Herrschaft“ und „Gewalt“ gibt – eine Feststellung, die man sich ansonsten für ausgemachte Diktaturen wie China vorbehält. 

Sonntag Abend, bei Anne Will: Nachdem die Kameras der Tagesschau ein paar „gewaltsame Zwischenfälle“ festhalten mussten, unterhält sich eine illustre Runde über die Frage, ob Deutschland eigentlich „gegen alles“ ist. Ohne Scheiß

Montag Morgen: BILD titelt „Castor-Irrsinn!“ und meint damit weder einen Zug, der mit gefährlichem Atommüll durch die Republik fährt noch die „17000 Polizisten“, die ihn sichern sollen. Gemeint sind vielmehr die Proteste, die dieses Jahr „so schlimm wie noch nie“ waren: „Bürgerkrieg im Wendland“. Das will die BILD-Zeitung aus einer Polizei-sms erfahren haben und so wird es dann natürlich auch gewesen sein.  

Vorläufige Lehren aus einem weiteren Castor-Wochenende:

  • Wem die deutsche Atompolitik nicht passt, kann auf SPD, Grüne oder Linkspartei setzen. Die Opposition ist schließlich genau dafür da: Unbehagen an der existierenden Politik einzusammeln und in Stimmen für eine nächste Regierung zu verwandeln.
  • Wem die deutsche Atompolitik nicht passt, kann darauf hoffen, dass irgendein Gericht einen Verfahrensfehler findet, sicherheitsmäßig ein bisschen nachgebessert werden muss, die EU mehr Transparenz anordnet.
  • Wem die deutsche Atompolitik nicht passt, kann sich daran erfreuen, dass in Presse und Fernsehen über sein Anliegen diskutiert wird – mit Für und Wider, Argumenten rauf und runter, alle bezogen auf den Maßstab, dass eine „realistische Lösung“ für die Probleme her muss, die „wir“ alle nun mal haben.
  • Wem die deutsche Atompolitik nicht passt, kann dagegen demonstrieren und seinen Unmut kundtun. Auch das ist erlaubt in Deutschland. Allerdings auch nur das.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel von den AutorInnen mit der Bitte um Zweitveröffentlichung.