Algerien
„Mini-Inquisition“ gegen „Nichtfaster“ im Ramada, „schlecht Moslems“ und (konvertierte) Christen
Strafverfolgung soll Einhaltung religiöser Gebote erzwingen. Doch der Protest aus der Gesellschaft nimmt massiv zu


von
Bernard Schmid

12/10

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Die kleinen Sünden bestraft der liebe Gott sofort. Und sollte er gerade keine Zeit dafür haben, dann hilft ihm auch gerne die Staatsanwaltschaft dabei. Auf jeden Fall braucht die Strafe für den Sünder nicht erst bis zum Jüngsten Gericht zu warten.

So sah es jedenfalls ein Teil der algerischen Justiz, als es ihr darum ging, den bösen Spitzbuben nachzustellen, die sich im muslimischen Fastenmonat Ramadan - er fiel in diesem Jahr auf die Periode von Anfang August bis Anfang September - nicht an das Fastengebot hielten. In den letzten Jahren wuchs der Druck auf Bürger des nordafrikanischen Landes, die während des Ramadan als „Nichtfaster“ auffallen. Anders als in den Jahren ab 1989, in denen islamistische Aktivisten die Restaurants aufsuchten, um die Einhaltung des „Gebots“ durch moralischen oder auch physischen Zwang zu erreichen, hat in den letzten Jahren vielmehr die staatliche Justiz das sündige Treiben ins Visier genommen. Während der islamistische Basisaktivismus stark abgenommen hat, haben mancherorts Polizei und Justiz die Aufgabe übernommen, Ungläubige oder „schlechte Muslime“ aufzuspüren. 

In Erwartung kommender Auseinandersetzungen veröffentlichte ein Kollektiv von Intellektuellen, das sich unter dem Namen SOS Libertés - SOS Freiheitsrechte - konstituierte, am 10. August 10 und damit in den ersten Tagen des diesjährigen Ramadan einen Aufruf. Ihr Appell wurde durch die gröβte algerische Tageszeitung, El-Watan, publiziert. Darin wird der Respekt der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der formal durch die algerische Verfassung garantiert und zudem durch internationale Abkommen gesichert wird, gefordert. Daraus wird die Konsequenz abgeleitet, Restaurants und Cafés sollten auch während des Ramadan tagsüber offen bleiben, um „für die Bedürfnisse derjenigen, die einer anderen Religion als dem Islam anhängen oder gar keine Religion praktizieren, zu sorgen“.

 Die Polizei teilte ihr Anliegen nicht. Am 12. August griff sie auf einer Baustelle in Aïn el-Hammam, einer Stadt auf den Anhöhen des Berglandes der Kabylei von rund 20.000 Einwohner/inne/n - einer überwiegend von Berbern bewohnten Region im Nordosten Algeriens -, zu. Zwei Bauarbeiter, der 34jährige Salem Fellak und der 47jährige Hocein Hocini, verbrachten dort ihre Pause und tranken dabei Wasser. Die Auβentemperatur betrug rund 40° Grad. Beide wurden festgenommen. Mindestens einer von beiden, wahrscheinlich aber alle beide, sind christlicher Konfession. In den vergangenen Jahren hat sich eine wachsende Zahl von Berbern zum Christentum bekehrt, aus einer Gemengelage von Motiven.  

Konversion versus „Leitkultur“ 

Dazu zählt der Wunsch von Teilen der berbersprachigen Minderheit, sich energisch von der arabisch-muslimischen „Leitkultur“, die ihnen durch den Staatsapparat und das Schulwesen aufoktroyiert wird, zu distanzieren. Auch wenn ihre Sprache seit 2002 durch die Verfassung neben dem Arabischen als Amtssprache anerkannt wird, fühlen die Berber sich nach wie vor diskriminiert. Aber auch die tatsächlich oder vermeintlich besseren Aussichten, ein Visum für die USA und Kanada zu erhalten, begünstigt die Entscheidung mancher jüngerer Berber zum religiösen Konvertieren. Vor allem nordafrikanische evangelikal-protestantische Kirchen missionieren eifrig in der Region. Die Anzahl der Christen (es handelt sich überwiegend um protestantische Konvertierte; sieht man einer von kleinen altansässigen katholischen Minderheit ab, die v.a. aus nach der Unabhängigkeit 1962 gebliebenen Franzosen besteht) wird auf rund 30.000 geschätzt. Offiziell geben die Behörden des algerischen Religionsministeriums sie allerdings mit 11.000 an, was jedoch klar unterschätzt sein dürfte. Im einen wie im anderen Falle handelt es sich um eine relativ winzige Minderheit in einem Land von derzeit circa 35 Millionen Einwohner/inne/n. 

Internationale Solidaritäts-Reaktionen 

Der Fall der beiden Bauarbeiter löste international einige Erregung auf. In den französischsprachigen Ländern, vor allem in der Westschweiz und in Frankreich, kam es zu Solidaritätserklärungen und Demonstrationen[1]. Eine Petition, die durch eine schweizerische NGO namens ACOR-SOS Racisme initiiert worden war, fand Unterstützung bei der Genfer KP (d.h. des Parti Ouvrier et Populaire, http://fr.wikipedia.org/wiki/POP_parti) oder den Grünen. In Frankreich demonstrierten unter anderem ein Freidenkerverband, Untergliederungen der radikal linken „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA) oder Berbervereinigungen. Am 02. Oktober 10 fand ein Sit-in vor der algerischen Botschaft in Paris statt; dieser spezifische politische Protest ging allerdings inmitten der „Masse“ von Protestierenden an jenem Tag - an dem ansonsten rund zwei Millionen Französinnen und Franzosen gegen die damals umkämpfte Renten„reform“ demonstrierten - einigermaβen unter. 

Unterdessen hatte in dem Dorf Ouzellaguen, in der Nähe der berbischen Regionalmetropole und Hafenstadt Bejaia, am 31. August eine zweite Verhaftungswelle stattgefunden. Dieses Mal traf es, je nach den verfügbaren (variierenden) Angaben, zehn respektive zwölf Personen[2]. Unter ihnen fand sich ein Restaurantbesitzer, der im zweiten Stock eines Gebäudes im Industriegebiet Fleischspieβe brutzelte, so dass der Geruch angeblich bis auf die Straβe strömte - und wohl auch einen Gläubigen das Wasser im Munde zusammenlaufen lieβ. Unter den Verhafteten waren aber auch junge Leute, die sich einfach in Neubauten des Industriegebiets geflüchtet hatten, um Getränke zu sich zu nehmen und zu rauchen.  

Ein historisches Symbol: einstmalige Träume von einer progressiven Unabhängigkeit… 

In diesem Falle war der Ort des Geschehens ein symbolischer: Ouzellaguen, im Tal des Flusses Soummam gelegen, war der Schauplatz der legendären Delegiertenkonferenz der „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN), die sich damals im bewaffneten antikolonialen Kampf befand, im August und September 1956. Die Untergrundversammlung, die in einem Forsthaus in totaler Klandestinität abgehalten wurde, nahm das berühmte „Manifest von der Soummam“ an, das für die Zeit nach der erfolgreichen Entkolonisierung unter anderem eine laizistische Republik und den politischen Pluralismus vorsieht.  

Dazu kam es so, wie damals geplant, nie: Nachdem Algerien im Juli 1962 tatsächlich unabhängig geworden war, unterblieb die Einführung des politischen und religiösen Pluralismus. Die politischen und vor allem die städtischen Strukturen der „Nationalen Befreiungskrieg“ waren während des extrem blutig verlaufenen Kolonialkrieges weitgehend zerschlagen worden. Ihre militärischen Strukturen, die dagegen intakt geblieben waren - weil sie auβerhalb des Landes, in den Grenzgebieten Tunesiens und Marokkos aufgebaut worden waren - übernahmen die Macht. Der FLN wurde zur Staatspartei, die alsbald immer konservativer und immer korrupter wurde. Schon die erste Verfassung von 1963 erwähnte den Islam als „Staatsreligion“. Damals hatte das noch keine herausragende Bedeutung, vielmehr diente das Bekenntnis zu einem „muslimischen Sozialismus“ vor allem dazu, symbolisch den Alleinführungsanspruch der Sowjetunion - unter Berufung auf „kulturelle Differenzen“ - zurückzuweisen. Doch mit dem Rückgang de sozialistischen Anspruchs der Staatsmacht, der sich seit den achtziger Jahren abschwächte und in den neunziger Jahren aufgegeben wurde, verselbständigte sich dieses ideologische Element. Die Verfassung von 1996 schreibt die Rolle des Islam als Staatsreligion definitiv fest. Sie wurde zu einem Zeitpunkt angenommen, als der algerische Staat in heftiger Konkurrenz und bewaffneten Auseinandersetzungen mit einem militärische starken, radikalen Islamismus stand. Aus diesem Machtkampf ging er zwar als Sieger hervor, doch seitdem versucht er, Teile der Ideologie der Besiegten und ihre frühere soziale Basis zu integrieren - auch wenn diese Elemente in der Staatsideologie gleichzeitig mit bürgerlich-nationalistischen, liberalen und anderen Strömungen konkurrieren.

Prozesse: Justiz von Bürgerprotest überrannt 

In beiden Fällen kam es zu Prozessen, und beide Male erschienen oppositionelle Bürger massiv zu den Verhandlungsterminen vor Gericht.

Die zwölf jungen Leute von Ouzalleguen wurden in der nahen Bezirkshauptstadt Akbou - eine Stadt mit gut 50.000 Einwohner/inne/n, auf den Berganhöhen rund 60 Kilometer südlich der Mittelmeer-Küstenstadt und berberischen Regionalhauptstadt Béjaïa (350.000 Einw.) - angeklagt. Der für den 06. September angesetzte Verhandlungstermin wurde, wegen der massiven Protestmobilisierung, zunächst um zwei Monate verschoben. Bei der neuen Verhandlung am o8. November fand erneut eine massive Mobilisierung von Protestierenden statt. Dabei war das Protestspektrum heteregon zusammengesetzt. Auf der einen Seite traf man den MAK alias die ,Bewegung für die Autonomie der Kabylei', welche in Wirklichkeit eher berberische Ethno-Nationalisten mit scharf anti-arabischen Anklängen umfasst ; ihre Präsenz wurde im Bericht der bürgerlichen algerischen Tageszeitung ,El Watan' nahezu allein erwähnt. Aber auch, und mehrheitlich, Linke hatten mobilisiert: undogmatische Trotzkisten (vom PST, ,Sozialistische Arbeiterpartei', welche in Gesamt-Algerien inzwischen weitgehend bedeutungslos, aber in der Kabylei und v.a. im Raum Bejaïa lokal gut verankert ist und dort auch einen Bürgermeister in Barbacha stellt[3]) und Angehörige eines Studierendenkollektivs von der Universität in Bejaïa. Aber auch die Algerische Liga für Menschenrechte (LADDH) oder ein Anwalts-Komitee. 

In der Zwischenzeit fand am 05. Oktober 10 der Prozess gegen die beiden Bauarbeiter von Aïn el-Hammam statt, der ursprünglich schon am 21. September hätte stattfinden sollen[4], aber ebenfalls hatte verschoben werden müssen.

Sowohl diese Verhandlung als auch der Prozess wenige Wochen später in Akbou - bei dem am Ende acht Angeklagte übrig blieben, die anderen Verfahren waren aus Mangels an Beweisen eingestellt worden - endeten mit Freisprüchen, obwohl die Staatsanwaltschaft mehrjährige Haftstrafen ohne Bewährung verlangt hatte. Letztere stützte sich auf den Artikel 144 bis (2) des algerischen Strafgesetzbuchs, der durch ein Gesetz vom 20. Dezember 2006 eingeführt worden war und die „Verunglimpfung des Islam“ unter Strafe stellt, dabei Haftstrafen von drei bis fünf Jahren vorsehend[5]. Die Richter hingegen stellten jeweils fest, die Nichteinhaltung religiöser Gebote sei reine Privatsache. Am selben Tag wie der Prozess gegen die beiden Bauarbeiter, am o5. Oktober, kritisierte Amnesty international den Glaubenszwangparagraphen und forderte die algerischen Behörden dazu auf, sämtliche Strafverfolgungen auf seiner Grundlage einzustellen.[6] 

Härtere Urteile anderswo

Verurteilt wurde jedoch zwischenzeitlich der 27jährige Bouchout Farès. Er war am 18. Oktober in der Provinzstadt Oum el-Bouaghi, rund 500 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Algier, vor Gericht gestellt worden. Auf Denunziationen hin hatte die Polizei eine Razzia an einem Ort, wo sich zahlreiche junge „Nichtfaster“ aufhalten sollten, vorgenommen. Farès war der Einzige, den sie festnehmen konnte, weil nur er nicht schnell genug lief. Ihm wurden zwei Jahre Haft ohne Bewährung und umgerechnet 1.000 Euro Geldstrafe - das Fünffache eines durchschnittlichen Monatslohns in Algerien - aufgebrummt.

Unterdessen wurde, wiederum in der Kabylei, eine anderweitige Strafverfolgung gegen vier zum Christentum konvertierte Berber angestrengt: Ihnen wird vorgeworfen, „illegal“ (d.h. ohne Genehmigung der Behörden) eine protestantische Kirche in Larbaa Nath Iraten - in der Nähe der kabylischen Bezirkshauptstadt Tizi-Ouzou - eröffnet zu haben. Die Einrichtung von Kultusstätten mit religiöser Bestimmung, im Übrigen auch von Moscheen, bedarf in Algerien einer Zustimmung durch die Behörden des Religionsministeriums. Die Aufsicht durch dieses Ministeriums wurde eingeführt, weil sich herausstellte, dass in den 1980er und 1990er Jahren in zahlreiche „inoffiziell“ eingerichteten (da bspw. formell nicht fertiggestellten und deswegen nicht eingeweihten) Moscheen sich staatsfeindliche radikale Islamisten eingenistet hatten. Derzeit werden die rechtlichen Bedingungen dafür durch ein Gesetz vom Februar 2006 geregelt.

Aber bei dem Prozess gegen die Vier spielt natürlich auch der Hintergrund, dass es sich um Konvertiten handelt, eine wichtige Rolle. Am Sonntag (zufällig oder Absicht?), den 28. November - im muslimisch geprägten Algerien ist der Sonntag ein Werktag, denn der wöchentliche Gebetstag fällt auf die Freitage - fand ihr Prozess sie statt. Neben der ungesetzlichen Einrichtung einer Kultusstätte wird ihnen auch die „illegale Beherbergung von Ausländern“, namentlich eines französischen Pastors, vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft forderte ein Jahr gegen die vier Konvertiten, das ist die vom oben zitierten Gesetz v. Februar 2006 vorgesehene Mindeststrafe für ihr Delikt; blieb also mit ihrer Strafforderung noch am unteren Rand. Das Urteil dazu fällt am 12. Dezember 10 in Larbaa Nath Iraten[7].

Oligarchie gespalten

Auch in Teilen der algerischen Eliten hat man jedoch Bedenken. Die bürgerlich-nationalistische Tageszeitung El-Watan machte angesichts der Strafverfolgung gegen „Nichtfaster“ geltend, die Prozesse verliehen Algerien ebenso wie seiner Mehrheitsreligion „ein Image der Intoleranz“. Ein Rechtsanwalt aus dem ostalgerischen Annaba erklärte gegenüber dem Verfasser dieser Zeilen unter Berufung auf  Quellen im Justizministerium, in naher Zukunft werde auch Farès in einem Berufungsverfahren planmäβig freigesprochen werden.

Ausblick

Ob dies so kommt, bleibt im Moment noch abzuwarten. Eine erste Welle von Strafverfolgungen hatte im Herbst 2008 nach dem Ramadan von vor zwei Jahren stattgefunden. Sechs junge Leute waren in der Wüstenstadt Biskra zu vier Jahren Haft verurteilt worden, erhielten im Berufungsverfahren jedoch Freisprüche. Dagegen bestätigte das Berufungsgericht von Algier eine Haftstrafe wegen Rauchens im Ramadan, reduzierte das Strafmaβ jedoch auf zwei Monate, die auf Bewährung ausgesetzt blieben.

Der radikale politische Islam in Algerien hat zwar den Kampf um die Staatsmacht vor gut zehn Jahren verloren. Keine andere politische Kraft mit Massenanhang hat es jedoch seitdem geschafft, das ideologische Vakuum zu füllen, das sein Rückgang hinterlassen hat.

Teile des Staatsapparats versuchen nun ihrerseits, den einstigen Elan dieser früheren wichtigsten Massenbewegung im Lande auf ihre eigenen Mühlen zu lenken. Im Namen der Globalisierung und der Modernisierung ihres Landes opponieren jedoch andere Flügel innerhalb der herrschenden Oligarchie dagegen. Einen ähnlichen Konflikt ghat  es in jüngerer Vergangenheit bspw. bei der „Wochenendfrage“  gegeben. Bis vor kurzem fiel das algerische Wochenende auf den Donnerstag und Freitag (also den muslimischen wöchentlichen Gebetstag) gelegt, ähnlich wie in Libyen und Saudi-Arabien. Dann aber beschwerte sich ein Teil der wirtschaftlichen Elite - die mit europäischen Ländern arbeitet - zunehmend, u.a. deswegen, weil in den Banken (mit internationalem Zahlungsverkehr) die Angestellten de facto nur drei Tage in der Woche richtig arbeiteten. Also „die Woche minus zwei Tage algerisches Wochenende minus zwei Tage ,westliches' Wochenende, wo kein Zahlungsverkehr herrscht“… Jüngst wurde jedoch eine Verschiebung vorgenommen, und das algerische Wochenende liegt jetzt auf dem Freitag & Samstag.

Gleichzeitig gibt es ganz klar einen gewissen Säkularisierungsschub in der Gesellschaft; auf längere Frist bezogen ist das eindeutig. Allerdings nicht in Form einer politischen oder gesellschaftlichen Bewegung, sondern eher als faktische, allmähliche Veränderung der Gesellschaft (Frauenerwerbsquote, sich wandelnde Familienstrukturen; Ausweitung der Konsumgesellschaft ...). Als Massenbewegung - die auβerhalb des Staatsapparats mobilisierungsfähig ist und ,Massen' in ihren Bann zieht, was der radikale Islamismus in gröβerem Maβstab inzwischen auch nicht mehr kann - hat der Islamismus dagegen keinen Ersatz gefunden, sondern gewissermaβen eine ,Lücke' hinterlassen.  Diese versucht die Staatsmacht zum Teil auszufüllen, allerdings mit widersprüchlichem Herangehen (siehe oben)…

Allerdings ist die Entwicklung in Wirklichkeit selbt noch widersprüchlicher. Seit 2005 ist der politische, militante oder aktivistische, Islamismus nämlich klar im Rückfluss - aber die ,Alltagsfrömmigkeit', die religiös-soziale Prägung der Gesellschaft hat eher zu- statt abgenommen. Die Erklärung (oder ein Teil der Erklärung) dafür ist, dass ein Teil 
der Gesellschaft zuvor auf politischen radikalen Wandel gesetzt hatte, unter islamisierten Vorzeichen freilich: „Wir wechseln die Machthaber aus und setzen gute Gläubige bzw. von den richtigen Grundsätzen inspirierte Kader an die Stelle der Gott ungefälligen Korrupten“. Und so lange dies der Fall war, konzentrierten sich viele Sympathisanten oder Wähler der Islamisten gar nicht so sehr auf die Änderung ihres eigenen Lebens; im Sinne einer „Moralisierung“, wie die Islamisten sie als Kern ihrer Programmatik propagierten. In den frühen 1990er Jahre gab es 
faktisch so manche Wähler, die frühmorgens betrunken aus der Kneipe torkelten und im Anschluss für die ,Islamische Rettungsfront' (FIS) stimmten. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt: Nur noch sehr wenige Leute glauben an den radikalen Wandel, also setzen Viele eher darauf, stärker ,die Moral' in ihr eigenes Leben einkehren zu 
lassen, um sich eine vermeintliche Zukunftshoffnung zu eröffnen: im Diesseits oder auch im Jenseits...


Das ist sicherlich widersprüchlich, weil auch die Konsumgesellschaft Algerien heute viel stärker prägt als noch vor zehn Jahren. 

Anmerkungen
 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.