Radikale Kritik (und Praxis) organisieren
Fragmentarische Anmerkungen zum Kongress Arbeit und Krise in Bochum und einer Veranstaltung zu Sarrazin und seinen Kritiker_Innen

von
Peter Nowak

12/10

trend
onlinezeitung

Der heiße Herbst der sozialen Bewegungen gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die ärmere Bevölkerung blieb eher ein laues Lüftchen erwiesen. Besonders die Radikalisierung der Bewegung durch den Import von Aktionsformen wie Blockaden in die sozialen Proteste ist gescheitert.

Ein Grund dafür lag auch daran, dass in der Protestbewegung der Begriff ‚Krise‘ sehr inflationär gebraucht wird. So wurde in Antikrisenbündnissen noch vor einigen Monaten davon ausgegangen, dass der Krisenprozess erst am Anfang steht. Wenn dann ein neuer Wirtschaftsboom die Zahl der Erwerbslosenlosen und der Kurzarbeitenden verringert, erweist sich diese Prognose offensichtlich als falsch.

Ist die Krise damit vorbei? Ist es nicht eher der kapitalistische Normalzustand als sinkende Börsen- und Taxkurse, die vielen Menschen mit Arbeitszeitverdichtung und Prekarisierung in die Krise treiben? Wie werden solche Fragen an der Peripherie der EU diskutiert?

Dass waren einige der Fragen, denen sich am ersten Dezemberwochenende in der Bochumer Universität ein Kongress mit dem Titel „So wie es ist, bleibt es nicht“, widmete. Organisiert wurde er vom Ums-Ganze-Bündnis, das seine Wurzeln in der Antifabewegung der 90er Jahre hatte. Mittlerweile versteht es sich als kommunistisches Bündnis und hat unter den Titel „Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit“ den Versuch einer marxistischen Kritik an der gegenwärtigen Verfasstheit von Staat und Kapital entwickelt. Dieses Ziel widmete sich auch der Bochumer Kongress. Auf der Auftaktveranstaltung erinnerte der Politologe Michael Heinrich daran, dass Marxist_Innen seit mehr als einem Jahrhundert auf die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus hingewiesen haben. „Ob die Krise auch eine Chance auf radikale Veränderung bietet, oder wie bisher nur zur Festigung kapitalistischer Herrschaft führt, ist abhängig von den sozialen Auseinandersetzungen und der Rolle des Staates in der Lösung der gegenwärtigen Krise“, so Heinrich.

Deshalb müssen Krisenlösungsmodelle von sozialen Bewegungen auch darauf abgeklopft werden, ob sie beispielsweise mit der Forderung nach Reregulierung des Finanzsektors nicht zur Stabilisierung von Kapitalismus und Herrschaft beitragen. In den letzten Jahrzehnten war schon zu beobachten, wie nicht nur soziale Bewegung zur Stabilisierung von Herrschaft beitragen können, wenn sie ihre radikale Kritik an Staat und Kapitalismus aufgeben.

Die Feministin Andrea Trumann nahm den Film „The Kids Are All Right“ zum Beispiel, um zu dokumentieren, wie sich feministische und schwul-lesbische Bewegungen im Mainstream angekommen sind und Staatsapparate, wie Familie und Ehe nicht infrage stellen sondern modernisieren.

Radikale Kritik (und Praxis) organisieren!

Was es heißt, radikale Kritik zu organisieren, war auch die Ausgangsfrage beim Abschlusspodium, wo Lars Röhm von der Freien Arbeiter_Innenunion (FAU) am Beispiel der Organisierung von Beschäftigten in einem Berliner Kino deutlich machte, dass der Kampf um unmittelbare Interessen Ansätze von Selbstorganisierung im Alltag vermitteln und gleichzeitig Räume für eine Kritik an der kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft öffnen können. Ähnliches berichtete der Kölner Rechtsanwalt und Sozialaktivist Detlef Hartmann in einem Workshop über Erwerbslosenaktivitäten rund um die Zahltag in Jobcentern in Köln und Umgebung. Weitere Beispiele aus Bochum hätten sicherlich auch die Kolleg_Innen von der linksgewerkschaftichen Gruppe GoG (Gegenwehr ohne Grenzen) liefern können, die jahrzehntelang in den Bochumer Opelwerken gegen Standortnationalismus kämpfte. Leider kam es zu keinen Crossover zwischen der Bochum-Unilinken und den klassenkämpferischen Teil der Opel-Beschäftigten bei diesem Kongress.

Einen zentralen Stellenwert nahm dort allerdings die Entwicklung von Schuldenkrise und Klassenkampf in Griechenland durch die Brille des linkskommunistischen Zeitungsprojekts TPTG ein. Sie interpretieren die Schuldenkrise als Angriff auf die Arbeiter_Innenklasse. Die von der EU unterstützte Politik der Krisenlösung soll dazu beitragen, dass sich das Proletariat mit dem griechischen Staat identifiziert und für ihn Opfer zu bringen bereit ist. Bisher habe in großen Teil des griechischen Proletariats eher die Stimmung vorgeherrscht, es sind nicht unsere Schulden und deswegen zahlen wir auch nicht für sie. Leider war es nur begrenzt möglich, auf das umfangreiche Referat der griechischen GenossInnen mit Verständnisfragen zu reagieren. Eine gründliche Diskussion war gar nicht möglich. Das lag auch daran, dass die Kongressorganisation noch zwei Referate von Rudi Schmidt und Werner Bonefeld in die Veranstaltung gepackt hat, die ebenfalls viel Diskussionsstoff geboten hätten.

In der Griechenland-Debatte des Kongresses wurde erfreulicherweise auch viel vom Nationalismus gesprochen. Die Genoss_Innen vom TPTG kritisierten nationalistische Tendenzen in großen Teilen des griechischen Proletariats und warfen den sozialdemokratischen und traditionskommunistischen Gewerkschaften vor, solche Stimmungen zu fördern. Rudi Schmidt trug als Beispiel für den griechischen Nationalismus den Namensstreit um die Provinz Makedonien bei, der zu einer Belastung zwischen Griechenland und seinem gleichnamigen Nachbarland wurde. Allerdings blieb bei diesem Thema die Rolle des deutschen Nationalismus ausgespart, was auf einem vom Ums-Ganze-Bündnis organisierten Kongress doch etwas verwundert. Ein Genosse von TPTG kritisierte, dass die parteikommunistischen Gewerkschaften vor einem deutschen Euronationalismus warnen und damit einen linken griechischen Nationalismus propagieren. Aber, unabhängig von dieser sicher berechtigten Kritik, wäre der Einwand wichtig gewesen, dass der der deutsche EU-Nationalismus keine Schimäre der griechischen Parteikommunisten ist. Er existiert sowohl bei den deutschen Eliten als auch im Bündnis von Bevölkerung und Boulevardmedien. Mit dem Titel dieser Veranstaltung, der Bild-Schlagzeile „Verkauft doch Eure Inseln, ihr Pleitegriechen“, haben die Veranstalter_Innen deutlich darauf hingewiesen. Nur leider blieb genau dieser deutsche Nationalismus im Verlauf der Diskussion dann unerwähnt.

Exkurs: Zu Sarrazin und seinen verkürzten Kritiker_Innen:

Oft konnte man kleine, aber wichtige Erkenntnisse auch aus einigen Nebensätzen der Referent_Innen erfahren. So machte der Wiener Sozialwissenschaftler Karl Reitter eher beiläufig darauf aufmerksam, dass die Hetze gegen die „Pleite-Griechen“ als EU- Transferleistungsempfänger_Innen seine Entsprechung in der Sarrazin-Debatte in Deutschland hat. Denn auch der hetzt in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ gegen die Transferleistungsempfänger_Innen, die in Deutschland leben. Dabei geht es keineswegs nur oder auch nur vorrangig um Menschen mit Migrationshintergrund. Darauf hatte vor einigen Tagen in einer Veranstaltung  Karl-Heinz Schubert von der Onlinezeitung Trend  hingewiesen. Schubert wies in seiner Buchanalyse nach, dass diese Hetze gegen die Transferleistungsempfänger_Innen das Ziel verfolgt, die Kosten der Ware Arbeitskraft weiter zu senken und den Standort Deutschland zu stärken. Viele seiner Überlegungen werden in wirtschaftsnahen Denkfabriken seit Jahren publiziert und eher im Handelsblatt und der FAZ als in den Boulevardmedien diskutiert. Das Besondere an Sarrazins Intervention ist daher nicht, dass er solche Thesen zusammenfasst, sondern dass er sie popularisiert. Dazu dient die vielkritisierten rassistischen Einschläge, aber dazu dienen noch mehr die Diffamierung von Transferleistungsempfänger_Innen.

Hier wird auch erklärlich, warum Sarrazin viele Anhänger_Innen auch bei Menschen hat, die selber ein geringes Einkommen haben. Dort gibt es große Ressentiments gegen Menschen, die angeblich nur Geld aus den Versicherungssystemen beziehen, ohne je eingezahlt zu haben. Auch bei den Protesten gegen Hartz IV gab es, darauf hat Mag Wompel von Labournet hingewiesen, immer wieder Stimmen von Erwerbslosen, die darüber klagten, auf das Niveau von Sozialhilfeempfänger_Innen gedrückt zu werden, ohne aber infrage zu stellen, dass es Menschen geben soll, die auf ein solches Niveau gedrückt werden können. Hier ist das Einfallstor für die Hetze von Sarrazin und Co. Schubert machte aber auch deutlich, dass es sich hierbei um das Programm einer reaktionären Krisenlösung des Kapitals für den Standort Deutschland handelt. So wird in Sarrazins Buch ganz offen noch mehr Arbeitszwang für Erwerbslose propagiert und es wird offen gesagt, dass es dabei vor allem um eine Disziplinierung von Menschen geht, die nicht einsehen wollen, für einen Ein-Euro-Job früh aufstehen zu müssen. Hier kommt wieder die Parallele zum Krisenprogramm der griechischen Regierung ins Spiel, dass, so der Genosse von TPTG auf dem Bochumer Kongress, auch dazu dient, die griechischen Proletarier_Innen zu disziplinieren.

Weil eine solche Politik mittlerweile weitgehend akzeptiert wird bei Politik und Medien, wird von den Sarrazin-Kritiker_Innen seine Rolle als Anbieter reaktionärer kapitalistische Krisenlösungen kaum erwähnt.
Es gibt einige Ausnahmen wie z.B. Der Junge Welt Artikel "Der Haßprediger" von Michael Zander oder der SoZ-Artikel Sarrazin, Grotjahn, Olberg… von Wolfgang Ratzel.

Zumeist wird Sarrazins Buch heftig einer vorgeblich antirassistischen Kritik unterzogen, dabei handelt es sich allerdings um einen Antirassismus, der nichts von der Einbindung auch des Rassismus in die kapitalistische Verwertung wissen will. Wie verkürzt eine solche Kritik ist, zeigt sich an der aktuellen Debatte zur Zuwanderung, wo der Grundsatz: Wir brauchen Ausländer, die uns nutzen, kürzlich in der Taz von Gastautor und bekennenden extrem rechten Soziologen Norbert Bolz so formuliert wurde:

 „Multikulturalismus hieß bisher nur: Abschaffung der Qualitätskriterien bei der Einwanderung. Schon die Immigrationsgesetze von 1967 in Amerika haben diesen entscheidenden Umschwung gebracht. Seither gibt es ein humanitaristisches Tabu über der einfachen Frage: Können wir die Leute, die zu uns wollen, brauchen? Früher hat man ganz selbstverständlich nach Leistungsfähigkeit und Job-Qualifikation gefragt. Heute gelten solche Fragen nach dem Humankapital des Einwanderers als unmenschlich. In Wahrheit aber zeigen sie den Weg zur gelungenen Integration: Deutschland bekommt die Leute, die es braucht. Und die, die dann kommen, sind herzlich willkommen“.

Bolz wurde nur von der extremrechten Internetplattform Altermedia für seine klaren Worte gelobt. Doch wem dass nur Anlass für eine Antifakritik ist, übersieht, dass Bolz das kapitalistische Programm im Umgang mit den Zuwanderer_Innen auf den Punkt gebracht hat.

In diesem Sinne hat der Kongress „Kongresses zu Arbeit und Krise“ in Bochum auch einen Baustein geleistet, die Krise theoretisch zu begreifen und sich praktisch mit Modellen zu befassen, die nicht nur zur Stabilisierung von Kapital und Nation beitragen. Die Kongressorganisator_Innen sollten die Möglichkeit bieten, die interessanten Fragen, die auf dem Kongress aufgeworfen wurden, auch im Internet weiter zu diskutieren.

Editorische Anmerkungen

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