„Die Beschäftigungs- und Qualifizierungsindustrie – Profiteure des sozialen Elends“
Materialien zum Kiezspaziergang am 6. Oktober 2010 in Neukölln im Rahmen der Herbstaktionstage „Berlin on Sale – nicht mit uns!“

von Joachim Maiworm /AG Beschäftigungsindustrie

12/10

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Anmerkungen zu den Einsatzstellen und Trägern 

Armut ist ein gutes Geschäft für jene, die es verwalten. Auch mit Erwerbslosen lässt sich Geld verdienen. Denn nicht alle sind für den Arbeitsmarkt „überflüssig“. Im letzten Jahr wurden beispielsweise im Jahresdurchschnitt fast 280.000 Menschen als Ein-Euro-Jobber eingesetzt. Es ist die Rede von einem zweiten, auch von einem dritten Arbeitsmarkt. Und auf diese fließen öffentliche Mittel in Milliardenhöhe.

Insbesondere die großen Wohlfahrtsverbände, aber auch andere überregional und bisweilen sogar international operierende Unternehmen, beantragen Ein-Euro-Jobber im großen Maßstab, reichen sie an Einsatzstellen weiter und kassieren dafür die Fallpauschalen.

Für jeden vermaßnahmten Erwerbslosen erhalten die Träger Summen zwischen 200 und 400 Euro. Das Diakonische Werk etwa ging 2005 davon aus, dass in Neukölln 380 Euro pro Fall zu erwarten sei, von denen die Mehraufwandsentschädigung und die Verwaltungskosten zu bestreiten sind. Kann eine große Anzahl von Stellen akquiriert und vermittelt werden, bleibt auf jeden Fall auch ein stattlicher Gewinn übrig.

Im September waren in Berlin über 36.000 Menschen in sogenannten Arbeitsgelegenheiten nach § 16 SGB II tätig.[1] Ein Drittel der Neuköllner Erwerbslosen, das sind etwa 12.000, stecken laut Jobcenter-Bericht vom Beginn des Jahres in MAE-Maßnahmen[2]. Es sammeln sich also riesige Geldbeträge in der Beschäftigungsindustrie. Nicht umsonst wurden in der Vergangenheit viele Träger gegründet. Allein die in Lobbyverbänden organisierten Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften in Deutschland belaufen sich auf über 1.000. In Berlin werden sie auf etwa 500 geschätzt. Viele davon tummeln sich auch in Neukölln, was nicht verwundert. Man braucht bloß durch die Straßen zu ziehen, an beinahe jeder Ecke lässt sich eine Einrichtung oder eine Geschäftsstelle eines Trägers entdecken.

Am 6. Oktober trafen sich zwischen 25 und 30 Menschen, um in Neukölln einige Trägern bzw. Einsatzstellen aufzusuchen. Beabsichtigt war, mit Betroffenen von Arbeitsgelegenheiten, vornehmlich Ein-Euro-Jobbern, zu sprechen, mehr über ihre Arbeitsbedingungen zu erfahren, selber Informationen weiterzugeben und über Funktion und Auswirkungen der modernen Arbeitsdienste zu diskutieren. Um 11:30 Uhr trafen sich die Interessierten am Reuterplatz. Die vorgesehene Strecke bot folgende Stationen auf:

  • die evangelische Nikodemus-Gemeinde in der Nansenstraße (Café

  • die Martin-Luther-Gemeinde in der Fuldastraße (Lebensmittel-Verteilaktion von „Laib und Seele“)

  • das Rathaus (Hintergrund Rechtspopulismus)

  • ein Laden der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft in Tempelhof GmbH (Bequit) in der Boddinstraße (Kiezläufer)

  • Treberhilfe gGmbH (Sozial- oder Armutsindustrie)

  • Kammer der Technik Fort- und Umschulungs GmbH (KdT) in der Werbellinstraße (Weiterbildungsindustrie)

  • Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Falkstraße (Wohlfahrtsverband)

Letztlich reichte die Zeit für einen Spaziergang zu den evangelischen Gemeinden, dem Vorplatz des Neuköllner Rathauses sowie der Filiale von Bequit. Im Folgenden sollen Informationen zu allen (auch den nicht besuchten) Institutionen gegeben werden, um die besonderen Merkmale zu beschreiben, die den Charakter dieser speziellen  „Industrie“ ausmachen.

Die Nikodemus-Gemeinde in der Nansenstraße

 

Ein wenig Faktenhuberei zum Einstieg: In Deutschland sind die christlichen Kirchen mit etwa 1,3 Millionen Beschäftigten nach dem öffentlichen Dienst der zweitgrößte Arbeitgeber. 1,2 Millionen davon verteilen sich auf die beiden großen Sozialverbände – die Caritas für die katholische und das Diakonische Werk für die evangelische Seite. 100.000 Menschen arbeiten für die sogenannte verfasste Kirche, d.h. vor allem in den Gemeinden. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-Oberlausitz zählt fast 1.400 Kirchengemeinden in 37 Kirchenkreisen. Sie verkündet offiziell, dass neben 8.500 hauptamtlichen Mitarbeiter/innen 44.000 Menschen ehrenamtlich tätig sind. Unerwähnt bleibt hingegen, dass auch viele Menschen in „Maßnahmen“, also in erster Linie Ein-Euro-Jobs, beschäftigt werden. Da tut sich Erstaunliches auf. Eigene Recherchen ergaben, dass in der Nikodemus-Gemeinde 18 bis 20 Arbeitskräfte mit Mehraufwandsentschädigung (MAE) arbeiten, in der benachbarten Martin-Luther-Gemeinde ca. 25. Hochgerechnet auf die insgesamt 34 Gemeinden im Kirchenkreis Neukölln sind das 600 bis 850 Menschen, die für die evangelische Kirche in diesem Teil Berlins 30 Stunden pro Woche ohne Arbeitsvertrag, d.h. auch ohne Lohnfortzahlung bei Krankheit und Urlaub schaffen.

 

Der Besuch im Rahmen des Kiezspaziergangs ergab vor allem zweierlei. Erstens: Der Einsatz der MAEs erfolgt rechtswidrig, weil das Gebot der Zusätzlichkeit grundsätzlich missachtet wird. Routinearbeiten, wie z.B. Hausmeister- oder Gartenpflegetätigkeiten, unterliegen offiziell einem Verbot, um „reguläre“ Arbeitsplätze, sofern überhaupt vorhanden, vor einer Verdrängung zu schützen. Aber wie eine anwesende MAE-Kraft offen verlauten ließ: „Alle wissen, dass Ein-Euro-Jobs zusätzlich sind, und alle wissen, dass es nicht so ist!“.

Zweitens: Der laufende Betrieb ist ohne die Gratisarbeit der Jobber nicht aufrechtzuerhalten. Neben einem Pfarrer und einer Küsterin in Teilzeit erledigen in der Nikodemus-Gemeinde zwangsweise zugewiesene [3]

Im Vorfeld der Einführung von Hartz IV übte die Leitungsebene der evangelische Kirche jedoch Kritik an den MAE-Jobs. So bemerkte der damalige Berliner Bischof Huber mehrfach, dass die Arbeitsgelegenheiten nur unter zwei Voraussetzungen genutzt werden sollten. Erstens dürften sie nicht zu Lasten regulärer Arbeitsplätze gehen, zweitens müssten sie besser gestaltet werden, als es der Gesetzgeber vorsah.[4][5] Auch in den veröffentlichten Grundsätzen dieser neu geschaffenen Institution wird zwar betont, dass reguläre Beschäftigungsverhältnisse nicht verdrängt werden dürfen und die MAEler „möglichst“ mit der Zuweisung einverstanden sein sollen. Die Kirchenoberen setzten und setzen jedoch die Erwerbslosen hemmungslos entgegen den selbst verkündeten Prinzipien und der seit 2006 geltenden „Positivliste“ in den sozialen Einrichtungen und den Gemeinden ein. Anfang des Jahres noch bestätigte die Direktorin des hiesigen Diakonischen Werks und Sprecherin der Berliner Landesarmutskonferenz, dass die Ein-Euro-Jobs ausdrücklich als erfolgreich zu werten sind und fortgesetzt werden sollen.[6] Diese Haltung liegt konsequent auf der Linie der evangelischen Wirtschaftsethik, wie sie in der Denkschrift mit dem Titel „ Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ (2008) deutlich wird. Die unternehmerische Mentalität soll unter anderem auch bei Pfarrern und aktiven Gemeindemitgliedern gefördert und nicht zuletzt zunehmend flexiblere Beschäftigungsverhältnisse angeboten werden. Fazit: Entlassungen und Billiglöhne bzw. Gratisarbeit in kirchlichen Unternehmen werden ethisch angebunden und damit legitimiert, erhalten also quasi ihre philosophische Zertifizierung. Die diskriminierenden und zu einem großen Teil offen rechtswidrig eingesetzten Beschäftigungsverhältnisse halten den Normalbetrieb des Unternehmens Kirche in Gang.

 

Die Martin-Luther-Gemeinde in der Fuldastraße

 

Laut Auskunft des verantwortlichen Pfarrers weist die Personalliste der Gemeinde neben 54 Festangestellten (in der „Kerngemeinde“) 25 MAE-Kräfte auf. Daneben arbeiten fünf Menschen im Rahmen des Öffentlichen Beschäftigungssektors und mehrere Personen im „Arbeit statt Strafe“-Programm. Manche der MAEler arbeiten offensichtlich mehrere Jahre in Folge auf Basis dieses Beschäftigungsverhältnisses. Richtige Maßnahmekarrieren laufen ab. Der Pfarrer selbst sprach bei einer Begegnung von einem Mann, der seit 12 Jahren auf  Basis von Arbeitsgelegenheiten unterschiedlicher Art in der Gemeinde tätig ist.

 

Zusammen mit der Berliner Tafel e.V. und dem rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg) organisieren die Kirchen die Aktion „Laib und Seele“. Der Gemeindesaal in der Fuldastraße dient an einem Tag in der Woche als Ausgabestelle für die Lebensmittelverteilung. Der Kiezspaziergang am 6. Oktober führte die Interessierten zur Warteschlange der Bedürftigen vor der Kirche. Ziel der Begegnung war,  auf die Ambivalenz der „Armenspeisung“ hinzuweisen. Unter den gegebenen Umständen (zu niedrige Regelsätze etc.) sind immer mehr Menschen auf die Lebensmittelspenden angewiesen, das Anliegen der Organisatoren von „Laib und Seele“ müsste aber sein, sich selbst überflüssig zu machen, d.h. zugleich politisch aktiv zu werden. Sekt an die Schlangestehenden wurde verteilt, um auf ein mögliches „gutes Leben“ hinzuweisen, gegen die aktuell verkündete Kürzung des Regelsatzes um die Ausgaben für Tabak und Alkohol zu protestieren, die erzwungene Mangelernährung anzuprangern und  die Disziplinierung der Armen im Rahmen der Lebensmittelverteilung (Alkoholverbot etc.) zu thematisieren. Der Anknüpfungspunkt für die Problematisierung der Beschäftigungsindustrie: Auch dieser Bereich der sozialen Arbeit läuft nicht ohne Einsatz der Armen (sprich Ein-Euro-Jobber) selbst. Auch die bundesweit expandierende Tafelbewegung „lebt“ von zugewiesenen Arbeitskräften, die sich – sinnfällig genug – als „Belohnung“ als erste in die Schlange der Anstehenden einreihen dürfen (wie zu beobachten war).

 

Die Position der AG Beschäftigungsindustrie zur Vertafelung der Republik (das verteilte Flugblatt): 

Gegen die Vertafelung der Gesellschaft! 

Mit der Klasse der „Überflüssigen“ sind auch die Lebensmitteltafeln entstanden. Die „Überflüssigen & Tagelöhner“ dieser Gesellschaft fordern jedoch seit Jahren eine Regelsatzerhöhung. Damit die Hartz IV-Bezieher nicht dazu gezwungen sind, Almosenempfänger von Tafeln zu sein. Soziale Rechte statt Almosen!

Die Tafelbewegung in Deutschland ist eine „Erfolgsgeschichte“.

1963 gab es die erste Tafel in den USA. In Deutschland ging es später los. Hier existieren inzwischen 800 Tafeln mit mehr als 2.000 Ausgabestellen, die von einer Millionen Menschen genutzt werden. Organisiert und durchgeführt werden sie von ca. 40.000 meistens ehrenamtliche Tafelaktivisten, darunter einige Tausende Ein-Euro-Jobber. 1993 wurde die erste Tafel  in Berlin gegründet. Ende 2005 gab es in Berlin bereits 33 Lebensmittelausgabestellen, bis Ende 2006 waren es 43.

Etwa 3,6% der Berliner Bevölkerung werden monatlich mit etwa 550 Tonnen Lebensmitteln versorgt. Neben den 600 Ehrenamtlichen und den etwa in gleicher Zahl helfenden Kirchengemeindemitgliedern bei „Leib und Seele“ arbeiten auch etwa 50 Ein-Euro-Jobber bei der Berliner Tafel.

Mit Hartz IV begann ein stetiges starkes Wachstum der Tafeln. Die Gesellschaft hat sich mittlerweile an sie gewöhnt.

Die Sponsoren

Die Spenderinstitutionen, wie z.B. Supermärkte, sparen sich die Entsorgungskosten. Dafür verlangen sie aber Dankbarkeit und natürlich eine Spendenbescheinigung.

Die Spender lassen sich sogar von Tafeln die Restware aussortieren und sparen so auch noch Personalkosten. Die Mitarbeiter in den Supermärkten wiederum dürfen nichts Überflüssiges mitnehmen, sonst riskieren sie eine Bagatellkündigung. Die Sponsoren wollen Kosten zusammenstreichen und auch noch einen Imagegewinn durch ihre „gute Tat“ erzielen.

Viele dieser Unternehmen engagieren sich gleichzeitig für den Sozialabbau und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Bei den Tafeln profilieren sie sich als soziale Wohltäter.

Die Disziplinierung der Armen

Ein typisches Phänomen einer Gesellschaft des Sozialabbaus ist der Ausschluss der Armen vom Konsum. Was am Markt nicht gewählt wird bleibt übrig für die Tafelnutzer. „Es wird eine Tafel angekündigt, aber ein Resteessen aufgetragen.“, sagte ein Buchautor dazu.

Mit der Zunahme der Tafelnutzer nehmen auch die Disziplinierungen zu. Die Tafelnutzer müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen, es gibt Listen, Stempel, Ausweise und Kontrollen.

„Die Würde der Kunden, die eigentlich bewahrt werden soll, wird durch Erziehungs- und Disziplinierungsmaßnahmen immer wieder untergraben.“, sagt der Autor.

Denn die Tafelkunden werden nicht wie „normale“ Kunden behandelt. Sie müssen sich anpassen, viele sind nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Diese Disziplinierung ist abschreckend, viele haben aber auch noch Schwellenangst, weil sie sich schämen. Die Tafeln sind ein gesellschaftlicher Mechanismus zur Disziplinierung des Elends.

Almosen statt soziale Rechte

Wie im Mittelalter sollen die Wohlhabenden spenden und die Bedürftigen dankbar sein.

Der Sozialstaates wird zerstört, die Rückkehr zur privaten Wohltätigkeit des 19. Jahrhunderts macht die Armen wieder zu Almosenempfängern. Der Staat gibt seine soziale Verantwortung an die karitative Wohltätigkeit ab. Ehemals einklagbare sozialstaatliche Leistungen wurden abgebaut und sollen nun durch private Hilfen, also Almosen, ersetzt werden.

Aber die Tafeln leben nicht nur von der Armut, sie befördern auch prekäre Arbeitsverhältnisse. Die Tafeln arbeiten mit Lebensmittelketten zusammen, die immer mehr „working poor“-Jobs anbieten. Ein Beweis für die Refeudalisierung der Gesellschaft. Auch der zunehmende Einsatz von Ein-Euro-Jobbern ist problematisch.

Empörung statt Mitleid

Und manche Politiker meinen, dass man von Hartz IV ja toll leben kann. Sie erhöhen die Regelsätze nicht, weil die Tafeln ja schon helfen werden. „Geh doch zur Tafel“, heißt es. Die Tafeln stützen eine menschenunwürdige Sozialpolitik. Der Bundesvorstandsvorsitzender der Tafeln, Gerd Häuser, äußerte sogar selbstkritisch: „Es gibt Leute, die sagen, wir verhindern den Aufstand von unten.”

Statt  öffentliche Empörung über die zunehmende soziale Spaltung wird Mitleid für  die Betroffenen erzeugt. Auf diese Weise soll jeder politische Widerstandswille im Keim erstickt werden. „Das ist der gefährlichste Effekt der Tafeln“, sagte jüngst ein Vertreter des Berliner Sozialforums.

Die Tafeln wären wirklich erfolgreich, wenn sie sich selbst abschaffen würden. Anders gesagt: Je erfolgreicher die Tafeln sind, desto weniger ändert sich am eigentlichen Problem.

Aber die Tafeln können nicht von heute auf morgen geschlossen werden, denn zu viele Menschen sind auf sie angewiesen. Insofern problematisch ist eine ganz aktuelle Meldung des Vereins von Ende September: „Völlig unerwartet gehen seit einiger Zeit kaum noch Spendengelder auf dem Konto des Vereins ein.“ Eine Folge des zunehmenden Rechtspopulismus, ein weiteres Zeichen für die laufende Entsolidarisierung in der Gesellschaft? 

Das kann uns aber nicht davon abhalten, Kritik an den Tafeln zu üben. Statt der Abspeisung der Armen ist die Selbstorganisation und ihre Befähigung zum politischen Widerstand angesagt!

Mit der politischen Gegenwehr müssen wir dafür sorgen, dass die Tafeln überflüssig werden. Dafür steht der Kampf für eine Regelsatzerhöhung!

Die Interpretation der Armutspolitik und der politischen Bedeutung der Beschäftigungsindustrie erfordert einen Blick auf den politischen Gesamtzusammenhang, insbesondere auf den wirkmächtigen Rechtspopulismus. Von der Martin-Luther-Gemeinde führte uns der Weg zum Neuköllner Rathaus, in dem der überregional durch seine „Law and Order“-Thesen bekannte Sozialdemokrat Buschkowsky residiert. Die Bedeutung der herrschenden Diskurse für den thematischen Kontext im Folgenden.

 

Das Rathaus

 

Buschkowsky, Sozialdemokrat und Rechtspopulist, agiert nach der Prämisse: „Keine Prävention ohne Repression!“. Staatliche Leistungen verbindet er konsequent mit der Erwartung einer Gegenleistung (z.B. Einhaltung der Schulpflicht). Enttäuschen die Transferempfänger/innen den Staat, drohen Sanktionen. Buschkowsky outet sich als Fan des so genannten Rotterdamer Modells, nach dem interdisziplinär eingerichtete Interventionsteams die marokkanisch-niederländischen „Problemjugendlichen“ bearbeiten. „Risikofamilien“ droht dort bei „sozial unzumutbarem Verhalten“ der Zwangsumzug in ein anderes Stadtviertel, das allerdings mit der Aufnahme der Familie einverstanden sein muss. Verbunden ist diese Maßnahme mit der Anweisung, den bisherigen Bezirk nicht mehr zu betreten (vgl. Kirsten Heisig, Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter, Freiburg, 2010, S. 170). Der Bezirksbürgermeister empfahl bei seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten, die Maßnahmen der Stadtverwaltung von Rotterdam auch in Berlin einzuführen.

 

Vom politischen Populismus in Sachen Repression zur Propaganda der Ungleichheit mit philosophischen Anstrich:

In einem Artikel in der FAZ Mitte 2009 provozierte der Philosoph Peter Sloterdijk die akademische Öffentlichkeit mit der Forderung nach einer „Abschaffung der Zwangssteuern“ und deren Umwandlung in Geschenke. Freiwillige Gaben der „produktiven“ Schichten der „Leistungsträger“ an die Allgemeinheit sollen den auf Rechtsansprüchen basierenden Sozialstaat ersetzen durch ein Mäzenatentum. Dieses Plädoyer richtet sich in neuer und rhetorisch überdrehter Form gegen die „unproduktiven“ Teile der Bevölkerung und deutet die gängigen Vorstellungen von Umverteilung und (rechtlichen) Ansprüchen um. Die „Enteignung“ der leistungsbereiten und -starken Bevölkerungsteile soll beendet, die vollständige Abhängigkeit der Armutsbevölkerung von Gönnern hergestellt werden.

Die These, die „Leistungsträger“ würden durch die Steuerlast ausgebeutet, wurde im Feuilleton ernsthaft debattiert – ein deutlicher Beleg für das ansteigende Ressentiment „von oben“ gegen die sozial Schwachen. „Unproduktive leben auf Kosten der Produktiven!“, so lautet die Parole. In die gleiche Kerbe schlägt auch Gunnar Heinsohn, renommierter Soziologe aus Bremen. Im Frühjahr dieses Jahres platzierte er in der „ZEIT“ seine Forderung nach einer Begrenzung der Sozialhilfe auf fünf Jahre – in Anlehnung an die US-amerikanischen Bestimmungen. Um die lebenslange Alimentierung durch die Transfersysteme zu beenden, solle der Sozialstaat radikal verändert werden. Denn Frauen aus der Unterschicht sähen ihre Schwangerschaften als Kapital an, da der Nachwuchs öffentlich finanziert werde. Die notwendige qualifizierte Einwanderung hingegen würde durch den teuren Transfersektor behindert, weil dieser durch die interessierten Fachkräfte aus dem Ausland mitfinanziert werden müsste. Eine Entwicklung, die auf einen Staatsbankrott hinauslaufe.

 

Ein auf Asozialität abzielender ideologischer Überbau sichert den „Klassenkampf von oben“ gegen die ökonomisch überflüssige Bevölkerung ab. Beschäftigungsträger und Einsatzstellen von Ein-Euro-Jobs sind dabei auf ambivalente Weise in diesen Prozess eingebunden. Die Armen reproduzieren sich selbst, in Abhängigkeit von freiwilligen (!) Zuwendungen Wohlhabender oder der Industrie. Die in den Medien diskutierten sozialphilosophischen Überlegungen weisen nicht zuletzt auch auf die gestiegene Bedeutung der Tafelbewegung in Deutschland hin. Denn real gesunkene Regelleistungssätze müssen bereits heute von immer mehr Menschen durch die Annahme freiwilliger Spenden kompensiert werden (von Lebensmittel-Discountern etc.).

 

Die Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft in Tempelhof GmbH (Bequit)

In Neukölln gibt es neun Quartiersmanagement-Gebiete, in denen nach offizieller Zielsetzung durch die Zusammenarbeit der verschiedenen kommunalen und sozialen Institutionen eine soziale „Stabilisierung“ erreicht werden soll. Bestandteil dieser Strategie ist bezeichnenderweise die Vermischung von Beschäftigungs- und lokaler Kriminalpolitik.[7] Neben der Polizei und kommerziellen Sicherheitsfirmen agieren auch Langzeiterwerbslose im Rahmen von Arbeitsgelegenheiten als alternative Sicherheitsdienste. Für ein „sauberes und sicheres Wohnumfeld“ sollen auch die sogenannten Kiezläufer der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft in Tempelhof GmbH, kurz Bequit, sorgen. Eine Anlaufstelle dieser „Partner im Kiez“ (laut Webseite von Bequit) befindet sich in der Boddinstraße, der nächsten Station der Kiez-Spaziergänger. Der dort angetroffene Verantwortliche für ein derartiges „Aufsichtsprojekt“ erläuterte, dass er im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit-Entgeltvariante[8] beschäftigt sei. Zum Umgang mit sogenannten Randgruppen im Kiez wollte er sich jedoch nicht weiter äußern. Die Arbeit der Kiezläufer: eine Tätigkeit zwischen Niedriglohn und Law-and-Order-Praktiken, organisiert von einem Träger, dessen Gesellschafter die FAA Bildungsgesellschaft mbH Nord mit Sitz in Hannover ist. Dieser überregional tätige Anbieter der beruflichen Weiterbildung mit 450 festangestellten Mitarbeiter/innen bietet im Grunde ein Rundum-Paket für von Arbeitslosigkeit Bedrohte und Erwerbslose an: Erwachsenenbildung, Trainingsmaßnahmen, Arbeitsgelegenheiten, private Arbeitsvermittlung, Outplacement-Beratung. Bequit: Ein weiteres Beispiel für die gut organisierte und weitverzweigte Beschäftigungsindustrie.

Die Treberhilfe gGmbH

In der Mainzer Straße 59 befindet sich das Projekt „Helpline Team Neukölln“ der Treberhilfe (Wohnraumversorgung von Jugendlichen). Die Treberhilfe steht nicht exemplarisch für bestimmte Charakterzüge der Beschäftigungs-, wohl aber generell der Sozialindustrie. Die Vorgänge um diese gemeinnützige Organisation werfen auch ein Licht auf die Struktur der Beschäftigungsträger im engeren Sinne.

Die „Maserati-Affäre“ brachte die Gesellschaft und insbesondere ihre Geschäftsführung im Frühjahr 2010 in Verruf. Im Züge der Ermittlungen stellte ein externer Steuerprüfer fest, dass der Geschäftsführer 2009 ein Jahresgehalt von 435.000 Euro bezog.[9] Erstaunlich für einen Unternehmer des Non-Profit-Sektors. Ein Beleg dafür, dass der Status der Gemeinnützigkeit eine „Einladung für Betrüger“ ist, wie der Gründer von Charity Watch in einer TV-Sendung feststellte.[10] Als „gemeinnützig“ gilt steuerrechtlich[11], wessen Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet „selbstlos“ zu fördern. Wann handelt man in diesem Sinne „selbstlos“? Wenn „dadurch nicht in erster Linie gewerbliche oder sonstige Erwerbszwecke verfolgt werden“.[12] Da die Transparenz bei gemeinnützigen Vereinen oder Unternehmen völlig unzureichend ist, zum Beispiel keine Offenlegungspflichten gegenüber den Finanzämtern bestehen, sind Skandale à la Treberhilfe möglich. Anders ausgedrückt: Das Skandalöse scheint die Normalität zu sein. Denn Sozialarbeit wird in der Regel in der Unternehmensform der gGmbH organisiert. Bilanzen werden also nicht erstellt, so dass unbekannt bleibt, wie es um die Gewinne steht.

Hinzu kommt: Die Überschüsse der Treberhilfe wurden zum Teil durch eine Überbelegung der Einrichtungen erwirtschaftet, den Mitarbeitern ein untertarifliches Gehalt bezahlt, ihnen nur 20 Tage Urlaub im Jahr gewährt, die Wahl eines Betriebsrats aktiv behindert.[13] In der Sozialindustrie ist reines unternehmerisches Denken zur Maxime geworden. Bei einer Fachtagung im Februar 2010 stellte die Treberhilfe ihr Konzept des „Social Profits“ („soziale Rentabilität“) vor. Als Mitveranstalter traten die Diakonie Berlin, die Arbeiterwohlfahrt und die Unternehmensberatung Kienbaum auf. Die Zielsetzung war, den volkswirtschaftlichen Nutzen der freien Wohlfahrtspflege am Beispiel der Treberhilfe aufzeigen. Einen Nutzen, der rein monetär bemessen wird. Denn die Kategorie des „Social Profit“ bezieht sich auf die Einsparungsbeträge durch Eingliederungserfolge (Aufnahme von Erwerbsarbeit, Vermeidung von Haft etc.). Der gesellschaftliche Nutzen von Sozialunternehmen soll demnach also allein durch die Höhe der Rückflüsse in die verschiedenen öffentlichen Kassen definiert werden.

Für das Jahr 2008 stellte die gemeinnützige GmbH einen „Social Profit“ von 15 Prozent fest, d.h. für jeden Euro aus Haushaltsmitteln flossen nach dieser Rechnung 1,15 Euro an den Staat zurück. Eine skurrile Bilanzierung: Je „höher“ die Regelsätze für Grundsicherung und Sozialhilfe ausfallen, um so höher ist auch der Profit des Staates, sofern die gemeinnützige Gesellschaft ihren Auftrag der Eingliederung erfüllt und zur Vermeidung staatlicher Transfers an die Betroffenen beiträgt. Kürzt der Staat die Sozialleistungen, sinkt auch sein Profit – nach dieser Logik. Vom Profit der Treberhilfe ist dabei nicht die Rede. Ein geschickter Schachzug des geschäftstüchtigen Geschäftsführers. Aber zudem auch ein Indiz für die forcierte Ökonomisierung des Sozialen. Denn die individuellen Lebenswege der betroffenen Menschen werden auf eine statistische Kennzahl reduziert. Wenn schon die wohltätigen Vereine, Verbände und Gesellschaften – offiziell – keine Gewinne erwirtschaften dürfen, so soll die Sozialarbeit wenigstens für den Staat einen Profit abwerfen. Soziale Aufwendungen werden als Investitionen betrachtet, die Rendite einzubringen und mittelfristig die öffentlichen Haushalte zu entlasten haben. Anders gesagt: Hilfebedürftige Menschen sollen zu einer „selbstständigen Lebensführung“ zurückfinden und wenn irgend möglich eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen. Die Treberhilfe versucht also „einen transparenten und messbaren Beleg für die Wirksamkeit sozialer Dienstleistungen“ einzuführen. Weiter im holprigen Treberhilfe-Deutsch: „In Blick auf die und von der Sozialwirtschaft ist deshalb ein Perspektivwechsel nötig. Denn die Sozialwirtschaft kann glaubhaft belegen, dass sie die gesellschaftliche mit der wirtschaftlichen Stabilisierung vereint“.[14] Fragt sich, zu welchen Ergebnissen zukünftig die Rentabilitätsberechnungen führen und welche Maßnahmen im ökonomischen Interesse des Staates getroffen werden. Die von der Treberhilfe eingeführte Formel reiht sich letztlich ein in ein hegemoniales gesellschaftliches Kosten-Nutzen-Denken, das sich für die sozial Ausgegrenzten als zunehmend gefährlich zu erweisen droht.

Kammer der Technik Fortbildungs- und Umschulungs GmbH (KdT)

An der Ecke Boddinstraße/ Mainzer Straße erblicken die Kiezspaziergänger in südlicher Richtung auf der rechten Seite das Jobcenter, auf der linken, leicht versetzt, das Gelände der früheren Kindl-Brauerei an der Werbellinstraße. Laut Planungen werden dort in zwei Jahren junge Menschen aus Deutschland und dem Ausland an der neuen Privatuniversität "Berlin Business School" mit ihrem Studium beginnen. Ein riesiges Bildungsareal im Norden des Bezirks soll entstehen. Die Fächer Betriebswirtschaft, Informatik, Medien- und Kommunikationswissenschaften werden den Lehrplan bestimmen (Vorlesungs- und Seminarsprache: Englisch).[15] Neuköllns Rollbergkiez als internationale Eliteschmiede? Ja und Nein. Denn am gleichen Ort befindet sich auch ein Einsatzort der für Erwerbslose relevanten Weiterbildungsgesellschaft KdT. Das Unternehmen bewirbt ein breites Geschäftsfeld: Consulting Leistungen im internationalen Bereich, Joint ventures in den Ländern der russischen Föderation, Vermittlung von Arbeitskräften und nicht zuletzt Aus- und Weiterbildung für technische, kaufmännische und verwaltungstechnische Fachkräfte.

Starke Selbstdarstellung. Jedoch: Die Realität der beruflichen Weiterbildung für Erwerbslose an diesem Ort lässt sich aus eigener Erfahrung beschreiben und bietet ein weniger glanzvolles Bild. Die KdT – ein Beispiel für die Vielzahl irrationaler und bisweilen skurril anmutende Eingliederungsmaßnahmen auf Kosten der „Kunden“ (und der meisten Lehrkräfte), aber zum Wohle der Profiteure der Qualifizierungsindustrie.

Spätestens mit den Hartz-Reformen ab 2003 war eine Marktbereinigung unter den Weiterbildungsinstituten verbunden. Nicht nur wurde ein Prekarisierungsschub unter den Beschäftigten der Branche ausgelöst, sondern auch der Wert der Maßnahmen für die lernenden Erwerbslosen gemindert. Denn trotz der Sonntagsreden der Politiker über die Bedeutung des lebenslangen Lernens müssen einerseits die Lehrkräfte als billige Tagelöhner arbeiten, andererseits die „Kunden“ mit weniger, zunehmend kürzeren und damit billigeren Maßnahmen vorlieb nehmen. [16]

Auf der Webseite der KdT lesen wir:

„Wo Arbeit zur Mangelware geworden ist, führen viele ehemals bewährte Methoden nicht mehr zum Erfolg. Diese Veränderungen gestalten wir mit neuen Denkansätzen, innovativen Konzepten und wirkungsvollen Strategien. Indem wir ihre Ressourcen stärken und ihre Potenziale erschließen, begegnen wir den von uns betreuten Menschen mit Würde und Klarheit. Wir befähigen sie zum selbst bestimmten Handeln und zur eigenständigen Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz.“ 

„Innovative Konzepte“, „wirkungsvolle Strategien“, „Ressourcen stärken“, „Potenziale erschließen“: Der Sound der Marketing- und Wirtschaftssprache verschleiert den kümmerlichen Gehalt der angebotenen Bildungsmaßnahmen. Denn die bauen bei der KdT auf einer modular aufgebauten Selbstlernmethode auf. Aus fast 200 berufsbezogenen Modulen und Themen kann individuell ein Lernplan erstellt und verfolgt werden, fachlich begleitet von einem Lerncoach bzw. –moderator. So die Theorie. Ein Blick in die Praxis jedoch zeigt: Die Lernenden sitzen einsam vor ihren Flachbildschirmen, lesen die von der Datenbank bereitgestellten Basistexte und beantworten die vorgeschriebenen digitalen Fragenkataloge Der Einfachheit halber häufig genug im Copy & Paste-Verfahren, weil es so schneller geht. Dafür aber bleiben die Inhalte um so öfter unverstanden. Eine Lernkontrolle oder -begleitung findet nicht statt, weil der Betreuungsschlüssel miserabel ist. Die durchaus motivierten „Moderatoren“ haben gar keine Zeit, sich um ihre Schützlinge zu kümmern. Die technisch ausgerichtete Bildungsanstalt („Anstalt“, denn es handelt sich vornehmlich um einen Aufbewahrungsort für Erwerbslose) wird besonders stark von angehenden Hausmeistern frequentiert. Menschen, die häufig genug von der Arbeitsagentur bzw. einem Jobcenter dazu auserwählt und bestimmt wurden. Sie lernen unter anderem die Grundlagen der Rhetorik – schweigend und allein vor dem Bildschirm. Was immer wieder zu Erheiterungen führt. Anderes lustiges Beispiel: Das aus den Modulen selbst ausgewählte Schnellschreib-Training lässt der Bildungsanbieter durch die freie Tipp-10-Selbstlernsoftware absolvieren. Das könnte der Schüler allerdings auch zu Hause downloaden, um dort zu üben. Denn fachliche Unterstützung durch die Lerncoaches wird dabei nicht geleistet. Aber der Anbieter erhält für die in den eigenen Seminarräumen angesetzten 40 Stunden 167,20 Euro vom Jobcenter. Insgesamt kostet eine etwa siebenmonatige Maßnahme dem Steuerzahler fast 4.000 Euro – fast ohne Effekt. Denn weder interessiert sich die Wirtschaft für das ausgestellte Zertifikat, noch stellt sich ein wesentlicher Lernerfolg ein. Veraltetes, schlecht aufbereitetes Lehrmaterial und überforderte, weil überlastete Lehrkräfte garantieren letztlich Frust, der die Erwerbslosen in Ironien und Sarkasmen flüchten lässt. Aber leider nur in den seltensten Fällen eine Protesthaltung hervorruft. 

Für die Privatwirtschaft bzw. öffentliche Arbeitgeber lohnt sich diese Form der „Weiterbildung“ dennoch. Ein obligatorisches vierwöchiges Praktikum, das offiziell die Erwerbschancen erhöhen soll, bietet dem Markt kostenlose Arbeitskräfte an. Ein Beispiel: Eine Erwerbslose mit Berufserfahrung im Reinigungsservice wird von ihrem Jobservice zu einem dreimonatigen Kurs in der KdT verdonnert. Sie lernt zum einen theoretisch Dinge, die sie praktisch aus dem Effeff beherrscht, muss zum anderen sich mit Themen auseinandersetzen, die sie nicht interessieren und für ihr Berufsfeld völlig unerheblich sind. Das integrierte Praktikum leistet sie in einem kleinen Berliner Hotel ab. Das nutzt ihre kostenlose Arbeitskraft gerne aus und beschäftigt sie dann auf Niedriglohnbasis weiter. Aus offizieller Sicht eine Win-Win-Win-Situation: Die Betroffene ist „wieder in Arbeit“, das Hotel lässt sich die Frau über Wochen vom Staat bezahlen und der Bildungsanbieter darf voller Stolz einen Vermittlungserfolg verkünden (intern lässt er verlauten, dass er eine Vermittlungsquote von 90 Prozent erreicht. Ohne natürlich diese völlig überzogene Aussage belegen zu können). 

Ein realistischer Blick auf die Weiterbildungsindustrie, wie sie das Beipiel KdT in Neukölln exemplarisch zeigt, belegt: Die gesteigerte Marktkonkurrenz führt zu immer schlechteren Lern- und Lehrbedingungen zu Lasten der Erwerbslosen als auch der zunehmend prekär arbeitenden Dozenten und Dozentinnen. Die Gewinner finden wir woanders: in der Industrie, bei den öffentlichen Arbeitgebern sowie den sich am Markt behauptenden Weiterbildungsgesellschaften.  

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) 

Jenseits der Rollberstraße befindet sich in der Falkstraße das Familienkompetenzzentrum der AWO Süd-Ost. Auch als dessen Zielstellung wird angegeben, über Bildung zu einer Verbesserung der sozialen Lage beizutragen. Eltern sollen zur Teilnahme an Weiterbildungsprojekten gewonnen und motiviert werden, ggf. Hilfe und Beratung anzunehmen. Auch die Eltern- und Familienarbeit praktizierenden Stadtteilmütter haben an diesem Ort ihre Anlaufstelle (für Menschen mit Migrationshintergrund). 

Zur AWO: Die AWO sieht sich historisch als Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und aktuell als anerkannten Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege, „in dem sich Frauen und Männer zusammengeschlossen haben, um eine fortschrittliche Arbeit zu fördern“.[17] Die Aktivisten der „Überflüssigen“ besetzten bereits 2004 symbolisch die Landeszentrale der AWO in Berlin, nachdem dessen damaliger Bundesvorstand die Einführung der Ein-Euro-Jobs begrüßte und die Bereitstellung von mindestens 30.000 entsprechenden Stellen für den Bereich der Wohlfahrtsverbände ankündigte. Im März dieses Jahres wurde bundesweit bekannt, dass die gemeinnützige AWO in Neumünster (Schleswig-Holstein) Hartz-IV-Empfänger als Ein-Euro-Jobber zu hilfsbedürftigen Senioren schickte, von diesen acht Euro pro Stunde kassierte, den Arbeitskräften aber nur die Mehraufwandsentschädigung von 1,25 Euro auszahlte. Ein günstiges Geschäft, besonders wenn die Regiegelder hinzugerechnet werden. Faktisch trat die AWO als Zeitarbeitsfirma auf (Vermittlung in verschiedene Haushalte), missachtete das Prinzip der Zusätzlichkeit (hauswirtschaftliche Betreuerinnen) und erwirtschaftete einen unzulässigen Gewinn. Auch wenn andere AWO-Bezirke sich danach von dieser Praxis distanzierten, beschreibt diese Vorgehensweise die Strategie nicht nur dieses Wohlfahrtsverbandes. Ein anderes Mittel zur Lohnkostensenkung bietet die Arbeiterwohlfahrt Servicegesellschaft (AW PSG), einer hauseigene Zeitarbeitsfirma in Westfalen. Nach dem Auslaufen der Vertragszeit wird zeitlich befristeten Beschäftigten angeboten, neue Verträge bei der AW PSG abzuschließen. Das Personal wird dann an die Muttergesellschaft AWO ausgeliehen und weit schlechter bezahlt als die Festangestellten.   

Aussagekräftig genug: Beschäftigungsverhältnisse ohne Arbeitsverträge oder als Leiharbeitnehmer bewertet die AWO offensichtlich als „fortschrittlich“. Auch hier offenbart sich die übliche Diskrepanz zwischen dem sorgsam inszenierten sozialen Image nach außen und der nüchternen Realität. Denn die widerspricht den Prinzipien der Selbstverpflichtungserklärung des Verbandes (vom Januar 2005) als Träger von Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung in Gänze (keine Verdrängung regulärer Stellen, Freiwilligkeit der Erwerbslosen, keine privaten oder erwerbswirtschaftlichen Zwecke etc.!). Auch in der „Essener Erklärung 2010“ vom 27. August wendet sich das AWO-Präsidium gegen die Ausbreitung des Niedriglohnsektors und die boomende Leiharbeit, fördert diese aber zugleich selbst. In Wirklichkeit setzt sich der Verband aktiv ein für eine Umgestaltung der Trägerlandschaft in Richtung kommerzialisierte Sozialunternehmen. Folgerichtig unterstützt die AWO auch den renditeorientierten „Social Profit“-Ansatz der Treberhilfe. Die Sozialdemokraten arbeiten halt gut zusammen, wenn es um das Schleifen noch vorhandener Arbeitsstandards geht.

Fazit:

Die für Eingliederungsmaßnahmen beauftragten Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger arbeiten in mehrfacher Hinsicht aktiv daran, noch bestehende rechtliche und moralische Standards zu unterminieren oder gar einzureißen. Erstens: Durch den Einsatz von Ein-Euro-Jobs werden Arbeitsverhältnisse ohne Arbeitsverträge legitimiert. Träger profitieren von staatlich exekutierten Arbeits- und Bildungszwängen. Zweitens: Arbeit ohne Lohn wird zunehmend normal (unbezahlte Praktika etc.). Die Privatwirtschaft wird direkt und indirekt durch staatlich finanzierte Arbeit gefördert. Drittens: Der Druck auf das allgemeine Lohngefüge steigt enorm an, ebenso wie das Ausmaß der Leiharbeit . Viertens: Die Tafelbewegung (Lebensmittelverteilung an Bedürftige) in Deutschland scheint explosionsartig anzusteigen. Ohne massiven Einsatz von Langzeitarbeitslosen in Maßnahmen (v.a. Ein-Euro-Jobbern) sind diese Aktionen bundesweit nicht möglich. Die Armen reproduzieren die Armen. Das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum (in monetärer Form!) wird nach und nach geschwächt. Sachleistungen auf Basis freiwilliger Spenden ersetzen die Auszahlung ausreichender Geldmittel. Der politische und philosophische Diskurs stützt zum Teil durch inszenierte „Debatten“ diese Entwicklung. Fünftens: Die Armen überwachen die Armen. Erwerbslose in alternativen Sicherheitsdiensten kontrollieren offensichtlich zunehmend das soziale Elend in ihren eigenen Kiezen, z.T. ohne dass ihre Befugnisse in jedem Fall geklärt sind. Die Position und die Sicherheit Einkommensarmer im politischen Gemeinwesen wird prekär: ökonomisch (Überflüssige), politisch (Störer im öffentlichen Raum), bürgerrechtlich (schwindende rechtliche Ansprüche auf Existenzminimum). Sechstens: Der in weiten Bevölkerungskreisen greifende Rechtspopulismus, veranschaulicht im Leitspruch von Neuköllns Bürgermeister: „Keine Prävention ohne Repression!“, verschärft das Problem, der herrschenden Entwicklung eine Alternative entgegenzusetzen.

Die beschriebenen Tendenzen laufen überwiegend jenseits der medialen Beachtung ab. Einzelne Aktivitäten von Trägern werden zwar ab und an skandalisiert, die politisch gewünschten Effekte aber sind strukturell angelegt. Es besteht deshalb kaum ein öffentliches Interesse, mehr Transparenz in den Bereich der Sozialindustrie bzw. des Trägerdschungels zu bringen. Bezeichnend ist die Ankündigung der Sozialsenatorin Carola Bluhm, eine neue Initiative zu starten. Anfang 2011 will der Senat eine "Transparenzdatenbank" freischalten, wo soziale Träger Angaben zu ihren Geschäftsdaten machen sollen. Träger, die nicht mitmachen wollen, werden sich rechtfertigen müssen, so heißt es.[18] Das wird den Angesprochenen ein müdes Lächeln entlocken. Bereits seit August 2009 veröffentlicht die Senatsverwaltung im Internet die Höhe aller Fördermittel über 5.000 Euro an die Träger (alle Aktivitäten in den Bereichen Arbeit, Soziales, Integration und Antidiskriminierung). Dumm nur, das in keiner Weise deutlich wird, warum wer und für was genau gefördert wird. Der Senat, der mit Hilfe solcher Maßnahmen absichtlich seine Förderpolitik verschleiert, verspricht nun, mehr Transparenz in die Sozialindustrie zu bringen! Die versozialdemokratisierte Trägerlandschaft braucht vor einem SPD-geführten Senat wirklich keine Angst zu haben.

Es wird dabei bleiben: Eine öffentliche Kontrolle über die staatliche Förderpolitik und die tatsächliche Verwendung dieser Gelder durch die freien Träger wird auch zukünftig kaum stattfinden. Das Konglomerat aus gemeinnützigen GmbHs, Tochterfirmen, eingetragenen Vereinen und Stiftungen wird auch weiterhin den „geschlossenen Kreislauf der Elendsverwertung“[19] bestimmen. Allerdings könnte sich aktuell eine Trendwende andeuten:

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) gab Mitte November 2010 bekannt, dass die Vorgaben für Ein-Euro-Jobs zum Jahreswechsel verschärft werden. Hintergrund dafür ist die anhaltende Kritik an den Arbeitsgelegenheiten. Beispielsweise wurde in einer vor kurzem veröffentlichten Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) einmal mehr die mangelnde Wirksamkeit von Ein-Euro-Jobs (Arbeitsmarktintegration) festgestellt. Zudem bezeichnete der Bundesrechnungshof in einem internen Bericht zum wiederholten Male die Vergabepraxis von Ein-Euro-Jobs als eklatant mangelhaft. Die BA reagierte: Nach Auskunft einer BA-Sprecherin werde in Zukunft genau geprüft, ob Ein-Euro-Jobs wirklich wettbewerbsneutral seien oder nicht. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.

Aber die Beschäftigungsindustrie steht unter Druck. Das „Gemeine Wesen“ stellt durchaus realistisch fest:

„Angesichts der jüngsten Reform der Reform der Reform der sogenannten Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung ist allerdings in der Beschäftigungsindustrie die Existenzangst ausgebrochen, denn es stehen massive Kürzungen an.“[20]

Wofür aber stehen staatliche Kürzungen bei der sogenannten aktiven Arbeitsmarktpolitik? Verstärkung des Workfare-Ansatzes („Bürgerarbeit“ als neue und bislang schlechteste  Variante einer „Arbeitsgelegenheit“) oder Tendenzumkehr in Richtung endgültige Entkopplung der Erwerbslosen von jeglichen Arbeitsmärkten?

Anmerkungen

[1] Der Arbeitsmarkt in Berlin und der Region Berlin-Brandenburg, September 2010, S. 4

[2] vgl. „Die 1€-Jobmaschine – Kommando und Stagnation“, in: „Randnotizen: Stadtteilzeitung aus dem Schillerkiez“, Zweite Ausgabe, Juni 2010, S. 18“

[3] Dass Erwerbslose aus finanziellen Gründen auf Ein-Euro-Jobs angewiesen sind und sich bisweilen an ihren Arbeitsorten auch wohl fühlen, widerspricht dem Zwangscharakter der „Maßnahmen“ nicht.

[4] vgl. Rede von Bischof Huber in Berlin am 30.9. 2004

[5] vgl. Pressemitteilung vom 18.2.2005

[6] Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, “Sozialpolitische Prioritäten in 2010“ (1.1.2010)

[7] vgl. Volker Eick, „Arbeitslose in SOS-Diensten: Aufmarsch der Hartz IV-Truppen?“, in: Contraste (Monatszeitung für Selbstorganisation), November 2010

[8] Diese sozialversicherungspflichtige Form der Arbeitsgelegenheit (AGH-E) wird i.d.R. mit monatlich bis 1.300 Euro brutto entlohnt.

[9] vgl. MDR exakt – Die Story, 14.9.2010

[10] ebd.

[11] Insbesondere die Körperschafts- und Gewerbesteuer entfällt bei anerkannter Gemeinnützigkeit.

[12] § 52 Abgabenordnung (AO)

[13] vgl. „Dienstmaserati und Traumrendite: Vom neuen Profitstreben in der Sozialarbeit“. Eine Sendung von Peter Kessen. Deutschlandradio Kultur, 23.8.2010

[14] Treberhilfe gGmbH (Hrsg.), Social Profit: Sozial & Wirtschaftlich. Wirksam. Rentabel für alle., Berlin, 2009, S. 9

[15] Stefan Strauss, „Campus Kindl“, in: Berliner Zeitung, 18.5.2010

[16] vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.), Schwarzbuch: Beschäftigung in der Weiterbildung, Frankfurt, 2010

[17] Selbstbeschreibung der AWO aus dem Jahr 2008, zit. n. Gabriele Moos/Wolfgang Klug, Basiswissen Wohlfahrtsverbände, München, 2009, S.50

[18] vgl. Pressemitteilung des Senats vom 15.10.2010

[19] Eine Formulierung des Politologen und Publizisten Carsten Frerk mit Blick auf die beiden großen kirchlichen Sozialverbände.

 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Die Materialien wurden überarbeitet. Sachstand ist der 28.10.2010.