Berlin: 3. und 4. Dezember 2010
Vernetzungswochenende von Erwerbslosen


ein Bericht von Anne Seeck

12/10

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Am 3. und 4. Dezember 2010 trafen sich Berliner Erwerbslose im Mehringhof mit vier AktivistInnen aus Ost- und Westdeutschland, um mehr über deren politische Arbeit zu erfahren. Anschließend sollte eine Berliner Vernetzungsrunde stattfinden. Eingeladen hatten Basta Berlin, Keine/r muss allein zum Amt und AK Seminare/ Teilhabe e.V.

Zur Einstimmung: Die Schwäche der Berliner „Erwerbslosenszene“

Die Schwäche der Berliner Erwerbslosenszene zeigte sich schon an der geringen TeilnehmerInnenzahl von ca. 25 BesucherInnen der Veranstaltung, meistens die „üblichen Verdächtigen“, nur einige wenige ErwerbslosenaktivistInnen fehlten. Viele traten dabei in Personalunion auf, d.h. sind in mehreren Initiativen aktiv. So waren Mitglieder von Basta Berlin, Keine/r muss allein zum Amt, der AG Beschäftigungsindustrie, Kampagne gegen Hartz IV, Kampagne gegen Zwangsumzüge, AG Soziales Berlin, BAG Plesa, AK Marginalisierte, Runder Tisch der Erwerbslosen, Bündnis für ein Sanktionsmoratorium, der ALSO aus Oldenburg, Autopool, der Linkspartei, dem Bündnis Regelsatz erhöhen jetzt! und dem Erwerbslosentreff in der Lunte/ Teilhabe e.V. anwesend.

Die Schwäche der Berliner Erwerbslosenszene zeigt sich auch an den Aktionsformen, die dort gewählt werden. So schreiben Berliner ErwerbslosenaktivistInnen zur Zeit Briefe an die Bundestagsabgeordneten, nachzulesen auf der Website: http://www.regelsatzerhoehung-jetzt.org/ . Auch eine Form der Beschäftigungstherapie für AkademikerInnen...
In der Erwerbslosenszene werden zudem hauptsächlich Forderungen an den Staat gestellt.
Seien es die 80 Euro mehr des Krachschlagen- Bündnisses, seien es die Forderungen 500 Euro Regelsatz, 30 Stunden Arbeitszeit, 10 Euro Mindestlohn, sei es die Forderung des bedingungslosen Grundeinkommens. Die Staatszentrierung wird in dieser Szene groß geschrieben. Kapital und Politik müssen sich kaputt lachen über Hartz IV- BezieherInnen, die ihnen als BittstellerInnen entgegentreten. Da kann man den Regelsatz glatt noch senken...
Eine weitere Schwäche der winzigen Berliner Erwerbslosenszene ist ihre Zerstrittenheit, diese Vernetzungstreffen sind ein Versuch, diese Zerstrittenheit zu überwinden. Viele Hartz IV- BezieherInnen leiden unter ihrer Situation, anstatt sich zu solidarisieren, suchen sie sich Sündenböcke in diesem Kreis.

Der Freitagabend- westdeutsche AktivistInnen

Belebend waren da die zwei eher kämpferischen Vorträge am Freitagabend von Anne Eberle (BAG Plesa) aus Dortmund und Norbert Hermann vom Bochumer Sozialforum. Das Thema am Freitag war der Aufbau von Zentren. In Dortmund hatten AktivistInnen vom „Recht auf Stadt“ Gebäude besetzt, um dort ein Soziales Zentrum zu errichten. In Bochum existiert bereits ein soziales Zentrum, in dem neben verschiedenen linken Initiativen auch eine „Unabhängige Sozialberatung“ im Zentrum existiert.
Anne Eberle erzählte, dass in Dortmund die größte Armut in NRW herrscht. Hier ein Seminar von Anne Eberle zur Arbeitsmarktsituation:

http://www.aul-dt.de/fortbildung-seminar/pdfs/tn2010.pdf
Für eine gelingende Selbstorganisation brauche es Menschen:

  • die jenseits von Parteien und Organisationen als Personen handeln wollen,
  • die Nein sagen und sich nicht mit der Zuschauerrolle zufriedengeben,
  • die Fragen stellen, z.B. „Wie wollen wir leben?“

Und sie erzählte auch, mit welchen Initiativen man sich vernetzen könne:

  • die nichts von Runden Tischen halten,
  • die Pseudo- Beteiligungsverfahren ablehnen,
  • die Appelle an Politiker ablehnen,
  • die über Partikularinteressen hinaus blicken.

(Die Berliner Erwerbslosenszene ist so schwach, dass sie noch nicht mal zu „Runden Tischen und zur Beteiligung“ eingeladen wird. Desweiteren richtet sie eben Appelle an Politiker und schaut nicht über den Tellerrand Hartz IV hinaus. So interessiert sie meistens die Globale Armut nicht.)

Norbert Hermann berichtete dann über die Situation in Bochum, wo viele Menschen wegziehen, weil auch die Arbeitsplätze weg sind. Er fragte die VeranstaltungsteilnehmerInnen, warum sie sich überhaupt mit Hartz IV beschäftigen. Für ihn ist es erstens die persönliche Betroffenheit und zweitens sieht er dort einen wesentlichen Knackpunkt im System. Die Linkspartei sei durch Hartz IV groß geworden, vernachlässige aber das Thema. Selten sei die Linkspartei als Bündnispartner zu gebrauchen.

Über die Aktivitäten des Sozialen Zentrums in Bochum kann man sich auf folgenden Website informieren:
http://www.sz-bochum.de/ und http://www.bo-alternativ.de/

Ein Demoredebeitrag von Norbert Herrmann: http://www.bo-alternativ.de/Norbert-Hermann.htm

In einem Flugblatt „Hartz IV- na und?“ schreibt er:

„Die Leistungen für ‘Überflüssige’ werden tendenziell auf das physische Existenzminimum runtergefahren.
Hartz IV ist zwar hierzulande der schärfste Angriff auf die Menschen, aber bei weitem nicht der einzige. Und schauen wir uns weiter um in der Welt, so erleben wir, dass die Menschen in Griechenland, Irland, Portugal, Spanien weitaus mehr geknechtet werden als wir, von dem noch zunehmenden Massenmord durch Verhungern lassen in den ärmeren Teilen der Welt ganz zu schweigen.
Die Herrschenden der ‘Sozialen Kälte’ zu beschuldigen hiesse, sie auch zur ‘Sozialen Wärme’ für fähig zu halten. Hiesse ihnen ein Gefühlsleben zu unterstellen.
Das wäre aber diskriminierend. Sie handeln nicht aus Gefühlen heraus, sie handeln rein rational. Dass dabei Menschen auf der Strecke bleiben, war immer ein Teil des Kalküls. Nur fand das meist woanders statt und nicht hier.“

Der Samstag- ostdeutsche Aktivisten

Am Samstag berichteten dann Frank Eschholz und Michael Maurer aus Brandenburg über den Zug der Tagelöhner. Nachdem die Montagsdemos abgeflaut waren, seien sie auf diese Idee gekommen. Mit dem Zug der Tagelöhner sollte dargestellt werden, dass das Leben immer unsicherer und prekärer wird. Sie zogen durch verschiedene Brandenburger Städte bis nach Berlin, die Resonanz sei unterschiedlich gewesen. Mal fehlten die belebten Plätze, mal waren die Aktionsorte gut besucht. Ohne persönliche Beziehungen zu Menschen in den Städten wäre die Tour nicht möglich gewesen. In Brandenburg besuchten sie auch einen Betrieb, in dem Leiharbeiter beschäftigt waren. Die Medienresonanz sei sehr gut gewesen. Es war zwar ein medialer Erfolg, aber die Betroffenen seien nicht gekommen.

Hier die Seite der Brandenburger:
http://www.soziale-bewegung-land-brandenburg.de/index.php?name=News&file=article&sid=936

Hier ein Artikel in der Jungen Welt:
https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2010/07-31/049.php

Diskussion über die Problematik

Danach begann dann die Diskussion mit anschließender Vernetzungsrunde. Es wurden einige Probleme aufgeworfen.

1) Je radikaler es werden würde, desto mehr fehle der Erfolg. Als Beispiel wurden die Montagsdemos genannt. Bei den Montagsdemos seien zuerst auch die bürgerlichen Leute gekommen, je kapitalismuskritischer und radikaler die Demos wurden, desto mehr blieben diese Leute weg.

2) Die personelle Basis der Erwerbslosengruppen ist zu gering. Das sei der Kernpunkt. Wenn es mehr Leute wären, könnte die Arbeit besser verteilt werden und die Arbeit wäre professioneller. Wir wären viel zu wenige, die überlastet sind. So machen viel zu wenige Begleitung in Ämter. Es fehlt auch das Feedback. Dass die Sanktionsbroschüre dagegen nur von wenigen produziert wäre, sei dagegen o.k. gewesen. Um mehr zu werden, bräuchten die Gruppen Bündnispartner. Eine Vernetzung sei aber nur da sinnvoll, wo auch eine Kraft vor Ort ist. Die Initiativen vor Ort würden dann durch die Vernetzung gestärkt.

3) Viele hätten auch eine Konsumhaltung. Sie suchen Hilfe, danach sind sie wieder verschwunden. Sie würden z.B. Erwerbslosenberatung als Dienstleistung betrachten. Frank Eschholz: „Wir wollen uns nicht als Dienstleister mißbrauchen lassen.“ Die Frage ist, wie schaffen wir es, dass die Menschen selbsttätig werden. Sie suchen Hilfe, wie sie den Alltag besser organisieren können. Sie müssen aber auch die Möglichkeit haben, gleich mitzuarbeiten. Viele Erwerbslose sind auf der Suche nach einer Tätigkeit/ Arbeit, in der sie ein Erfolgsgefühl erleben. Diese Tätigkeiten finden sie häufig nicht in den Erwerbslosengruppen. Wer sich nicht für die Juristerei, das Schreiben von Texten oder die Pflege von Websites interessiert, der findet keine Beschäftigung. Es wurde der Aufbau von Unterstützungsnetzwerken angemahnt, in denen Menschen z.B. Fahrräder reparieren oder Kinder betreuen können. In solch einem Netzwerk könne man sich gegenseitig unterstützen. Das wäre in einem Erwerbslosenzentrum möglich.

4) Wir finden so gut wie kein Gehör. Zu Pressekonferenzen kommen kaum Leute. Und wenn, wie nach dem Zug der Tagelöhner aufgrund guter Medienresonanz viele Leute kommen, dann hätten die Gruppen kein Personal.

5) Wir müssen uns besser qualifizieren. Wie stärken wir unsere Gruppen? Durch Vorleben könnten wir Leute anziehen. Wir sollten selbst für uns was Gutes tun. Wir brauchen Erfolge, eine Begleitung zum Amt kann z.B. ein Erfolg sein.

6) Natürlich geht es auch um die Finanzierung, wenn eine kontinuierliche Beratung und Arbeit gewährleistet werden muß. Bei der ALSO nehmen sie mittlerweile 5 Euro pro Beratung, was durchaus kontrovers war. Unabhängige Beratung ist aber nicht nur eine Dienstleistung von Kompetenten, sondern ein Hebel im politischen Kampf. Man führt einen Kampf mit dem Amt. Wichtig sei daher auch eine Auswertung der Beratung und Begleitung. Beratung ist nicht sonderlich politisch. Politisch wird es erst, wenn sie an den Grundfesten des Systems rüttelt.

Warum sind Menschen unter diesen Bedingungen in der Hartz IV- Szene aktiv?

Der Vereinzelung, z.B. dem individuellen Schreiben von Widersprüchen, wollen sie eine kollektive Gegenwehr entgegensetzen. Sie kämpfen gegen Ungerechtigkeit. Es wurde betont, dass es darum geht, Selbstbewußtsein und eine Persönlichkeit zu entwickeln. Motivation sei die persönliche Betroffenheit. Zudem ist Hartz IV ein bedeutsamer Knackpunkt im kapitalistischen System, unter dem viele leiden. Auch Hartz IV- BezieherInnen wollen Anerkennung, einige bekommen diese durch ihre politische Arbeit.

Motivation, dieses Wochenendseminar durchzuführen, war auch der Aufbau eines Erwerbslosenzentrums in Berlin. BASTA Berlin hat mittlerweile Räume in der Scherer Str.8 gefunden. In diesem Zentrum könnten sich alle irgendwie einbringen. Dort gibt es für alle etwas, was sie tun können. Alle sind wichtig, nicht nur jene, die gut schreiben können. Theoriearbeit sollte allerdings auch nicht gegen das Konkrete ausgespielt werden. Denn jedes kleine Konkrete beinhalte die Gefahr, dass das Große nicht das Problem sei. In einem Zentrum können die unterschiedlichen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen.

Zum Schluß ein Kommentar von mir:

Politik sollte Spaß machen. Spaß bedeutet für mich nicht: Juristerei zu betreiben (Beratung, Bleiwüstenflugblätter mit Paragraphen) oder Briefe an Politiker zu schreiben. Auch wenn das der Mainstream in der Berliner Erwerbslosenszene ist, es ist eben nicht meine Vorstellung von Politik.

Von wegen Spaß...Der politische Alltag von sozialpolitisch Engagierten ist mit ständiger Frustration versehen. So war die Beteiligung an der Bundestagsbelagerung, die Beteiligung an den Erwerbslosengruppen, aber auch die Beteiligung an diesem Wochenende frustrierend. (jedenfalls für mich und andere)

Wie werden wir mehr?

1. Wir sollten bei uns selbst beginnen. Die ewigen Streitereien in der Berliner Erwerbslosenszene sind zermürbend. Man muß schon eine hohe Leidensgrenze haben, um überhaupt noch dabei zu sein. Die Gründe, das überhaupt auszuhalten, sind unter „Warum sind Menschen unter diesen Bedingungen in der Hartz IV- Szene aktiv?“ aufgezählt, es mag noch mehr geben.
2. Wir haben keine großen Erfolge. Daher müssen wir uns kleine Erfolge organisieren. Das kann für den einen eine erfolgreiche Begleitung zum Amt, für den anderen der Sektempfang bei einer Lebensmittelausgabe sein.
3. Zum Thema „Anders leben“ hat die Berliner Erwerbslosenszene kaum etwas zu sagen. Viele wollen eine Betätigung, es geht darum, Projekte aufzubauen, nennen wir es nun Alternativökonomie oder Solidarische Ökonomie. Solange die Erwerbslosenszene nur Abwehrkämpfe führt, ist sie für viele Menschen nicht attraktiv. Sie hat keine Alternativen, außer Forderungen an den Staat. Aber wir müssen unser Leben selbst in die Hand nehmen. Das wäre dann wahrlich Selbstorganisation- anders leben und anders arbeiten.

Zum Schluß wenigestens ein erfreulicher Ausblick:
Kölner Erwerbslose in Aktion: http://www.die-keas.org/

Hartz IV muß weg!!!!

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Text von der Autorin für diese Ausgabe.