Ungebremste EU-Abschottung und der Diskurs der Ignoranz
Ein weiterer medialer Rückblick auf ein Stück europäische Abschottungsgeschichte

von Birgit v. Criegern

12/11

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Zuerst eine gute Nachricht: „Kirchenasyl hatte Erfolg“, wird am 6.11. auf Indymedia berichtet. Der Evangelische Gemeinderat Beverstedt hatte den jungen somalischen Flüchtling Abdi M. dort aufgenommen, nachdem das Ordnungsamt vom Cuxhavener Kreis im Sommer die Abschiebung nach Malta anordnete. Durch das helfende Eingreifen der dortigen Kirchengemeinde und der Flüchtlingsinitiative Hagen wurde die Abschiebung verhindert, indem sie mit offenem Kirchenasyl den Fristablauf von einem halben Jahr verstreichen ließen. Jetzt darf der Mann sein Asylverfahren in Deutschland weiterführen, räumte das Bundesamt für Migration ein. „Der kleine Inselstaat Malta ist mit den aus Nordafrika ankommenden Flüchtlingen überfordert, ein Asylsystem ist nicht vorhanden. Flüchtlinge werden interniert, die humanitären Zustände in dortigen Lagern sind katastrophal,“ berichtet Wolfgang Steen von der Flüchtlingsinitiative Hagen.

Die schlechte Nachricht ist natürlich, dass Abdis Abschiebung nur durch dieses Engagement der Unterstützergruppe verhindert werden konnte, während Behörden und Politik weiterhin, auch während der somalischen Hungerkatastrophe und dem Bürgerkrieg, Abschiebungen in dieses Land androhen.

Wohlgemerkt waren die Nachrichten von den unaussprechlichen Zuständen in den Lagern von Malta, Lampedusa sowie in den griechischen Lagern, in die angekommene Bootsflüchtlinge eingewiesen werden, in diesem Jahr des sogenannten "arabischen Frühlings" durch die großen Medien gegangen. Das Procedere bleibt, die Ignoranz und Unbarmherzigkeit bei den Ausländerbehörden und den vermeinten ExpertInnen der Verwaltung, die immer wieder gegen Schutz und Asyl für Flüchtlinge aus den ärmsten Ländern der Welt entscheidet, ändern sich nicht. Bemerkenswert scheint, dass in diesem Jahr das europäische Allgemeinwissen von Fluchtursachen und der status quo europäischer Abschottung in besonders unverhohlenem Widerspruch zueinander stehen. 

Noch ein Beispiel: Der bayerische Flüchtlingsrat verbreitete am 1. August den Hilferuf für den 16-jährigen Abdo Basel, syrischer Flüchtlingsjunge – wegen drohender Abschiebung ( Und das, obwohl er eine deutsche Tante hatte, die den Wunsch ausgesprochen hatte, ihn aufzunehmen!) Wiederum hätten sich die „ExpertInnen“ bei den Behörden lediglich die Berichte aus Tageszeitungen und euronews zu Gemüte zu führen brauchten, um zu erfahren, dass Syrien im Ausnahmezustand war, und die Regierung von Bashar al-Asad seit dem April 3000 Demonstrierende niedermetzeln ließ. Auch Abdo Basels Abschiebung konnte wiederum nur von einer vor Ort zusammengekommen UnterstützerInnen-Initiative verhindert werden.   

Die Aufnahmequote in Deutschland bleibt seit Jahren konstant im ein-Prozent-Bereich, und das Massensterben im Mittelmeer geht weiter. Anstelle einer ernsten Erwägung von Asyl im Jahr der nordafrikanischen Revolten und des libyschen Bürgerkrieges kam der Beschluss, die Abschottung im Mittelmeer und an den Außengrenzen neu aufzulegen, und paradoxerweise wurde „Seerettung“ (was davon zu halten ist, wird zukünftig zu sehen sein) erst dann als Zusatzbestimmung für Frontex eingeräumt, nachdem die Priorität „mehr Grenzkontrolle“ schon mal festgeklopft war. Der Skandal Frontex, der bereits seit sechs Jahren besteht, erhielt eine Neuauflage.   

Das alles geht nicht ohne eine Doppelmoral der Politik ab, die immer absurder wird. Wenn die NATO auf Libyen Bomben schickt, wird das medial und politisch als Unterstützung für die Befreiung vom Diktator Gaddafi hochgelobt, aber wenn die Flüchtlinge aus solchem Bürgerkrieg sich in Boote setzen und den Weg nach Europa suchen, werden sie Objekte für die "Risk Analysis Projects" der Agentur Frontex, und begegnen der Abwehr von Grenzsicherungskräften oder, falls sie es schaffen, anzulanden, höchstwahrscheinlich der Asylverweigerung europäischer Behörden.

Die diesjährige NATO-Kriegführung in Libyen und zuvor in der Elfenbeinküste brachte den Schriftsteller und Professor kamerunischer Herkunft Prinz Kum`a Ndumbe dazu, kürzlich einen Appell an die europäische und nordamerikanische Intelligentsia zu richten, sie solle ein klares Zeichen setzen „gegen die konzertierten Aggressionen ihrer Regierungen gegen die afrikanischen Völker in 2011“, denn: „Zuviel ist zuviel.“

Die von Ndumbe in Douala und Berlin gegründete Organisation „Africavenir“ ist eine große, vielleicht die wichtigste Einrichtung für kulturelle und wissenschaftliche Arbeiten und Veranstaltungen, und leistet dort Arbeit mit dem Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte, wo das eben von deutschen Einrichtungen vernachlässigt wird. 

Übrigens sei hier die Bemerkung eingeschoben, dass das Thema „Umweltflüchtlinge“ auch zu dem ignoranten Leugnungsprozeß steht, während seitens des Entwicklungsdepartments UNDP alle Jahre wieder mal dazu aufgerufen wird, doch endlich einen solchen Status in die international geltende gesetzliche Bestimmung zum Asylrecht aufzunehmen. Muss sich nicht längst ins Blickfeld drängen, dass die von den Reichsten dieser Welt fortgesetzte Wirtschaftswachstums-Ideologie mit Ressourcenausbeutung etc. anderen die Lebensgrundlage entzieht? Erinnern wir uns, dass europäische Industrieschiffe vor Somalia seit Jahren die Gewässer leer fischen, und die italienische Atommüll-Mafia die dortigen Häfen verseucht. Da las ich in "Le Monde diplomatique" vom September eine Analyse ( von Benoit Lallau)über die Weltbank-Politik bezüglich von land-grabbing bei Investment-Projekten in den Ländern am Horn von Afrika. Während NGO`s auf "negative soziale Auswirkungen solcher Maßnahmen, für die sich der Begriff `land grabbing' eingebürgert hat", verwiesen, also die Negativfolgen des ständig ausgeweiteten Investments der reichen Nordstaaten nicht mehr von der Hand zu weisen sind, würden Weltbank und UNO nur mit unverbindlichen "Best-Practice"-Appellen an Investoren reagieren. Ungebrochen bleibe da das  "alte, die Weltwirtschaft beherrschende Credo": der freie Markt und importierte Technologien müssten die Lösung für Nahrungsmittelknappheit sein. Übrigens berichtet "Rettet-den-Regenwald" seit ein paar Jahren schon von den großflächigen Regenwald-Abholzungen des Unilever-Konzerns für Monokultur-Palmölplantagen zugunsten des westlichen Sprit-Hungers. Oder in diesem Jahr vom Konzern Blackstone, der ebenfalls ein Abholzungs-Projekt für Palmöl in Kamerun erzielte – die 45 000 dortigen EinwohnerInnen seien nicht informiert worden. Dies Projekt aber ist offenbar noch nicht unter Dach und Fach, weil sich Proteste dagegen organisierten.   

Seitens der EU-Politik wurde jedoch, wie gesagt, der Skandal Frontex erneuert: Am 23. Juni bahnten in Brüssel die Regierungschefs in der Tagung zum Thema „Asylpolitik“ eine Mehrausstattung der Frontex-Grenzkontrollagentur mit Technik und Kompetenzen an, und erklärten diese am 21. September für gültig. Da machte man Nägel mit Köpfen, und nicht bei einem Aufnahmeprogramm für nordafrikanische Flüchtlinge, von denen allein in diesem Jahr nur nach Italien 48 000 aufgebrochen waren. Dazu kommt noch, dass Vorgänge um die See-Patrouillen zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht geklärt waren: Zur gleichen Zeit war bekannt geworden, dass die Praxis von Frontex-Booten untersucht werden müsse, die möglicherweise am 7. Mai auf Hilferufe aus einem kenternden libyschen Flüchtlingsboot nicht reagiert hatten, wobei 61 Menschen ertranken ( laut "The Guardian"). Während der Europarat noch Ende Mai ankündigte, eine Untersuchung des Falles in die Wege zu leiten, einigten sich die Regierungschefs in Brüssel schon mal auf mehr Frontex. Und zur gleichen Zeit begann (am 22. Juni) der Prozeß in Sachen "Sadek Hirsi Jama und weitere Kläger" von 24 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea beim Menschengerichtshof in Straßburg gegen den italienischen Staat, weil ihnen im Jahr 2009 auf ihrem Fluchtweg kein Recht auf den Asylantrag eingeräumt worden, sondern die Rückführung nach Libyen praktiziert worden sei (ein ausführliches Protokoll vom Prozeßauftakt gab die Schweizer Wochenzeitung auf ihrer Homepage woz.ch am 30.6.) . Dort sei mindestens einer von ihnen, so legte der Anwalt der Kläger dar, Opfer der libyschen Folterlager geworden.   

Ein weiteres Kapitel des Themas europäische Ignoranz heißt Dublin II: Schon zuvor, während des "arabischen Frühlings", als in Lampedusa das Flüchtlingselend ( das schon seit Jahren andauert) zu einem innenpolitischen Problemfaktor gemacht wurde, verschloss die Politik die Augen. Die verheerenden Verhältnisse in den Lagern, für die Flüchtlingsorganisationen endlich Abhilfe verlangten, hatten wohl weniger ihren Grund in der angeblichen "Flüchtlingsschwemme" laut rechtspopulistischer Darstellung, als im Mauern aller EU-Staaten. Und zwar wegen "Dublin II", des so bezeichneten europäischen Gesetzes aus dem Jahr 2003, das Elendsverhältnissen in den Lagern in Italien und Griechenland bedingen muss. Nach dieser Bestimmung dürfen dort anlandende Flüchtlinge nicht weiterreisen, sondern müssen im Erststaat, auf den sie den Fuß setzen, ihren Asylantrag stellen. Von Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl wird seit Jahren auf die fatalen Folgen von Dublin II hingewiesen. Doch was war die Folge bei den EU-Regierungen, nachdem sich die Überlastung der Lager zeigte und Berlusconi kurzfristig ein paar tausend Reise-Visa für Flüchtlinge ausstellen ließ, um sie loszuwerden? Nicht über eine Rücknahme der Dublin II-Bestimmung, die das Gros der europäischen Länder aus der Asyl-Verantwortung fernhält, wurde diskutiert, das wurde nicht mal offizielles Thema auf einer größeren Tagesordnung, sondern es gab allenfalls im April das dümmliche Gerangel von RegierungssprecherInnen untereinander  – eine Flüchtlingsaufnahme von Menschen aus Libyen, Tunis und Ägypten, vorgeschlagen vom UNHCR ( im Gespräch war die Größenordnung 15 000), veranlaßte Sarkozy, Berlusconi und deutsche SprecherInnen des CDU-Kabinetts nur zu einem Hin-und-Herdebattieren über vermeintliche Überlastungen und fehlende Kapazitäten hier und dort, sowie moralischen Selbstdarstellungen. Mensch weiß, was dabei herauskam: Kein wirkliches Aufnahmeprogramm, lediglich die vorübergehende Empfehlung der Bundesregierung an Behörden, von Abschiebungen abzusehen. Und kurz darauf: mehr Frontex. 

Hintergrundarm berichtete etwa im Juni eine Fernsehdokumentation bei dem "Fakt"- Magazin des mdr über die schlimmen Lebensverhältnisse von Flüchtlingen im griechischen Patras: Nicht die politische EU-weite Verantwortung mit Dublin II wurde hierbei wesentlich thematisiert, sondern das quasi griechisch-hausgemachte Problem. So stand die Reportage deutlich im Licht der politischen Fragestellung nach Sanktionen an Griechenland infolge von dessen Verschuldung. Die Festung schottet sich ab, und vernebelt das Wie! Wohlgemerkt, man hat sich zu keinem Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge bereiterklärt, entgegen der Empfehlung von UN-Hochkommissar Antonio Guterres, der darauf verwies, für ein Europa von 500 Millionen EinwohnerInnen sei das ohne Probleme zu schaffen. 

Und noch so ein Beispiel für die doppelbödige Moral politischer SprecherInnen: Da setzten die dänischen Rechtspopulisten Ende Mai ihren Beschluss durch, Grenzkontrollen wieder einzuführen. Und wurden dann von anderen Regierungen vor den Kameras dafür gerügt. Aber den Anstoß zu solcher Politik hatte schon Anfang Mai die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström selbst gegeben, die erklärte, sie verstünde unter einer "starken gemeinsamen Asylpolitik" folgendes: "die Stabilität des Schengen-Raumes zu schützen" und "die Agentur Frontex mit mehr Kompetenzen auszustatten". Tatsächlich wurde seit dem Mai von zahlreichen PolitikerInnen das Wort "Schutz" wie auch "Solidarität" gebraucht – nicht etwa im Zusammenhang mit einem Aufnahmeprogramm zum Schutz der Flüchtlinge, nein, nein, es ging um den "Schutz" des Schengen-Gebiets vor Flüchtlingen.  

Wir sehen, wie dieser Diskurs weitergeht mit den Prioritäten dieser europäischen Festung, die sich um die Euro-Stärke und um fortgesetzte Dominanz auf dem Weltmarkt sorgt – wissentlich abschottend, doppelbödig, durchschaubar: derzeit spricht man von einem „Rettungsschirm“, der dem europäischen Währungssystem gelten solle.  Die Bootsflüchtlinge sind jetzt in Brüssel anscheinend schon wieder vergessen.

Editorische Hinweise

Den Artikel bekamen wir von der Autorin für diese Ausgabe.