Ein Abschied von alldem
Die Vorgänge von 1989 kennzeichnen das Ende einer Ära, einer Epoche, die 1917 eingeläutet wurde. Eric Hobsbawm wirft einen Blick auf die Bedeutung des Jahres 1989.
 

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Worin besteht die historische Bedeutung von 1989, des Jahres, in dem der Kommunismus in Osteuropa so plötzlich und aller Voraussicht nach unwiderruflich zusammenbrach, als der Zerfall des bestehenden Regimes in der UdSSR mit ihrer multinationalen Struktur vorweggenommen wurde? Aus dem Stegreif eine Diagnose zu treffen ist wie auch das Geschäft der sofortigen Prophezeiungen ein riskantes Unterfangen. Diejenigen, die sich ohne weiteres Zögern darauf einlassen sind Leute wie Journalisten und Kommentatoren, die davon ausgehen, daß ihre Diagnosen und Vorhersagen sofort vergessen werden oder wie Politiker, die meinen, daß man sich nach ein oder zwei Wahlen an ihre Behauptungen nicht mehr erinnert. Und dennoch gibt es Zeiten, in denen sich der Ablauf der Ereignisse auf einen kurzen Zeitraum konzentriert, die, was wir auch immer von ihnen halten, ganz einfach von historischer Bedeutung sind und auch sofort als solche wahrgenommen werden. Das Jahr der französischen Revolution und 1917 waren solche Zeiten, und auch 1989 gehört ganz eindeutig dazu. Wie also sollen wir das Jahr 1989 bewerten?

Es ist viel einfacher, 1989 als einen Abschluss zu betrachten, nicht als einen Beginn. 1989 war das Ende eines Zeitalters, in dessen Zentrum das weltgeschichtliche Ereignis der Oktoberrevolution stand. Über siebzig Jahre hinweg wurden sämtliche westlichen Regierungen und herrschenden Klassen von dem Schreckgespenst der sozialen Revolution und des Kommunismus heimgesucht, was irgendwann die Gestalt der Furcht vor der militärischen Macht der UdSSR mit ihren potentiellen internationalen Auswirkungen annehmen sollte. Die Regierungen des Westens haben immer noch Mühe, sich mit dem Zusammenbruch einer internationalen Politik zurechtzufinden, die sich politisch und militärisch ausschließlich auf eine Konfrontation mit der sowjetischen Bedrohung ausgerichtet hatte. Ohne den Glauben an eine solche Bedrohung ergibt die NATO überhaupt keinen Sinn. Daß das westliche Bild von der Sowjetunion, jederzeit bereit, die „freie“ Welt zu überrennen oder mit Atomwaffen anzugreifen, fern jeglicher Realität war, beweist nur, wie tief die Angst vor dem Kommunismus saß. Über siebzig Jahre hinweg wurde die internationale Politik von einer Seite als ein Kreuzzug, als ein kalter Krieg mit religiösen Untertönen geführt, der nur für einen kurzen Zeitraum durch eine Konfrontation mit den realeren Gefahren der Achse Berlin-Tokio unterbrochen wurde.

Andererseits war schon längst klar gewesen, daß es eine solche Bedrohung nicht gab. Es stimmt zwar, daß Lenin und die Bolschewiki den Oktober 1917 als die erste Phase einer Weltrevolution betrachteten, die den Kapitalismus insgesamt stürzen würde. Die ersten Generationen der Kommunisten, einschließlich des Autors dieses Artikels, schlossen sich noch dem an, was wir für eine disziplinierte Armee zum Kampf und zum Sieg für die Weltrevolution hielten. Auch Nikita Chruschtschow, der einzige Bauer, der jemals Russland regierte, glaubte ganz gewiss noch daran, daß der Kommunismus den Kapitalismus zu Grabe tragen würde, wenn auch nicht durch eine Revolution. Und die dramatische Ausbreitung der anti-imperialistischen und kommunistischen Revolution nach dem 2. Weltkrieg schien diese Aussicht auf den ersten Blick zu bestätigen.

Gleichwohl war schon seit den frühen 1920ern offenkundig, daß die Außenpolitik der UdSSR nicht mehr länger auf die Weltrevolution ausgelegt war, auch wenn sie von Moskau bestimmt begrüßt worden wäre. In der Ära Stalins, der Machtbestrebungen irgendeiner kommunistischen Partei aktiv unterband und denjenigen misstraute, die gegen seine Empfehlung Revolutionen machten, führte die Sowjetunion selbst nach den überwältigenden Siegen der Roten Armee im 2. Weltkrieg eine vorsichtige und im Wesentlichen defensiv ausgerichtete Außenpolitik. Im Gegensatz zu Stalin nahm Chruschtschow  Risiken auf sich, was ihn sein Amt kostete. Und was auch immer Breschnew vorhatte, den Kommunismus verbreiten oder etwa in den Westen einzufallen war weder in seinen Plänen vorgesehen noch hätte er die Macht dazu gehabt.

Nach 1957, als die internationale kommunistische Bewegung sich zusehends auszulösen begann, nahmen unterschiedliche Gruppen außerhalb der Reichweite Moskaus den ursprünglichen Marxismus-Leninismus oder zumindest das Erbe der Weltrevolution für sich in Anspruch. Doch im weltweiten Maßstab haben weder die in 57 unterschiedlichen Gruppen auftretenden Trotzkisten, Maoisten, revolutionären Marxisten, Neo-Anarchisten, etc., noch diejenigen Staaten, die zumindest dem Namen nach zu ihrer Unterstützung verpflichtet waren, irgendetwas erreicht. Selbst in ganz bestimmten Ländern war ihr Einfluss bis auf einige kurze Momente für gewöhnlich nur von marginaler Natur. Der systematischste Versuch, die Revolution im Sinne dieser Gruppen zu verbreiten war die Kampagne in den 1960er Jahren, die kubanische Revolution zu exportieren, die aber nicht einmal ansatzweise zu irgendwelche Erfolge führen sollte. Im Gegensatz zu der ersten weltrevolutionären Welle von 1917 – 1919 und der zweiten Welle, die auf den 2. Weltkrieg folgte, mangelte es dieser dritte Welle, die mit der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre zusammenfiel, selbst an einer gemeinsamen ideologischen Tradition und an einem gemeinsamen Anziehungspunkt. Die mit Abstand wichtigste soziale Umwälzung dieser Periode wäre die Iranische Revolution, die zu Mohammed, nicht zu Marx aufsah. Und die Kommunisten, die bei der Beseitigung der letzten Bastionen der faschistischen Ära in Europa eine zentrale Rolle spielten, wurden in Portugal und Spanien nach Salazar und Franco bald von angeblichen Sozialdemokraten in den Hintergrund gedrängt.

Aber auch wenn es keine nennenswerte Bewegung zum weltweiten Sturz des Kapitalismus gab, hofften Revolutionäre nach wie vor, daß seine Widersprüche und die Widersprüche seines internationalen Systems ihn verwundbar - eines Tages vielleicht tödlich verwundbar - machten, und daß Marxisten oder jedenfalls Sozialisten eine Alternative zu ihm anbieten würden. Und auch wenn es nicht so aussah, daß sich die Macht des Kommunismus mit Ausnahme kleiner lateinamerikanischer Länder und, zumindest dem Namen nach, afrikanischer Staaten von geringer internationaler Bedeutung weiter ausbreiten würde, war die Welt immer noch in „zwei Lager“ gespalten, und jedes Land und jede Bewegung, die mit dem Kapitalismus und Imperialismus brachen, wurden tendenziell in die sozialistische Sphäre hineingezogen oder regelrecht von ihr absorbiert. Ehemalige Kolonien, die sich nicht in irgendeinem Sinne als „sozialistisch“ bezeichneten oder sich nicht in irgendeiner Weise an das östliche Modell der wirtschaftlichen Entwicklung orientierten, waren ja in den ersten beiden Generationen nach 1945 rar gesät. Kurzum: Die Weltpolitik konnte immer noch, auch von der Linken, als eine Weltpolitik im Rahmen der Folgen der Oktoberrevolution betrachtet werden.

All das ist nun vorbei. Der Kommunismus in Osteuropa hat sich aufgelöst oder ist im Begriff sich aufzulösen. So ist es auch in der UdSSR, wie wir sie gekannt haben, der Fall. Und wie auch immer die Situation in China sein wird, nachdem der Letzte der Generation des Letzten März verstorben ist, es wird wenig mit Lenin und noch weniger mit Marx zu tun haben. Außerhalb des ehemaligen Einflussgebiets des „realexistierenden Sozialismus“ gibt es wohl nicht mehr als drei kommunistische Parteien, die sich wirklich noch auf eine Massenbasis stützen können (Italien, Südafrika und die CPI/Marxist in bestimmten Regionen Indiens), und eine von ihnen möchte sich so schnell sie kann mit der internationalen Sozialdemokratie wiedervereinigen. Wir erfahren nicht die Krise eines Bewegungstypus, ihrer Regimes und ihrer Ökonomien, sondern ihr Ende. Diejenigen von uns, die geglaubt haben, die Oktoberrevolution sei das Tor zur Zukunft der Weltgeschichte, lagen erwiesenermaßen falsch. Das Falsche an Lincoln Stefffens Aussage „Ich habe die Zukunft gesehen und es funktioniert“ ist nicht, daß es nicht funktioniert hätte. Es funktionierte durchaus und konnte in manchen Fällen auf erstaunliche Errungenschaften zurückblicken. Aber es sollte sich herausstellen, daß das nicht die Zukunft sein würde. Und als zumindest in Osteuropa seine Zeit gekommen war, wusste das jeder, einschließlich der herrschenden Klasse, und das Ganze stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Wie kam es überhaupt dazu, daß die Angst, die Hoffnung oder die schiere Tatsache des Oktober 1917 so lange und so umfassend die Weltgeschichte dominierte, daß nicht einmal die kältesten Ideologen des Kalten Krieges die plötzliche, ja regelrecht widerstandslos hingenommene Auflösung von 1989 erwartet haben? Es ist unmöglich, dies und damit auch die gesamte Geschichte dieses Jahrhunderts zu verstehen, wenn wir uns nicht ins Gedächtnis zurückrufen, wie die alte Welt des globalen Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer liberalen Version 1914 untergegangen ist, wie der Kapitalismus in den folgenden vierzig Jahren von einer Katastrophe in die nächste stolperte. Auch intelligente Konservative hätten nicht auf sein Überleben gesetzt.

Um das zu verdeutlichen, sollte eine einfache Auflistung der politischen Erdbeben genügen, die in dieser Phase die Welt erschütterten: zwei Weltkriege, gefolgt von weltweiten revolutionären Eruptionen, die zum vollständigen Zusammenbruch alter Regime und der Errichtung der kommunistischen Macht führten, zuerst über ein Sechstel der Weltoberfläche und später über ein Drittel der Weltbevölkerung; hinzu kommt die Auflösung der riesigen Kolonialreiche, die vor und während des imperialistischen Zeitalters errichtet wurden. Selbst die stärksten kapitalistischen Volkswirtschaften wurden von der Weltwirtschaftskrise in die Knie gezwungen, während die UdSSR dagegen immun zu sein schien. Zwischen den Jahren 1922 und 1942 verschwanden in Europa bis auf seinen Randbereich sämtliche Institutionen der liberalen Demokratie, während sich der Faschismus und seine autoritären Satellitenbewegungen und -regimes erhoben. Ohne die Opfer der UdSSR und ihrer Völker wäre der liberale Kapitalismus westlicher Prägung dieser Bedrohung wahrscheinlich erlegen und die heutige westliche Welt würde mit Ausnahme einer isolierten USA aus einer Reihe unterschiedlicher autoritärer und faschistischer, anstatt aus einer Bandbreite liberaler Regimes bestehen. Ohne die Rote Armee hätte es nicht den Hauch einer Chance gegeben, die Achsenmächte zu besiegen. Vielleicht wird die Geschichte in ihrer Ironie entscheiden, daß die dauerhafteste Errungenschaft der Oktoberrevolution darin besteht, aus der „entwickelten Welt“ wieder einen sicheren Ort für die „bürgerliche Demokratie“ gemacht zu haben. Aber das bedeutet natürlich, man geht davon aus, daß sie ein sicherer Ort bleibt ...

Vierzig Jahre lang durchlebte der Kapitalismus ein Zeitalter der Katastrophen, seiner Verwundbarkeit, seiner fortdauernden Instabilität, mit einer völlig ungewissen Zukunft. Zudem sah er sich in dieser Periode zum ersten Mal mit einem System konfrontiert, das für sich beanspruchte, eine Alternative für die Zukunft anzubieten: der Sozialismus. In den traumatischsten Jahren dieser Epoche, den frühen 1930ern, als selbst der Mechanismus der kapitalistischen Ökonomie, wie man ihn bis dahin kannte, offensichtlich aufhörte zu funktionieren und Hitlers Triumph in Deutschland den liberalen Institutionen den Todesstoß versetzte, schien die UdSSR ihre größten Fortschritte zu machen. Im Rückblick scheint es erstaunlich zu sein, daß liberale und konservative Politiker (um nicht die der Linken zu erwähnen) nach Moskau gingen, um ihre Lektionen zu lernen (aus dem „Plan“ wurde im gesamten politischen Spektrum der westlichen Welt ein Modewort), oder daß auch Sozialisten ganz fest daran glauben konnten, ihre Ökonomien würden das westliche System an Produktivität weit übertreffen. In den Tagen der Großen Depression schien dies überhaupt nicht absurd zu sein.

Ganz im Gegenteil. Womit man überhaupt nicht gerechnet hatte, zumindest nicht die Regierungen und Geschäftsleute, die wegen der verheerenden Kriegsschäden und möglicher Depressionen besorgt waren, war die außergewöhnliche Wachstumswelle in der Weltwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg, der das dritte Viertel des gegenwärtigen Jahrhunderts zum „goldenen Zeitalter“ in der gesamten Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus machen sollte – die „dreißig glorreichen Jahre“, wie man in Frankreich sagt. Diese sensationelle Hochkonjunktur kam so unerwartet, daß sie sogar von denjenigen, die von ihr profitierten, nur allmählich zur Kenntnis genommen wurde - „Noch nie ist es euch so gut gegangen“ wurde in Großbritannien erst 1959 zu einer politischen Parole -, und daß sie erst im Rückblick, als sie in den frühen 1970er Jahren an ihr Ende kam, als Tatsache vollständig anerkannt wurde. Zunächst erweckte dieser Boom nicht den Eindruck, ein Triumph des Kapitalismus im Besonderen zu sein, da man in beiden „Lagern“, zumindest in Europa und in Asien, mit der Behebung der Kriegsschäden beschäftigt war und da man während dieser Periode die Wachstumsgeschwindigkeit der sozialistischen Volkswirtschaften im allgemeinen für sehr schnell, wenn nicht für schneller als die der anderen Ökonomien hielt.

Allerdings wurde irgendwann in den 1960ern offensichtlich, daß der Kapitalismus sein Stadium der Katastrophen überwunden hatte, wobei nicht ganz so offensichtlich war, daß die sozialistischen Volkswirtschaften nun in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Letztlich sollte sich doch herausstellen, daß das sozialistische Lager in materieller und technologischer Hinsicht nicht mehr länger mithalten konnte.

Irgendwie schaffte man es, das Erbe des Zeitalters der Katastrophen zu überwinden oder zumindest zu verscharren. Der Faschismus und seine ihm zugehörigen autoritären Spielarten wurden in Europa zerschlagen und beseitigt, die liberale Demokratie in ihren unterschiedlichen Formen in den Ländern der Metropole wieder zur Norm. (In dem Teil der Welt, den man nun als „Dritte Welt“ bezeichnete, war das ganz eindeutig nicht der Fall.) Die Kolonialreiche des imperialistischen Zeitalters, die berüchtigte Achillesferse der Metropolen, wurden politisch dekolonisiert. Beide Prozesse, die von 1945 – 1948 mit aller Entschlossenheit in Gang gesetzt wurden, waren in den 1970ern im Wesentlichen abgeschlossen. Der Krieg, der zwei Mal durch die industrialisierte Welt, insbesondere durch Europa tobte, wurde in dieser Region eliminiert, zum Teil dadurch, indem man seine Schauplätze in die Dritte Welt verlagerte. Dort wurde in den Jahren von 1945 bis 1990 wohl mehr Blut vergossen und Zerstörung angerichtet als in jeder anderen Periode der Neuzeit von vergleichbarer Länge. Der Frieden in den industrialisierten Ländern wurde wohl nicht einfach nur durch die Angst vor einem Atomkrieg und die gegenseitige Abschreckung aufrecht erhalten, was praktisch heißen soll, durch die abschreckende Wirkung der sowjetischen Nuklearwaffen auf die USA nach der kurzlebigen und extrem gefährlichen Zeit des US-Monopols auf nukleare Bewaffnung1.

Diese Aufrechterhaltung des Friedens verdankt sich noch drei weiteren Faktoren: eine Weltpolitik, die sich auf ein Spiel zweier Gegner reduziert hatte; das Abkommen von Jalta, das praktisch die Einflussbereiche der beiden Großmächte festlegte, die beide nicht auszuweiten versuchten; und zweifelsohne auch der Wohlstand und die Stabilität in den entwickelten kapitalistischen Ländern, was in dieser Region die Wahrscheinlichkeit, geschweige denn die Chance einer sozialen Revolution beseitigte. Außerhalb Europas wurden größere Kriege (ohne Nuklearwaffen) natürlich immer noch geführt.

Am Allerwichtigsten ist jedoch, der Kapitalismus hat in seinen Krisenzeiten seine Hausaufgaben in der Wirtschaft wie auch in der Politik gemacht. Er hat jenen Freimarkt-Liberalismus aufgegeben, den man in den Industriestaaten des Westens nur in den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten unter Reagan und in Großbritannien unter Thatcher wieder einzurichten versuchte. (Beide kapitalistische Ökonomien befinden sich nicht zufällig in einer Schieflage.) Das ursprüngliche Motiv für diese Veränderung war aller Gewissheit nach politischer Art. Keynes selbst machte kein großes Geheimnis aus der Tatsache, daß seine Absicht darin bestand, den liberalen Kapitalismus zu retten. Nicht zuletzt war es die enorme Ausbreitung des sozialistischen Lagers mit seinem Gefährdungspotential nach 1945, die in wundervoller Weise die Aufmerksamkeit westlicher Regierungen auf die Bedeutung der sozialen Absicherung gelenkt hat. Die Intention dieses gewollten Bruchs mit dem Kapitalismus des freien Marktes war nicht nur, Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen (von der man in diesen Tagen annahm, daß sie ihre Opfer automatisch radikalisierte), sondern auch, die Nachfrage zu stimulieren. Mitte der 1950er sollte sich herausstellen, daß man beide Ziele erreichen würde. Expansion und Wohlstand machten den Wohlfahrtskapitalismus finanzierbar. In den 1960ern und auch noch in den 1970ern erlebte er seinen Höhepunkt, bevor eine neue Weltwirtschaftskrise einen finanzpolitischen Rückschlag zur Folge hatte.

Die Wende zu einer keynesianischen gemischten Ökonomie sollte sich in hohem Maßstab auszahlen. Politisch beruhte sie auf der gewollten Partnerschaft zwischen Kapital und organisierter Arbeit unter der wohlwollenden Schirmherrschaft der Regierung; diese Partnerschaft wird heutzutage gewöhnlicherweise als „Korporatismus“ bezeichnet und heruntergemacht. Denn das Zeitalter der Katastrophen hatte drei Tatsachen zu erkennen gegeben:

Erstens war die organisierte Arbeiterbewegung in den liberalen Gesellschaften von hoher Bedeutung und unentbehrlich; sie erwies sich in machen kurzen Zeiträumen, wie etwa in Mitteleuropa nach der Niederlage von 1918, tatsächlich als die einzige staatstragende Kraft, die den Zusammenbruch der Imperien überleben sollte.

Zweitens war die Arbeiterbewegung nicht bolschewistisch. (Der Alleinvertretungsanspruch der Komintern drängte ja eigentlich die Sozialisten, die mit der Oktoberrevolution sympathisierten, wieder ins reformistische Lager zurück und machte die Kommunisten in den Ländern der alten Zweiten Internationalen bis zur Zeit des antifaschistischen Widerstands zu einer Minderheit.)

Drittens bestand die einzige Alternative dazu, sich die Loyalität der Arbeiterklasse mit weitreichenden sozialen Zugeständnissen zu erkaufen in der Gefährdung der Demokratie. Aus diesem Grund ist nicht einmal der fanatische Neoliberalismus thatcheristischer Prägung wirklich in der Lage gewesen, sich des Wohlfahrtstaates endgültig zu entledigen oder in seinem Umfang  zu beschneiden.

Die politischen Konsequenzen, ganze Bevölkerungen nackt, sich selbst überlassen, den Schneestürmen des wahren neoliberalen Kapitalismus auszusetzen, sind zu unvorhersehbar, als daß man ein solches Risiko eingehen würde – mit Ausnahme der Wirtschaftsschulabsolventen, die in Luxushotels der Hiltonkette der Dritten Welt und ehemaligen sozialistischen Ländern Ratschläge erteilen. (Selbst dem IWF ist mittlerweile aufgegangen, daß es Grenzen für die Opfer gibt, die man den Völkern der Dritten Welt auferlegen kann.)

Wie auch immer, der Keynesianismus, die Politik des New Deal und der „Korporatismus“ tragen deutlich zu sehen das Muttermal der Krisenjahre des Kapitalismus. Der weltweit agierende Kapitalismus, der aus seinen „Dreißig glorreichen Jahren“ hervorging und (in den Industriestaaten) mit erstaunlich wenig Schwierigkeiten durch die wirtschaftlichen Wirbelstürme der 1970er und 1980er segelte, befand sich nicht mehr länger in Schwierigkeiten. Er begab sich in eine weitere Phase seiner technischen Entwicklung. Er hat die Welt im Wesentlichen zu einer transnationalen Ökonomie mit einer neuen internationalen Arbeitsteilung neu strukturiert.

Die zwei tragenden Säulen der keynesianischen Ära der sozialen Marktwirtschaft, das Wirtschaftsmanagement durch Nationalstaaten und eine starke industrielle Arbeiterklasse, insbesondere eine Arbeiterklasse, die sich in der traditionellen Arbeiterbewegung organisierte, verschlankten sich eher als daß sie brüchig geworden wären. Doch beide Säulen waren in nicht mehr so wie in früheren Zeiten länger in der Lage, all diese schweren Lasten zu tragen. Der Keynesianismus und die (meist sozialdemokratischen Parteien), die man am stärksten mit diesen beiden Säulen identifizierte, befanden sich eindeutig in Schwierigkeiten, auch wenn die wesentliche Grundlage eines jeden florierenden Kapitalismus die gleiche blieb: eine gemischte, öffentlich-private „soziale Marktwirtschaft“ (d.h., die Erwirtschaftung von Profiten plus Wohlfahrtsstaat und soziale Rechte), und die Verknüpfung von privaten und öffentlichem Unternehmertum unter weitreichender öffentlicher Kontrolle. In diesem Ausmaß wurde in den letzten fünfzehn Jahren sichtbar, wie ein weiteres Stück des Erbes der Ära von 1914 bis in die frühen 1950er langsam aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwand.

Und trotzdem sollte ein Hauptsymptom und Ergebnis dieses Zeitabschnitts bestehen bleiben: das Drittel der Welt unter dem „realexistierenden Sozialismus“. Trotz des wachsenden Bewusstseins dafür, daß die sozialistischen Wirtschaften grundlegende Reformen benötigten und trotz der vielen fehlgeschlagenen Versuche, sie zu reformieren, „versagte“ er nicht in einem absoluten Sinne. Wahrscheinlich ging es den Menschen in der UdSSR und in den meisten osteuropäischen Ländern besser als je zuvor. Aber drei Dinge sollten nach und nach immer deutlicher werden.

Erstens war der Sozialismus unfähig, sich vollständig in die neue hi-tech Wirtschaft zu begeben oder gar eine solche hervorzubringen und wurde deshalb in seiner Entwicklung noch weiter abgehängt. Es hätte nichts gebracht, eine Wirtschaft a la Andrew Carnegie aufzubauen, ohne auch die Computertechnologie oder etwa die Produktionsweise eines Henry Ford weiter zu entwickeln, und so musste der Sozialismus in der Massenproduktion von Konsumgütern in eklatanter Weise versagen.

Zweitens ist es im Zeitalter der globalen Kommunikation, der Medien, der Tourismusindustrie und einer international verflechteten Wirtschaft nicht mehr länger möglich gewesen, die Bevölkerungen unter dem Sozialismus von Informationen über die nicht-sozialistische Welt zu isolieren, das heißt, von dem Wissen, wie viel schlechter es ihnen in materieller Hinsicht ging und wie stark eingeschränkt sie in ihrer Entscheidungsfreiheit waren.

Drittens wurde die UdSSR durch die Verlangsamung ihrer Wachstumsrate und des wachsenden Rückstandes zu den kapitalistischen Volkswirtschaften ökonomisch zu schwach, um ihre Rolle als Supermacht, soll heißen, um ihre Kontrolle über Osteuropa aufrecht zu erhalten. Kurzum, der Sozialismus sowjetischer Prägung wurde in zunehmenden Maße wettbewerbsunfähiger und musste den Preis dafür bezahlen. Was noch schlimmer ist: Er hat sich bis zum heutigen Tage als anpassungs- und reformunfähig erwiesen. Darin unterscheidet er sich vom chinesischen Sozialismus, dessen Wirtschaftsreformen zumindest im Agrarsektor spektakuläre Erfolge erzielten – wenn auch zu dem Preis, daß sich die sozialen Bedingungen ernsthaft verschlechtert haben – und der bis jetzt politische Unruhe in den Städten abgewehrt hat, da dem ländlichen Raum in China nach wie vor eine wesentlich größere Bedeutung zukommt.

Auch die sozialdemokratischen Mischwirtschaften sind von diesen Reform- und Anpassungsschwächen nicht betroffen. Die skandinavischen Länder und Österreich befinden sich weiterhin an der Spitze des Wohlstandes und der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung, während sie die Arbeitslosigkeit niedrig und ihr anspruchsvolles Wohlfahrtssystem gut in Schuss halten.

Wer hat gewonnen? Wer hat verloren? Und was sind die Aussichten? Der Gewinner ist nicht der Kapitalismus als solcher, sondern die alte industrialisierte Welt der OECD-Länder2, die eine (stetig) abnehmende Minderheit der Weltbevölkerung ausmacht, sagen wir einmal, heutzutage 15% im Vergleich zu den 33% vom Jahre 1900. (Die so genannten Schwellenländer, oder NICs – Newly Industrialising Countries –, erwirtschaften trotz ihrer bemerkenswerten Fortschritte immer noch nur zwischen einem Viertel und einem Drittel des durchschnittlichen OECD- Bruttosozialprodukts.) Die Lebensbedingungen der Massen der Weltbevölkerung ohne kommunistische Regimes, deren Regierungen sich vor und seit 1917 um eine wirtschaftliche Entwicklung bemühen, geben auch im Adam-Smith-Institut kaum Anlass zu Triumphgeheul.

Im Gegensatz zum ehemaligen sozialistischen Lager kennt die nicht-sozialistische Welt Regionen, in denen man tatsächlich wieder zur Subsistenzwirtschaft und zum Hunger zurückgekehrt ist. Davon abgesehen hat auch in den Industrieländern Thatchers Utopie vom freien Markt ganz bestimmt nicht den Sieg davongetragen. Selbst seine intellektuelle Anziehungskraft bleibt auf die Ultras im Westen und verzweifelte Intellektuelle im Osten beschränkt, die sich der Hoffnung hingeben, am Südpol sei es wärmer als am Nordpol, da er sich schließlich genau auf der anderen Seite befindet.

Es lässt sich trotzdem nicht bestreiten, daß der Kapitalismus durch die Reformen und Umstrukturierungen in seinen Krisenjahren erneut unter Beweis gestellt hat, daß er die dynamischste Kraft in der globalen Entwicklung darstellt. Und wie Marx vorhersagte, wird er mit Sicherheit weiter fortschreiten, indem er innere Widersprüche hervorbringt, die zu periodisch auftretenden Krisenzeiten und damit erneut zu Umstrukturierungen führen. Das könnte ihn wieder an den Rande des Zusammenbruchs bringen, wie es früher in diesem Jahrhundert passierte. Und doch ist es die Zweite und Dritte, nicht die Erste Welt, die an den katastrophalen Folgen dieser Krisen und Umstrukturierungen Schaden nimmt.

Von den Regimes des „realexistierenden Sozialismus“ einmal abgesehen, die ganz einfach keine Zukunft mehr haben – wer oder was hat verloren? Das wichtigste Ergebnis des Jahres 1989 wäre, daß der Kapitalismus und die Reichen derzeit keine Angst mehr zu haben brauchen. All das, was die westliche Demokratie für ihre Bevölkerungen lebenswert gemacht hat - die soziale Absicherung, der Wohlfahrtsstaat, hohe und steigende Einkommen für die Lohnabhängigen und die damit einhergehende Verringerung der sozialen Ungleichheit und die wachsende Chancengleichheit -, waren das Resultat dieser Angst. Es war die Angst vor den Armen, die Angst vor dem größten und am besten organisierten Teil der Bevölkerung in den Industriestaaten, den Arbeitern; die Angst vor einer Alternative, die tatsächlich existierte, die sich am wahrscheinlichsten in Form des Sowjetkommunismus hätte ausbreiten können. Es war die Angst vor der dem System innewohnenden Instabilität.

Diese Angst bestimmte in den 1930er Jahren das Denken der westlichen Kapitalisten. Die Furcht vor dem sozialistischen Lager, das sich nach 1945 in so dramatischer Weise vergrößerte und von einer der beiden Supermächte vertreten wurde, sollte deren Denken auch nach dem Krieg weiter bestimmen. Was auch immer Stalin den Russen angetan hat, er war gut für die einfachen Leute im Westen. Es ist  kein Zufall, daß sich die Politik, mit der Keynes und Roosevelt den Kapitalismus retteten, auf Wohlfahrt und soziale Absicherung konzentrierte, daß man den Armen mehr Geld zum Ausgeben zukommen ließ und sich um „Vollbeschäftigung“ bemühte - ein zentrales Anliegen der westlichen Nachkriegspolitik, das insbesondere auf die Arbeiter abzielte. Und es sollte sich herausstellen, daß diese Politik, die sich gegen die extremsten Formen der Ungleichheit richtete, sehr gut für die kapitalistische Entwicklung war. Die Vorzeigeländer des wirtschaftlichen Nachkriegswachstums wie Japan, Südkorea und Taiwan kamen bis vor Kurzem in den Genuss einer ungewöhnlich egalitären Einkommensverteilung, die unter anderem von dem Nachkriegslandreformen der Besatzungsmächte abgesichert wurde, in der Absicht, Revolutionen entgegen zu wirken. Diese Furcht, die sich schon durch die abnehmende industrielle Arbeiterklasse, dem Niedergang ihrer Bewegungen und durch das wiedererlangte Selbstbewusstsein eines florierenden Kapitalismus abgeschwächt hatte, ist mittlerweile verschwunden. Derzeit gibt es keine Region in der Welt, die eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus vertreten würde, auch wenn man sich darüber im Klaren sein sollte, daß der westliche Kapitalismus für die Probleme der meisten Schwellenländer keine Lösung anzubieten hat. Diese Länder werden möglicherweise auf den Entwicklungsstand der Dritten Welt abrutschen. Warum sollten sich die Reichen, vor allem in Ländern wie unseren, um jemand anderes außer um sich selbst kümmern, da sie sich nun im Siegesglanz der Ungerechtigkeit und Ungleichheit sonnen? Welche politischen Sanktionen haben sie zu befürchten, wenn sie den Wohlfahrtsstaat erodieren, die soziale Sicherheit für diejenigen, die sie benötigen, verschwinden lassen? Darin besteht die wichtigste Folge des Umstands, daß der Sozialismus, so schlecht er auch gewesen sein mag, von der Erdoberfläche verschwunden ist.

Für eine Diskussion über die langfristigen Zukunftsaussichten ist es noch zu früh. Das, was ein ungarischer Historiker als das „kurze 20. Jahrhundert“ (1914 – 1989) bezeichnet hat, ist zu Ende gegangen, aber alles, was wir über das 21. Jahrhundert sagen können, ist, daß man sich mit mindestens drei immer dringlicher werdenden Problemen auseinander zu setzen hat: die stetig breiter werdende Kluft zwischen den reichen und armen Ländern (und wohl auch zwischen Arm und Reich innerhalb der reichen Länder); zunehmender Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; und (nicht zuletzt) die weltweite ökologische Krise, deren Auswirkungen uns alle betreffen werden. Die Wege und Möglichkeiten, diese Probleme zu lösen, stehen noch nicht fest, doch Privatisierung und freier Markt gehören nicht dazu.

Von den kurzfristigen Problemen stechen vor allem drei hervor. Erstens ist Europa wie in der Zwischenkriegszeit in einen Zustand der Instabilität zurückgefallen. Zwar hat Hitlers Triumph für kurze Zeit eine „deutsche Ordnung“ hervorgebracht. Doch das Abkommen von Jalta und das Machtmonopol der zwei Supermächte sorgten in Europa über 45 Jahre für eine Stabilität, die nun an ihr Ende gekommen ist.. Seitdem Russland und die USA gemeinsam nicht mehr in der Lage sind, ihre Ordnung auch weiterhin aufrecht zu erhalten, wäre Deutschland, so wie in der Zeit zwischen den beiden Kriegen, die einzige alternative Hegemonialmacht auf unserem Kontinent. Und genau davor haben alle Angst. Nicht etwa, weil „die Deutschen Deutsche sind“ - eine Rückkehr zur Politik Hitlers wird es ganz gewiss nicht geben -, sondern weil der deutsche Nationalismus noch ein gefährliches, unerledigtes Geschäft zu verrichten hat: die Wiedererlangung der riesigen Gebiete, die nach 1945 an Polen und die UdSSR verloren gegangen sind.

Und diese neue Instabilität ist, wie die Krise im Nahen Osten beweist, nicht nur europäischer, sondern globaler Natur. Politische Abenteuer stehen wieder auf dem Plan, da man nicht mehr von der Befürchtung zurückgehalten wird, daß ein plötzliches Eindringen einer der Supermächte oder der an ihnen angeschlossenen Staaten in das Einflussgebiet des anderen Lagers eine direkte Konfrontation zwischen Ost und West auslösen würde. Was die globale Ordnung seit 1945 einschließlich der meisten der 60 souveränen Kleinststaaten mit Bevölkerungen von weniger als 2 Millionen Menschen (die Golfregion ist voll solcher politischer Kunstprodukte) am Leben erhielt, war in allererster Linie die Angst vor einem Weltkrieg. Selbst wenn der weltweite nukleare Holocaust keine unmittelbare Bedrohung mehr darstellt, ist eine Welt vor einem Krieg nicht sicherer geworden, in der Gangster von regionaler Bedeutung nicht länger zu zögern brauchen, in kleine benachbarte Territorien einzufallen. Und das gilt ebenso für eine Welt, in der eine Supermacht ohne weitere Bedenken, mit dem Finger am Abzug, in das Sprengstofflager des Nahen Ostens eindringt, in dem Wissen, daß diejenigen, deren Raketen New York erreichen könnten, nicht mehr in der Lage sein werden, sich in ähnlicher Weise aufzuführen. Ist es denn ein Zufall, daß uns kaum ein halbes Jahr nach der Auflösung des Warschauer Paktes ein größerer Krieg bevorsteht?

Der zweite Aspekt dieser Entwicklung verschärft diese globale Instabilität, da die mittel- und osteuropäischen Länder gerade in einem Zustand nationalistischer Rivalitäten und Konflikte zurückfallen, der der Lage nach dem ersten Weltkrieg in dieser Region sehr ähnlich sieht. Es ist eine Tatsache, daß alle dringlichen Probleme dieser Art auf die Zwischenkriegsjahre zurückgehen. Vor 1914 stellten diese Probleme keinen Grund für größeres Kopfzerbrechen dar3. Was die ganze Situation noch explosiver macht ist der Umstand, daß sich heutzutage der letzte multinationale Staat, der vor 1914 entstanden war, im Begriff der Auflösung befindet. Schließlich war es die Oktoberrevolution, die das zaristische Herrschaftsgebiet vor dem Schicksal des Habsburger und Osmanischen Reiches bewahrte und ihm etwa weitere 70 Jahre in Form der UdSSR zu leben gab.

In dieser Situation besteht eine ernsthafte Kriegsgefahr. Die Demagogen des großrussischen Nationalismus reden schon  in aller Leichtfertigkeit über einen möglichen „Bürgerkrieg, in dem wir nur eine nukleare Option haben“4. Bald könnten wir melancholisch auf die Tage zurückblicken, als die Auslöser eines Atomkrieges noch unter Kontrolle der Supermächte standen.

Und zuletzt wäre da noch die Instabilität des politischen Systems, in das sich die ehemaligen kommunistischen Staaten in aller Hast hinein begeben: die liberale Demokratie. Genauso taten es die neu entstandenen Staaten im Jahre 1918. Zwanzig Jahre später war nur noch die Tschechoslowakei demokratisch. Die Aussichten für die liberale Demokratie sind in dieser Region schlecht, oder zumindest ungewiss. Und angesichts der Unwahrscheinlichkeit einer Rückkehr zum Sozialismus wird die Alternative zur liberalen Demokratie höchstwahrscheinlich militärischer, rechter, oder beiderlei Art sein. Lassen Sie uns also Osteuropa und der Welt, die am Ende einer alten Epoche und an der Schwelle zum 21. Jahrhundert steht, viel Glück wünschen. Denn Glück werden wir benötigen. Und lassen Sie uns Mr. Francis Fukuyama unser Bedauern aussprechen, der behauptet, das Jahr 1989 bedeute das „Ende der Geschichte“, und daß dank des liberalen freien Marktes nunmehr alles wie am Schnürchen laufen werde. Wenige Prophezeiungen machen einen kurzlebigeren Eindruck als diese.

Anmerkungen

1Die Jahre von 1946 bis 1953 waren zweifelslos der gefährlichste Zeitabschnitt nach dem Krieg, als Attlee sich deshalb nach Washington begab, um Truman davon abzuhalten, Nuklearwaffen in Korea einzusetzen. 1947 bis 1950 waren wahrscheinlich die Jahre, in denen die UdSSR wohl ernsthaft davon ausging, ein Krieg stünde bevor.

2Wenn wir die Türkei, Griechenland, Spanien und Portugal außen vor lassen, die lediglich aus politischen Gründen eingebunden wurden, setzt sich die OECD aus Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Italien, Japan, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die BRD zusammen. Australien ist nur partiell eingebunden.

3Zu den Konflikten, die vor 1914 nicht existent oder nur von geringer politischen Bedeutung waren, gehören unter anderem: Kroaten gegen Serben; Serben gegen Albaner, Slowaken gegen Tschechen, die verwickelte Lage in Transsylvanien, die drei baltischen Nationalismen, Weißrussland, Moldawien, der Nationalismus in Azerbaidschan, um nicht die ehemaligen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie zu erwähnen.

4Edward Mortimer, 'Bolshevism At The Mercy of The Republics', Financial Times, 31. Juli 1990.

Editorische Hinweise

Der  Artikel "Goodbye To All That - 1989 marked the end of the era ushered in by 1917"
 erschien in
"Marxism Today" Ausgabe  October 1990

http://www.amielandmelburn.org.uk/collections/mt/pdf/90_10_18.pdf

Die Übersetzung besorgte die Genossin A. vom Info- und Stadtteilladen LUNTE.

Marxism Today war eine in Großbritannien zwischen 1977 und 1991 monatlich herausgegebene Zeitschrift der Kommunistischen Partei Großbritanniens