In den
letzten Monaten haben sich in verschiedenen Städten Bündnisse
gegen Sozialchauvinismus gegründet. Sie haben damit einen bisher
in der linken Debatte weniger bekannten Begriff in die
Öffentlichkeit gebracht. Auf einem von dem Berliner Bündnis
erstellten Plakat wird Sozialchauvinismus als „eine
Krisenideologie“ bezeichnet, „die mit Feindseligkeit gegen alle
verbunden ist, die nicht ins Idealbild einer kapitalistischen
Leistungsgesellschaft passen“. Oft versuchen Träger dieser
Ideologie, damit die eigene Nützlichkeit in der Gesellschaft
aufzuwerten. Fast jeder wird im Alltag schon auf
sozialchauvinistische Phänomene gestoßen sein.
Ein Beispiel aus dem Nahverkehr
Bevor der
Zeitungsverkäufer überhaupt begonnen hat, in der Berliner U-Bahn
seinen Spruch aufzusagen, wird er von einem Fahrgast aus dem
Waggon mit einer Schimpfkanonade bedacht: Ob man in der Bahn,
als zahlender Kunde, denn immer mit diesen Versagern belästigt
werden müsse. Dafür erntet der Mann mittleren Alters, Typ
Vertreter, bei anderen Fahrgästen Zustimmung. Da nützt es
nichts, dass der Verkäufer mittels eines Ausweises am Revers die
Rechtmäßigkeit seiner Arbeit dokumentieren will. Auch seine
Distanzierung von denen, die seinen Berufsstand in ein
schlechtes Licht rückten, weil sie nicht berechtigt seien,
Zeitungen zu verkaufen und den verständlichen Zorn des Publikums
auf sich zögen, haben wenig Erfolg.
So bekommt
man in einer Alltagsszene illustrativ vorgeführt, wie der
Sozialchauvinismus funktioniert. Menschen, die Probleme haben,
in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft vom Rand
wegzukommen, bekommen den Zorn derer ab, die selbst nur ein Rad
im Getriebe sind. Ihre Angepasstheit demonstrieren sie durch
freche Sprüche in Richtung derer, die in der sozialen
Hackordnung noch weiter unten stehen. An ihnen wird die
Aggression ausgelassen, die sich beim tagtäglichen Katzbuckeln
vor dem Chef oder Vorarbeiter oder auch nur vor dem Kollegen,
der eine Stufe höher gerückt ist, angesammelt hat. Auch der
Gescholtene traut sich nicht, einer solchen Behandlung zu
widersprechen. Stattdessen versucht er sich als produktives
Mitglied der kapitalistischen Leistungsgesellschaft zu
präsentieren, indem er auf die „schwarzen Schafe“ verweist, die
nicht so gut funktionieren würden.
Was hier
beispielhaft dargestellt wurde, findet sich in allen Poren der
Gesellschaft. Oft genug sind die Akteure Menschen, die selbst am
Rand der kapitalistischen Leistungsgesellschaft leben, also
allen Grund hätten, dagegen aufzubegehren. Doch mit
Sozialchauvinismus grenzen sie sich von anderen ab. Das kann die
erwerbslose Nachbarin sein, die sich zu ihrem ALG II noch etwas
dazu verdient und beim Jobcenter denunziert wird. Das kann der
nichtdeutsche Leiharbeiter sein, der von Kollegen im selben
Betrieb geschnitten und diskriminiert wird.
Geteilte Solidarität
Die
Soziologen Hajo Holst und Ingo Matuschek von der Universität
Jena zeigen anhand eines Betriebs mit ca. 6.000 Beschäftigten
und starker IG-Metall-Verankerung auf, wie ein
betriebswirtschaftliches Denken, das sich vor allem um die
Rettung des Standorts dreht, zur Entsolidarisierung gegenüber
Erwerbslosen und LeiharbeiterInnen führt. Diese werden von einer
Mehrheit der Befragten nur unter dem Aspekt des Nutzens für den
Betrieb gesehen. Holst und Matuschek erklären dieses Verhalten
vor dem Hintergrund verstärkter Fragmentierungen in der
Arbeitswelt und der Identifikation mit dem eigenen
Betriebsstandort.
„Allerdings
ist das normativ ‚Gute‘ des eigenen Betriebs permanent bedroht.
Insbesondere die langjährig Beschäftigten sind sich bewusst,
dass die das hohe Maß an Identifikation und Loyalität
befördernden positiven Merkmale des Standorts auf eigenen, immer
wieder neu zu erbringenden Flexibilitätsleistungen beruhen“,
schreiben die Soziologen in einem kürzlich erschienenen Buch.
[1] Und weiter: „Auf dieser Basis hat sich in der Belegschaft
eine ‚kompetitive‘ Solidarität herausgebildet, die zwar einer
solidarischen Gleichbehandlung aller Beschäftigten das Wort
redet, die aber von jeden einzelnen entsprechende Leistungen
einfordert“.
Zur positiven
Identifikation mit dem Betrieb gehört auch die Bereitschaft,
sich mehr als nötig zu engagieren, um zum Erfolg des
Unternehmens beizutragen. In dieser Sichtweise gehören
Leiharbeiter nicht zur Betriebsfamilie. Deswegen hat ein
Großteil der Belegschaft auch keine Probleme damit, dass diese
weniger verdienen und weniger Rechte haben. Sogar die Forderung
nach mehr Druck auf Erwerbslose, damit diese jede Arbeit
annehmen, ist aus der Belegschaft häufiger zu hören. Auch hier
spielt der Leistungsbegriff eine wichtige Rolle. Wer bereit ist,
zum Wohl des Bosses zu buckeln, der verlangt das auch für die
Allgemeinheit. So rücken Erwerbslose, die für ihre Rechte
kämpfen und nicht bereit sind, ihre Arbeitskraft um jeden Preis
zu verkaufen, schnell in die Nähe von Leistungsverweigerern. Und
für solche, das ist das Fazit von Holst und Matuschek, „wird die
Luft unter den Kollegen dünner“.
Ein neues Feindbild
Die
Diskussion um den Sozialchauvinismus hat durch die mittlerweile
mehr als ein Jahr alte Debatte um Thilo Sarrazin (SPD) an
Bedeutung gewonnen. Der ehemalige Berliner Senator und
Deutsche-Bank-Manager hatte mit seinen Äußerungen nicht in
erster Linie muslimische MigrantInnen im Visier, wie es in
großen Teilen der linksliberalen Medien nahegelegt wird. Zu
seinem Feindbild zählen vielmehr alle, die dem Standort
Deutschland aus seiner Sicht nicht nützen, wie in einem von
Sebastian Friedrich herausgegebenen Sammelband herausgearbeitet
wird. [2] Betroffen davon sind ALG-II-EmpfängerInnen ebenso wie
migrantische Jugendliche. Das hat Sarrazin bereits in seiner
Zeit als Berliner Senator immer wieder deutlich gemacht. Seine
Person ist dabei nur der „Lautsprecher“ eines
Sozialchauvinismus, der Teile der Elite mit „Bild-Lesern“
zusammenschweißt.
So hat der
sich selbst als „Neo-Aristokrat“ bezeichnende Philosoph Peter
Sloterdijk die sozialchauvinistische Grundannahme in einem
FAZ-Aufsatz in Reinform dargeboten. Während im ökonomischen
Altertum die Reichen auf Kosten der Armen gelebt hätten, würden
in der „ökonomischen Moderne die Unproduktiven mittelbar auf
Kosten der Produktiven“ leben. Die Leistungsträger und die
Unproduktiven sind zentrale Kategorien im sozialchauvinistischen
Diskurs. Letztere werden auch gerne als „Transferbezieher“
abgewertet. Damit können Erwerbslose genau so gemeint sein wie
Aufstocker, aber auch ganze Staaten wie Griechenland im
EU-Diskurs. So wurde der „Transferbezieher“, der angeblich nicht
von eigener Arbeit lebe, zum neuen Feindbild.
Hetze gegen die Chavs
Sozialchauvinistisches Denken kann sich mit Unterdrückung auf
„ethnischer“ Grundlage verknüpfen. Das zeigt sich in den
vielerorts um sich greifenden Angriffen gegen Roma und Sinti.
Den Angegriffenen wird vorgeworfen, nicht leistungsbereit genug
zu sein. Wie sich solche rassistische Stereotypen wiederum mit
dem Hass auf das Proletariat verbinden kann, wenn dieses nicht
angepasst und eingehegt in die bürgerliche Gesellschaft ist,
zeigt sich in Großbritannien am Siegeszug des Begriffs „Chavs“,
der wahrscheinlich von „Chaavi“, dem Roma-Wort für „Kind“,
abgeleitet wurde. Er tauchte vor knapp zehn Jahren in der
Öffentlichkeit auf und wurde immer populärer.
„Er kam zuerst in der Bedeutung von ‚junger Angehöriger der
Arbeiterklasse in legerer Freizeitkleidung‘ in den Wortschatz.
Aber es schwangen immer auch hasserfüllte, klassenbezogene
Bedeutungen mit, ein Chav war gleichbedeutend mit ‚antisozialem
Verhalten‘, Geschmacklosigkeit und Nutzlosigkeit“, schreibt der
Historiker Owen Jones. Er hat kürzlich ein Buch über die
Dämonisierung der Arbeiterklasse geschrieben. [3] Nun hat die
Kampagne gegen die Chavs ein neues Beispiel geschaffen: Als im
Spätsommer in britischen Städten Riots ausgebrochen waren,
erreichte die Hetze ihren Höhepunkt. „Plünderer sind Abschaum“,
diese Parole, die bei den Aufräumarbeiten des patriotischen
Mittelstands zu sehen war, wurde im öffentlichen Diskurs
weitgehend Konsens. Für viele waren diese Plünderer mit den
Chavs identisch.
Jones zeigt
auch auf, wie die Kampagne gegen die Unterklasse und die
Ideologie vom Ende der Arbeiterklasse verschmelzen. Das Klischee
vom Chav tauchte zu einer Zeit auf, als Journalistinnen und
Politiker aller Couleur behaupteten, wir alle – auch die
vermeintlich aufstrebende Arbeiterklasse – seien nun
Mittelschicht. Mit einer großen Ausnahme: All das, was von der
alten Arbeiterklasse übrig war, wurde zum problematischen Rest
degradiert. So schrieb der rechtsstehende Journalist Simon
Heffer: „Was früher einmal die ehrbare Arbeiterklasse genannt
wurde, ist fast ausgestorben. Was Soziologen als Arbeiterklasse
zu bezeichnen pflegten, arbeitet dieser Tage normalerweise
überhaupt nicht, sondern wird vom Sozialstaat unterhalten.“ Sie
habe sich stattdessen zu einer „verkommenen Unterschicht“, dem
Prekariat, entwickelt. „Wer außerhalb von
Mittelschichtbritannien bleibt, ist selbst schuld daran“, fasst
Jones diese Propaganda zusammen, die keineswegs Großbritannien
vorbehalten ist.
Der normale Wahnsinn
Dass ganze
Menschengruppen als faule, unproduktive „Schmarotzer“ beschimpft
werden, ist in Deutschland seit Langem bekannt. Diese Hetze
erlebt immer wieder Konjunkturen, etwa wenn diese durch das
Zusammenspiel von Boulevard und Politik die Form einer Kampagne
annimmt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Interview des
ehemaligen FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle, in dem er gegen
die „spätrömische Dekadenz“ in unserer Gesellschaft wetterte. Es
war nur der Startschuss für eine neue Kampagne gegen
Erwerbslose, eine der vielen, die zur Verfestigung des
Hartz-Regimes beitragen.
Mit der
Kategorie des Sozialchauvinismus werden diese
Unterdrückungsmechanismen sozial verortet. So kann verhindert
werden, dass daraus ein rein moralisierender Diskurs entsteht,
wie es beim Rassismus oft der Fall ist. Der Kampf gegen
Sozialchauvinismus und Rassismus ist aber vor allem ein Eingriff
in soziale Praxen und kann völlig unterschiedliche Formen
annehmen. Dass man auch gegen sozialchauvinistische Spaltungen
streiken kann, machten finnische Stahlkocher in diesem Sommer
deutlich. Sie traten in den Ausstand, um polnische Leiharbeiter
bei ihrem Kampf für gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen gegen
den deutschen Konzern Beroa zu unterstützen. Der mehrtägige
Solidaritätsstreik setzte die Bosse schnell unter Druck. Ein
Beroa-Vertreter sagte daraufhin zu, dass das Unternehmen sich
zukünftig an die finnischen Gesetze und die vertraglich
vereinbarten Bestimmungen halten werde. Der Umgang mit den
Leiharbeitern, der in Finnland für Empörung sorge, sei in
mitteleuropäischen Ländern üblich, rechtfertigte er sich noch.
Damit hat der
Beroa-Vertreter ein wahres und vernichtendes Urteil über die
solidarische Kampffähigkeit und -bereitschaft auch der
DGB-Gewerkschaften ausgesprochen. Eine Auseinandersetzung mit
sozialchauvinistischen Ideologien und Tendenzen, die sich auch
unter Lohnabhängigen und Erwerbslosen verbreitet sind, ist
unbedingt notwendig. Dagegen hilft nur die Entwicklung von
kollektiver Solidaritätsarbeit und Gegenwehr im Alltag. So wird
bei Begleitaktionen von Erwerbslosen im Jobcenter eben nicht
nach „guten“ und „schlechten“ Erwerbslosen unterschieden und die
gesellschaftliche Spaltung reproduziert. Dadurch kann ein
politisches Bewusstsein entstehen, das Sozialchauvinismus
zurückdrängt. Ganz verschwinden wird er so schnell nicht, aber
zumindest könnte ein Klima erzeugt werden, indem die
Mehrausbeutung von Leiharbeitern nicht mehr zum
mitteleuropäischen Standard gerechnet wird.
Literatur zum Thema
[1] Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der
Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu
den rassistischen Normalisierungsprozessen der Sarrazindebatte,
Münster 2011.
[2] Thomas Haipeter & Klaus Dörre (Hg.): Gewerkschaftliche
Modernisierung, Frankfurt a.M. 2011, u.a. mit dem Beitrag von
Hajo Holst & Ingo Matuschek.
[3] Owen Jones: Chavs. The Demonization of the Working Class,
London 2011.
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom
Autor für diese Ausgabe.