Am 25. 10. 2010 beantragte die grüne Stadträtin für Jugend,
Schule und Umwelt Anke Otto des Bezirksamtes
Steglitz-Zehlendorf von Berlin bei der Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Medien, das 2009 vom Voggenreiter Verlag
Bonn herausgegebene Liederbuch „Unser fröhlicher Gesell“ auf
den Index zu setzen. Der Antrag stützt sich auf eine am 2. 10.
2010 unter dem Titel „Auf den Index!“ veröffentlichte
Recherche der jungen Welt, in der nachgewiesen wird,
dass das Liederbuch rassistisch, antisemitisch und
militaristisch kontaminiert ist. Am 1. 12. 2010 entschied das
von der Oberregierungsrätin Petra Meier geleitete zwölfköpfige
Gremium des Bundesinnenministeriums, den Antrag
zurückzuweisen.
Die
Begründung dafür ist eine einzige Verharmlosung rechten
Gedankenguts. Da heißt es: „Das Gremium sieht die Tatsache, daß
einige Texte aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen bzw.
von Nationalsozialisten geschrieben wurden, noch nicht als
relevant an, eine Verherrlichung dieses Regimes im oben
beschriebenen Sinne zu begründen.“ Die Mitgliedschaft in der
NSDAP nicht relevant für die Unterstützung bzw. Verherrlichung
des Naziregimes? Aber gehen wir weiter, das ganze Ausmaß der
Verharmlosung rechten Denkens zeigt sich erst in der konkreten
Textanalyse. Da heißt es: „Im Sinne des von der Antragstellerin
eingereichten Zeitungsartikels erkennt das Gremium an, dass vor
dem Hintergrund der dort ausführlich beschriebenen
nationalsozialistischen Autorenschaft einiger Texte und der
stets positiv bewerteten Opfer- und Rekrutierungsbereitschaft
des Einzelnen eine verbreitete Stimmung zu Zeiten des
Nationalsozialismus, aber auch die Kriegsstimmung
zu
Beginn des Ersten Weltkrieges widergespiegelt wird (…) An keiner
Stelle werden das Wirken und die Ideologie der
Nationalsozialisten hervorgehoben. Das Liederbuch vermittelt
einen eher unpolitischen Eindruck, spiegelt in den Texten
allerdings teilweise die Mentalität der Zeit wider, aus der
heraus die Bereitschaft zum Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie
der Nationalsozialismus möglich waren.“ Unpolitischer Eindruck?
Vor dem Hintergrund einer Erziehung zu Krieg und Zerstörung?
Genau um diese Taktik geht es ja beispielsweise den Funktionären
von NPD-Jugendlagern und -Heimatabenden, die im Rahmen ihrer
rechten Kulturoffensive das Unterbewusste von Heranwachsenden zu
besetzen suchen, indem sie Lieder nationalistischen und
militaristischen Charakters einstudieren, die eben nicht
vornehmlich leitartikelartig daherkommen, sondern, da sie Lieder
sind, sich der Stilisierung und Symbolisierung bedienen. Dass
diese Propagandatricks von der Bundesprüfstelle im Beschluss
nicht nur nicht einer entschiedenen Textkritik ausgeliefert,
sondern obendrein apologetisch breitgewalzt werden, ist ein
Skandal. So heißt es über ein im Jahre 1935 im „Liederblatt der
Hitlerjugend“ erstmals publiziertes und im Jahre 2009 mit diesem
Liederbuch erneut publiziertes Machwerk des Aktivisten und
Liedermachers der Deutschen Freischar Jürgen Riel in kaum noch
zu überbietender Apologetik: „Im Text des Liedes ‚Kameraden, wir
marschieren‘ werden Krieg und konkrete Kriegshandlungen nicht
ausdrücklich benannt. Der Text ist sehr abstrakt gehalten und
einzig die Wörter ‚Marschieren‘ und ‚Kamerad‘ weisen mittelbar
einen Kriegsbezug auf. Allerdings ist von keinerlei
Kriegshandlungen die Rede. Speere in fremde Meere zu schleudern,
um hinter ihnen her zu schwimmen, wird heute nicht als
Eroberungsabsicht verstanden. Sollten rezipierende Jugendliche
die Formulierungen mit Krieg assoziieren, so dürfte die
Beschreibung des In-den-Krieg-Ziehens als Entdeckungsreise und
Abenteuer verstanden werden. Der Text ist jedoch sehr unkonkret
formuliert und bezöge sich bei dieser Auslegung auf eine
Kriegsführung, die auf an Krieg interessierten Jugendlichen
heute als unattraktiv erscheinen dürfte.“ Die Autorinnen und
Autoren der völkisch-nationalistischen online-Zeitung
chemnitzinfos Das Nachrichtenportal aus Chemnitz werden über
diese Art von ideologischer Schützenhilfe aus höchstem
Staatsmunde sehr dankbar sein: In ihrer aktuellen Ausgabe
zitieren und preisen sie den berüchtigten HJ-Marsch „Kameraden,
wir marschieren“ als ihren Kampfgesang.
Und
über ein besonders menschenverachtendes Elaborat eindeutig
rassistischer Tradition heißt es: „Eine Indizierung als
verhältnismäßig erscheinen lassende sozial-ethische
desorientierende Wirkung des Liedes auf Kinder und Jugendliche
im Kontext des verfahrensgegenständlichen Buches wurde seitens
des Gremiums nicht erkannt. Das Gremium schließt jedoch nicht
aus, dass derselbe Inhalt in einem anderen Kontext zu einer
anderen Würdigung führen kann.“ Würdigung? Ist die lange Kette
ideologischer Verbindungsglieder vom ersten Verbreiten
ausländerfeindlichen Gedankenguts bis hin zu Überfällen,
Bombenanschlägen und Morden von neonazistischen Terrorzellen,
wie sie jetzt gerade aufgedeckt werden, eine Würdigung? In
welchem Kontext leben wir? In welchem Land?
„Eine
Indizierung war nach alledem nicht auszusprechen“, lautet das
abschließende Urteil der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende
Medien nach angeblich wissenschaftlichen Textanalysen, um dann
eine Begründung nachzuschieben, die die Aufgabenstellung eben
dieser Einrichtung schlankweg bestreitet: „Über eine mögliche
Beeinträchtigung von Kindern und Jugendlichen aufgrund
vorliegender Texte hatte die Bundesprüfstelle nicht zu
entscheiden. Insbesondere obliegt es daher im Bereich der
Printmedien den Erziehenden, solche Inhalte entsprechende
Altersgruppen nicht zugänglich zu machen, denen eine Einordnung
der Texte in den historisch-kulturellen Gesamtzusammenhang nicht
möglich ist.“ In welchem Land leben wir, dass eine solche
Aushöhlung zentraler gesellschaftlicher Anliegen eines
demokratischen Gemeinwesens möglich ist?
Angesichts des dramatischen Geschehens, das gegenwärtig die
Republik erschüttert, ist die Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Medien gefordert, zum kulturpolitischen
Auftrag ihrer Einrichtung zurückzukehren und den defätistischen
Beschluss einer rückhaltlosen Selbstkritik zu unterziehen. Kein
Appeasement in der geistigen Auseinandersetzung mit Rechts!
Keine Kapitulation vor dem Vormarsch der Rechten mit Amtsstempel
des Bundesinnenministeriums! Auch 66 Jahre nach Kriegsende gilt
für alle staatlichen Institutionen dieser Republik nach wie vor
das Befreiungsgesetz gemäß Artikel 139 Grundgesetz: „Die zur
‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und
Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den
Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“
Gefordert ist jetzt – angesichts vor allem der zehn Opfer
neonazistischen Terrors – eine konsequente und wissenschaftlich
stichhaltige Auseinandersetzung mit rechtem und nazistischem
Gedankengut, wie es skandalöserweise dieses Liederbuch
ungehindert verbreiten darf. Bisherige Verkaufszahl: Über
100.000 Exemplare.
Deutsche Politiker türkischer Herkunft fordern von der
Bundesregierung eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit
rechtsextremem Gedankengut. Mehrere Abgeordnete des
Europaparlamentes, des Bundestages und verschiedener
Landesparlamente haben inzwischen einen parteiübergreifenden
Aufruf unterzeichnet, in dem es u. a. heißt: „Weit über zehn
Prozent der Bevölkerung vertreten rechtsextreme Meinungen. Dies
zu ändern und zu bekämpfen, bedarf es einer deutlichen Ächtung
und einer Vielzahl von Maßnahmen.“ Zu den Erstunterzeichnern
gehören bisher fast 20 Politiker von SPD, Grünen und Linken,
darunter Ekin Deligöz, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von
Bündnis 90 / Die Grünen im Bundestag, sowie der
SPD-Europaparlamentarier Ismail Ertug. Man müsse „das Übel an
der Wurzel“ packen, heißt es in dem Aufruf unmissverständlich.
Daher sei die Bekämpfung von „rechtsradikalen Tendenzen in
Schulen und Jugendeinrichtungen von besonderer Bedeutung.“
Der
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien sei das Studium
dieses Aufrufes engagierter Demokraten der Bundesrepublik
Deutschland hiermit dringend ans Herz gelegt.
Editorische Hinweise
Den Text erhielten wir vom
Autor für diese Ausgabe.