Marokko: Bärtige voraus in Sicht?

von
Bernard Schmid

12/11

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Die Parlamentswahlen in Marokko erhoben die moderat-islamistische Partei PJD in den Rang der stärksten politischen Partei. Die königstreue politische Kraft unterscheidet sich in ihrem Profil erheblich von oppositionellen Islamisten, wie im marokkanischen Falle etwa der pietistischen Bewegung ,Al ’Adl wal-Ihsane’ (ungefähr: „Gerechtigkeit und gute Taten’. Oder auch von autoritär-oppositionellen Hardlinern wie den Salafisten - während letztere soeben bei den ägyptischen Parlamentswahlen rund 20 % der Stimmen erhielten, bleiben sie in Marokko marginal. Der PJD bereitet sich unterdessen darauf vor, das Königreich im Rahmen der bestehenden monarchischen Institutionen zu regieren. Möglicherweise in einer Koalition mit der Sozialdemokratie…

Keine Angst vor den Bärtigen! Der Aubenminister Frankreichs, das neben den USA die wichtigste Schutzmacht des marokkanischen monarchischen Regimes darstellt, gibt sich zuversichtlich. „Die Wahlen in Marokko liefen unter guten Bedingungen ab, wie jene in Tunesien. Sie brachten ein Ergebnis hervor, das man respektieren muss, erklärte Alain Juppé am Montag, den 28. November 11. 

Die relative Mehrheit an Stimmen und Sitzen für den Parti de la justice et du développement (PJD, „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) unter Abdelilah Benkirane, die stärkste islamistische Partei des Königreichs, kommentierte Juppé wie folgt: „Das ist eine Partei, die gemäbigte Positionen hat. Man kann nicht von dem Prinzip ausgehen, dass jede Partei, die sich auf den Islam bezieht, stigmatisiert werden muss. Es wäre ein historischer Fehler. Man muss im Gegenteil mit denen reden, die nicht unsere roten Linien überschreiten, das heibt: den Respekt von Wahlen, Rechtsstaat, Menschen- und Frauenrechte.“ Die Wahlergebnisse, die an diesem Montag bekannt wurden, verzeichneten 26 Prozent der Stimmen und 107 Mandate im neuen Parlament - von insgesamt 395 - für den PJD. 

Am vergangenen Freitag, den 25. November 11 wählte Marokko. Die Parlamentswahl in dem 32 Millionen Einwohner-innen zählenden Land an der Nordwestspitze Afrikas war um rund ein Jahr vorgezogen worden, turnusmäbig hätte sie erst im Frühherbst 2012 auf der Tagesordnung stehen müssen. Doch seit Februar 2011 wurde auch Marokko durch die soziale und politische Protestwelle, die bisweilen auch unter dem Begriff „Arabischer Frühling“ zusammengefasst wird, erfasst. Unter dem Druck der in den letzten Monaten fast permanenten Proteste im Lande sah der seit 1999 amtierende König, Mohammed VI., sich zu zwei wichtigen Entscheidungen veranlasst: Am 1. Juli  11 lieb er über eine neue, reformierte und stärkere demokratische Spielräume öffnende Verfassung abstimmen; vgl. dazu http://www.trend.infopartisan.net/trd7811/t157811.html  Und kurz darauf entschied er, den Termin für die nächsten Neuwahlen vorzuziehen. 

Seit den damaligen ersten Demonstrationen existiert in dem Maghrebstaat eine sehr aktive auberparlamentarische Opposition in Gestalt der „Bewegung des 20. Februar“. Sie bildet zwar gesamtgesellschaftlich klar eine Minderheit - die vor allem in Teilen der Jugend gut verankert ist -, machte aber Spielräume für bislang unter der marokkanischen Monarchie völlig ungekannte und ungeahnte gesellschaftliche Debatten auf. Dieses auberparlamentarische Oppositionskartell umfasst radikale Linke, Jugendbewegungen sowie eine nicht institutionelle, messianisch und gewaltlos auftretende islamistische Bewegung in Gestalt von Al-Adl wal Ihsane (ungefähr: „Gerechtigkeit und gute Tat“). Letztere ist eine pietistische Strömung, die im Gegensatz zu den stärksten Kräften des marokkanischen Islamismus die bestehende Monarchie explizit ablehnt und einen „zivilen, demokratischen Staat“ anstrebt.  

Auch die Wahlgewinnerin, die Partei des 57jährigen früheren Lehrers Abdelilah Benkirane, stellte eine Spielart des politischen Islam dar. Doch ihr Profil ist ein ausgesprochen unterschiedliches. Seit langen Jahren hat sie sich für den institutionellen Weg entschieden, um ihre Ziele zu erreichen. Wie bei quasi allen als islamistisch zu bezeichnenden Parteien, besteht deren Programmatik und Diskurs aus einem Mix von Themen sowie „Werten“, die rund um die Vorstellung einer Remoralisierung der Gesellschaft angeordnet sind. Dazu zählen eine im Allgemeinen repressive Sexualmoral, das Versprechen sozialer Gerechtigkeit vor allem dank der und durch die „Bekämpfung von Korruption“ sowie das Eintreten für eine stärkere Selbstbehauptung gegenüber Dominanzansprüchen der Länder des Nordens. - Als zentrales Anliegen wird die Wiederherstellung einer von breiten Teilen der Gesellschaft mitgetragenen Moral betrachtet, welche durch die Kolonisierung - deren langfristiger Schockwirkung es zu widerstehen gelte, woraus ein „widerständiger“ Anspruch abgeleitet wird - sowie durch Modernisierungserscheinungen verschüttet worden sei. Aus der Vorstellung einer Rückkehr zu einer verbindlicheren Moral wird auch hergeleitet, dass dann die Korruption als Hauptquelle sozialer Übel verschwände oder bekämpft würde, und dass mehr soziale Gerechtigkeit herrschen werde. Schlieblich wird auch der Anspruch erhoben, dass man bedrängten Muslimen überall auf der Welt - sei es im Bosnienkonflikt vor wenigen Jahren, gegenüber Palästinensern unter israelischer Besatzung oder Migranten in Europa - in einer Art Solidargemeinschaft beistehe. 

Aber der „sittenkonservative“, „moralisch konservative und sozial gerechte“ Aspekt wird beim PJD, anders als bei manch anderen islamistischen Kräften, nicht mit einem Selbstverständnis als „Rebellen“ verknüpft. Vielmehr betont der PJD seit Jahren seine Treue zur monarchischen Staatsform. In ihrer marokkanischen Variante trägt der König unter anderem auch den Titel emir al-mu’imin (Befehlshaber der Gläubiger) und ist das Oberhaupt des Islam als Staatsreligion Marokkos. Der PJD akzeptiert diese geistliche Führungsrolle des Monarchen und hat sich strategisch dafür entschieden, ihn auf diesem Terrain nicht herauszufordern. Dies verbietet ihm sowohl, die Einrichtung einer parlamentarischen Staatsform als auch beispielsweise die eines Kalifats zu befürworten. Die Partei beschränkt sich darauf, im Rahmen der bestehenden Institutionen des makhzen genannten monarchischen Staatspartei für ihre Ziele zu arbeiten. Auf wirtschaftlicher Ebene fehlt es ihr daher, wie oftmals verwandten Parteien, an einem konkreten Programm. Vielmehr stellt sie die bestehende wirtschaftsliberale Ordnung und die Vormachtstellung der Bourgeoisie nicht in Frage, stellt ihr aber einen stark auf einem moralischen Idealismus basierenden Sozialdiskurs zur Seite.   

Unterstützung made in USA  

Neben Saudi-Arabien, und mutmablich anderen konservativ-reaktionären Golfmonarchien, finanzierten auch die USA im vergangenen Jahrzehnt die Partei. Die Middle East Partnership Initiative (MEPI), die den Status eines Instituts hat, wurde im Jahr 2002 unter der Verantwortung des damaligen US-Aubenminister Colin Powell gegründet. Gröbere Bedeutung erlangte sie vor allem, seitdem die Administration Bush im Jahr 2004 ihre Greater Middle East Initiative vorstellte, als vorgeblichen Plan für die „Demokratisierung“ des Nahen und Mittleren Ostens bei gleichzeitiger Öffnung der Märkte. In der Region unterhielt sie zwei Stützpunkte, in Tunis und in Dubai.

In einem Bericht von 2006 erkannte die Organisation an, dass die USA den marokkanischen PJD finanzierten, und bezeichnete die Partei als wichtigen Verbündeten gegen die unkontrollierten, djihadistischen Strömungen innerhalb des Islamismus. Im Namen der Notwendigkeit, „Dämme zu errichten“ - etwa gegen die Anhänger Ossama Bin Ladens -, näherte sich die damalige US-Administration zugleich auch den Muslimbrüdern in Ägypten und Syrien an. Besonders eng aber waren die Konto zur marokkanischen „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“. MEPI sagte der Partei von Abdelilah Benkirane ein Stimmenpotenzial von 47 Prozent voraus.  

Pleite der Regierungs„linken“ 

So viel wurden es nun nicht, aber die erreichten 26 Prozent genügten, um den PDJ zur stärksten Partei zu machen. Hauptverlierer der Wahl ist die bisherige Regierungskoalition, genannt Qoutla (oder Koutla), die hauptsächlich aus der marokkanischen Sozialdemokratie in Gestalt der „Sozialistischen Union der Volkskräfte“ USFP, der ex-kommunistischen und liberal gewendeten „Partei für Fortschritt und Sozialismus“ (PPS) und der bürgerlich-nationalistischen Partei Istiqlal („Unabhängigkeit“) - der ältesten marokkanischen Partei, die dereinst auf antikolonialer Grundlage entstand - besteht. Diese Parteien regierten Marokko seit 1998, als der Vater des jetzigen Königs, Hassan II., nach Jahren blanken Staatsterrors gegen die Opposition eine politische Öffnung einleitete. Damals ging es dem alternden König, kurz vor Ende seiner 38jährigen Regentschaft, darum, die Monarchie über seinen absehbaren Tod hinaus zu bewahren. Zu diesem Zwecke suchte er besonders die bis dahin oppositionelle Sozialdemokratie (USFP) zu integrieren. Dies ist ihm auch gelungen. 

Nun hat ihre Regierungsbilanz, die für viele Wähler-innen besonders auf sozialer Ebene sehr enttäuschend ausfällt, die bisherigen Koalitionsparteien schwer gebeutelt. Zwar erhielten die USFP mit nunmehr 39 Sitzen und der PPS mit künftig 18 Sitzen jeweils ein Mandat mehr als im alten Parlament; doch dieses zählte vorher 325 Sitze, während es jetzt auf 395 aufgestockt wurden. Unter dem Strich mussten sie also deutliche Verluste hinnehmen. Im Vergleich dazu konnte Istiqlal, mit 60 Sitzen gegenüber zuvor 52 im kleineren Parlament, den Schaden begrenzen. Die im weitesten Sinne linken Parteien - eine Eigenschaft, die sich in der politischen Praxis in einem reichlich vagen Selbstverständnis erschöpft - verloren weitaus stärker, weil sie stärker als die bürgerlichen Parteien durch die soziale Protestbewegung unter Druck gesetzt wurden. Letztere rief, mit der „Bewegung des 20. Februar“, seit Wahlboykott auf. Dazu fanden in den letzten fünf Wochen auch immer wieder gröbere Demonstrationen statt, um diese Forderung zu unterstreichen. Zur selben Zeit fanden in den letzten Wochen immer wieder Verhaftungen, Misshandlungen und Behinderungen gegen Aktivistinnen für den Wahlboykott statt. Diese Repressalien, die zum Teil von der Polizei und zum Teil von Schlägerbanden in Zivil - in Anlehnung an die ägyptischen Milizionäre des Mubarak-Regimes werden sie als Baltagiya bezeichnet - ausgingen, werden auch in einem zu Anfang der Woche publizierten Bericht von Wahlbeobachtern der parlamentarischen Versammlung des Europarats benannt und kritisiert. 

Die Wahlbeteiligung fiel mit offiziell 45,4 Prozent zwar höher aus als bei den letzten Wahlen im September 2007 mit damals 37 Prozent, was vielleicht auch - trotz gleichzeitiger Boykottbewegung - eine leicht gewachsene Politisierung der marokkanischen Gesellschaft im Kontext des „Arabischen Frühlings“ andeutet. Doch selbst diese offiziellen Angaben widerspiegeln, dass eine Mehrheit der marokkanischen Gesellschaft sich gleichzeitig von Wahlen wenig bis nichts verspricht. Vor allem aber täuschen diese staatlichen Zahlen. Denn die 45 Prozent beziehen sich nur auf die formell in Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten, das sind 13 Millionen von insgesamt 21 Millionen volljährigen Marokkanerinnen und Marokkanern.  

Berücksichtigt man die hohe Zahl derer, die diese Eintragung bislang verweigerten, sowie die über 20 Prozent ungültig abgegebenen Stimmzettel, so ergibt sich ein Bild, in dem nur rund ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung ein gültiges Votum abgab. Dies relativiert im Übrigen auch den Siegeszug des PDJ, wenngleich dieser tatsächlich einen erheblichen Zuwachs verzeichnen kann. In Sitzen - mit 105 gegenüber 48 bei der letzten Wahl - wie in Stimmen. Die Hochburgen des PJD liegen dabei in aller Regel nicht in ländlichen Gebieten, sondern in urbanen Zentren, wo die Partei einerseits von Teilen der traditionellen Mittelklassen und andererseits von der aus der Landflucht hervorgegangenen Armutsbevölkerung am Rand der Städte unterstützt wurde. In städtischen Ballungsräumen wie Casablanca (19 Mandate), Rabat, Tanger oder Marrakesch holte der PJD allein fast alle Sitze. Übrigens auch in Städten, in denen er in den letzten Jahren in den Rathäusern regierte, wie in der Grobstadt Meknès oder dem kleineren Kénitra. In der letztgenannten Kommune konnte die Partei ihren Stimmenanteil gegenüber der Parlamentswahl 2007 von damals 17.000 auf jetzt 36.000 Voten steigern.  

Gesellschaftliche Opposition bleibt aktiv & wichtiger Faktor  

Auch am vorigen Sonntag (27. November 11) fanden, zwei Tage nach dem Urnengang, in vielen gröberen Städten wie Casablanca, Mohammedia oder Tanger Demonstrationen der Wahlboykottbewegung mit Zehntausenden von Menschen statt. Sie prangerten eine „Maskerade des Makhzen“, des als ebenso autoritär wie korrupt geltenden marokkanischen Machtapparats, an und versprachen auch der künftigen Regierung eine aktive Opposition. Zum Teil mischte sich ihre Mobilisierung auch mit Frauenprotest, nachdem am Samstag erstmals die Initiative Les femmes arrivent („Die Frauen kommen“) gegen die zu erwartende reaktionäre Familien- und Sexualpolitik des PJD in Rabat demonstriert hatte.  

Am Nachmittag des Dienstag, 29. November 11 wurde PJD-Chef Abdelilah Benkirane durch König Mohammed VI. zum Premierminister ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Dies ist nur logisch konsequent, da es sich folgerichtig aus der neuen Verfassung (wie sie am 1. Juli 11 durch Volksabstimmung angenommen wurde) ergibt: Diese sieht vor, dass der Monarch einen Premierminister aus den Reihen der stärksten, im Parlament vertretenen Partei auswählen soll. 

Der PJD seinerseits hat Koalitionsverhandlungen mit den Parteien der bisherigen Regierungskoalition Qoutla sowie der Berberpartei Mouvement populaire (MP, ungefähr „Volksbewegung“) angekündigt. Unter ihnen zeigten sich Istiqlal und USFP in den ersten Tagen zu Gesprächen bereit, der PPS schien bisher stärker gespalten zu sein. PPS-Generalsekretär Nabil Benabdallah spricht von Divergenzen zwischen jenen in der Partei, „die auf der Unvereinbarkeit zwischen der Linken und den Islamisten bestehen, und denen, die denken, dass es gemeinsame Anliegen wie die Bekämpfung der Korruption gibt“. Aber auch in Richtung des konservativ-wirtschaftsliberalen Blocks in Gestalt des bisherigen rechten Oppositionsbündnisses „G8“ kündigte der PJD zwischenzeitlich Gesprächsbereitschaft an. Die wichtigsten Parteien dieses dem Thron nahe stehenden Parteienbündnisses sind die „Nationale Sammlung der Unabhängigen“ (RNI) und die „Partei Authenzität und Modernität“ (PAM) unter Fouad al-Himma. Die Aufsteigerformation PAM ist die jüngste politische Partei von Bedeutung in Marokko und entstand im Jahr 2008 durch den Zusammenschluss von fünf wirtschaftsliberalen und pro-monarchischen Parteien. Ihr Anführer gilt als ein Liebling des Könighauses, Sunny Boy und Blitzkarrierist. Die moderaten Islamisten vom PJD kündigten an, mit allen Parteien des „G8“-Bündnisses gesprächs- und  eventuell bündnisfähig zu sein, „mit Ausnahme des PAM“.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.