Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

12/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Es braucht eine Organisation – jetzt!
von Tino (9.12.2011)

Die Debatte scheint etwas in ein fragwürdiges Fahrwasser zu geraten; zuviel Pingpong zwischen wenigen Beteiligten, zu abstrakte, akademische, zu sehr ins Detail gehende Einzelfragendiskussionen, zu oft ein Stil mit sektiererischem Hintergrundrauschen, wenn auch in oberflächlich-taktische Nettigkeit verpackt, zuwenig ganzheitliche, praktische Dynamik. Um was geht es eigentlich?

1. Die allgemeine politische Grosswetterlage hat sich mit der laufenden „Finanzkrise“ eindeutig qualitativ verändert. Es gibt heute eine konfuse, aber zunehmend kapitalismuskritische bis antikapitalistische Stimmung, die in D einige Millionen Menschen erfasst. Das ist doch für eine antikapitalistische Linke eine wesentlich andere Ausgangslage als vor 2008 oder gar den 90er Jahren. Diese mögliche Öffnung der Köpfe darf nicht verpasst werden. Die Initiative des SIB kommt zur exakt richtigen Zeit.

2. Eine radikale antikapitalistische Organisation hat heute im Wesentlichen zwei Funktionen: a) ein attraktives Sammelbecken zu schaffen, das von der Grösse her die kritische Masse überschreitet und dadurch zu einem Anziehungspol für alle unsektiererischen, basisdemokratischen und radikal antikapitalistischen AktivistenInnen wird und b) eine glaubwürdige politische Referenz zu werden für die oben erwähnte Bevölkerungsparzelle, die den Kapitalismus als System zu hinterfragen beginnt. Eine alternative Referenz, die verhindert, dass normal gesund denkende lohnabhängige Menschen in Anbetracht des laufenden Theaters auf der hegemonialen politischen Bühne nicht verzweifeln und resignieren. Das ist trotz aller Probleme und Fieberschübe an der französischen NPA das Tolle; sie bietet allen einen interessanten Rahmen um aktiv zu sein und sie ist eine politische Referenz, fast so etwas wie eine politische Heimat für vielleicht 3-5 Millionen Menschen in Frankreich, auf jeden Fall hören diese Menschen auf die NPA, was sie politisch zu sagen hat. Die Partei die Linke in D kann das niemals, nicht in erster Linie weil sie reformistisch ist, sondern vor allem weil sie ein Glaubwürdigkeitsproblem hat als verkrustete, bürokratische und tief un(basis)demokratische, langweilige Wahlkampforganisation.

3. Was soll an einem Gründungskongress, der meiner Meinung nach auf Herbst 2012 angestrebt werden sollte, als minimalen gemeinsamen Nenner definiert werden. Ich würde die fünf Punkte des SIB-Textes etwas umformulieren und anders gewichten.
Die Punkte 1-3, nämlich; Konzept des revolutionären Bruches, Keine Mitverwaltung der kapitalistischen Krise und Klassenorientierung würde ich zusammenfassen in einem Punkt:

A)Radikaler Antikapitalismus, mit der Avanti Definition von Bruch (Alle geschichtliche Erfahrung lehrt, dass das Kapital seine Macht nicht kampflos preisgibt, nur weil etwa die Bevölkerungsmehrheit es so will. Deswegen gehen wir von der Notwendigkeit einer Revolution aus) und einem ungefähren Zusatz wie etwa: Wahlprozesse führen nie zur Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft und sollen in dieser Hinsicht in der Politik der Organisation eine untergeordnete Rolle spielen.

B) Als zweiten Punkt im Minimalkonsens gehört die Demokratiefrage, nach aussen im Sinne unseres Demokratieverständnisses in der nachkapitalistischen Gesellschaft und nach innen im demokratischen Funktionieren der Organisation und dem Demokratieverständnis, das die Organisation in den Strukturen verteidigt, in denen sie arbeitet. Wieso ist diese wichtige Frage nicht im Minimalkonsens? Da muss man die Genossen, die in so verdankenswerter Weise die Initiative ergriffen haben zu dieser Gründungsdebatte, an den Ohren zupfen. Was hat den die sozialistische Weltbewegung in den letzten hundert Jahren mehr und nachhaltiger zerstört als die Inkohärenz und Widersprüchlichkeit in der Demokratiefrage? (nebst der auch sehr wichtigen Reformismusproblematik und dem linken Sektiererunwesen)
Nach aussen sollten wir Rosa Luxemburgs Verständnis von sozialistischer Demokratie vertreten, wie es in ihrem 33 seitigem Fragment „Zur Russischen Revolution“ abgehandelt wird, in dem sie eine leider unvollendete Bilanz über die ersten zehn Monate der Oktoberrevolution macht. Und intern reicht das Tendenz- und Fraktionsrecht bei weitem nicht aus, um ein reales demokratisches Funktionieren zu garantieren, wie die Geschichte der trotzkistischen Strömungen mehrfach bewiesen hat.

Zur Frage wie man in einer grösseren antikapitalistischen oder sozialistischen Organisation den schwierigen Prozess der Entwicklung von zum Teil sehr kontroversen politischen Positionen und den Umgang mit politischen Differenzen handhaben könnte, ohne ständige Spaltungsgefahren, ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Ersten Internationale, die übrigens in mancher Hinsicht für die heutige Zeit eine nicht uninteressante Referenz darstellen könnte:

Die Internationale Arbeiterassoziation setzte in ihren Statuten jährlich abzuhaltende Kongresse fest. In zwei Ausnahmefällen, nämlich 1865 wegen anfänglicher Verunsicherungen und 1871 infolge des im Juli des vorangegangenen Jahres ausgebrochenen Deutsch-Französischen Krieges, wurden diese durch geschlossene Konferenzen ersetzt. Der für September 1870 bereits einberufene Kongress, wurde nach Kriegsausbruch ersatzlos abgeblasen. Die fünf bis 1869 aufeinanderfolgenden Zusammenkünfte offenbarten hingegen nicht nur den stetig wachsenden Einfluss und die Ausbreitung der Internationale in neuen Ländern, sondern auch ein politisches Wachstum.
Die Internationale startete zu Beginn mit nicht viel mehr als gutem Willen und einigen praktischen Vorsätzen, ( wie wir heute!) befand sich jedoch weit entfernt von einem klaren politischen Programm oder gar einem sozialistischen Gesellschaftsprojekt. Die ideologischen und programmatischen Unterschiede und Gegensätze in ihren Reihen waren enorm. Insbesondere in Frankreich, dem Land der revolutionären Tradition und Leidenschaften, sah die Lage diesbezüglich nicht ermutigend aus. Die stärkste Strömung bildeten die Proudhonisten. Pierre-Joseph Proudhon (1809‑1865), der theoretische Begründer dieser Strömung in der französischen Arbeiterschaft, war ein typischer Vertreter des Frühsozialismus, welcher sich durch Gegnerschaft zur grossindustriellen Entwicklung, zu Gross- und Finanzkapital und durch heftige moralische Empörung über die Zustände in den Fabriken und Bergwerken kennzeichnet. Bereits mit seiner ersten Schrift “Was ist Eigentum?“ und der nicht von ihm stammenden, aber leidenschaftlich ausgeführten Antwort, “Eigentum ist Diebstahl“, wurde Proudhon in Frankreich über Nacht zu einer bekannten Persönlichkeit.
Weil der Proudhonismus einen ausgeprägten Föderalismus und Antizentralismus vertrat und somit auch den von seinem Wesen her stets zentralistischen Nationalstaat, sowie überhaupt jedes Staatsgebilde mit seinem gesetzlichen und juristischen Apparat verwarf, wird diese Strömung von vielen zum Anarchismus geschlagen oder als dessen wichtigster geistiger Vorläufer betrachtet. Tatsächlich unterschied er sich aber ganz wesentlich vom späteren kollektivistischen Anarchismus Bakunins oder des revolutionären Anarchosyndikalismus.
Die Proudhonisten, die in den ersten Jahren der IAA eine Minderheit von etwa 25‑35% stellten und in Frankreich, Belgien und der französischen Schweiz verankert waren, lehnten Streikkämpfe und Gewerkschaften grundsätzlich ab, widersetzten sich jeglicher gesetzlicher Regelung von Arbeitsbedingungen, also auch der gesetzlichen Beschränkung oder Verkürzung der Arbeitszeit, verdammten die Frauenarbeit als in physischer, moralischer und sozialer Beziehung verwerflich, befürworteten das kleine, vor allem bäuerliche Privateigentum und waren infolgedessen Gegner des Gemeineigentums an Grund und Boden, erklärten sich gegen nationalstaatliche Einigungsbestrebungen in Italien und Deutschland und gegen die Wiederherstellung Polens, verschmähten aus prinzipiellen Überlegungen alle aus dem Klassenkampf entspringenden politischen Aktionen im Rahmen der bestehenden Staatsordnung und waren schliesslich tendenziell Pazifisten d.h. Gegner von Aufständen und Revolutionen.
Die auf den ersten Blick vielleicht erstaunlichen politischen Positionen der Proudhonisten basieren im wesentlichen alle, ausser der klar konservativ-patriarchalischen Ablehnung der Frauenarbeit, auf zwei Denklinien: Dem Antiautoritarismus, wonach u.a. Konfrontationen, Streikkämpfe und Revolutionen nur die Gefahr von neuen autoritären Strukturen und Diktaturen hervorbringen würden, sowie dem Antietatismus, wonach jeder Staat immer zentralistisch d.h. unterdrückerisch dem Individuum gegenübertritt und als Ganzes, mit all seinen Gesetzen beharrlich abgelehnt werden muss. Auch gute Gesetze wie z. Bsp. Arbeitszeitbeschränkungen würden den Staat letztlich nur stärken und verewigen. Im Falle der Verwerfung von Streikkämpfen und Gewerkschaften spielte zudem die Theorie eine Rolle, nach der Lohnerhöhungen stets allgemeine Preissteigerungen zur Folge hätten. Eine Behauptung, die in dieser Form nicht richtig ist, weil der Stand der Produktivkräfte, die Konkurrenz um Marktanteile zwischen den verschiedenen Kapitalisten sowie das politische Kräfteverhältnis bei der Preisbildung als Faktoren mitwirken.
Die Proudhonisten repräsentierten eine der zwei grundlegenden Denkrichtungen, die es in der Geschichte der Emanzipationsbewegungen zu allen Zeiten und bis zum heutigen Tage immer gegeben hat, nämlich jene, die ihren Schwerpunkt im Aufbau eines alternativen Systems inmitten und neben der herrschenden Gesellschaft sieht, während die andere grosse Strömung den politischen Kampf gegen das herrschende System und dessen revolutionären Sturz zum Schwerpunkt macht. Folgerichtig standen im Mittelpunkt des Interesses der Ersteren nicht die Konfrontationen der Streikkämpfe, sondern das Genossenschaftswesen mit Volks- und internationalen Kreditbanken auf der Basis der Unentgeltlichkeit der Kredite. Dieses mutualistisch genannte System sollte als treibende Kraft im Überwindungsprozess der kapitalistischen Produktionsweise betrachtet werden.
Die Art und Weise der politischen und programmatischen Auseinandersetzung mit der proudhonistischen Minderheit und Opposition, wie sie damals innerhalb der Internationale stattfand, sollte einer zukünftigen sozialistischen Bewegung als vorbildliches Beispiel dienen für den Umgang mit selbst sehr bedeutenden politischen Differenzen. Obwohl der Linienstreit oft äusserst hart und heftig geführt worden war und die Proudhonisten an den Kongressen meistens überstimmt wurden, tauchte die Gefahr einer Spaltung nie ernsthaft auf. Grundlage dieses in der Geschichte der Linken so seltenen Erfolgs eines gelebten Meinungspluralismus war – dass trotz manchen Mehrheitsbeschlüssen und deren Umsetzung, der Diskussionsprozess über strategische Meinungsunterschiede über längere Zeitdauer weitergeführt worden ist. Die Vergesellschaftung des Grund und Bodens beispielsweise, in der die Proudhonisten nichts als “rohen Kommunismus und Tyrannei“ sahen, war heiss debattiertes Thema an drei aufeinanderfolgenden Kongressen.
Dieses Vorgehen erlaubte, aufgrund der laufenden Erfahrungen und verbunden mit den Diskussionen, allmähliche Differenzierungen und vermied vor allem auch die gefährliche Dynamik der Verbitterung in den Reihen der unterlegenen Minderheitsposition. Nach fünf Jahren, um die Zeit des Basler Kongresses, waren viele der ehemals grossen Streitpunkte überholt, der Streik als wichtiges Kampfmittel, die Frauenarbeit und das Gemeineigentum an Grund und Boden, sowie überhaupt die Vergesellschaftung der grossen Produktionsmittel kaum mehr umstritten und breit anerkannt. Andere Konfliktthemen lebten in veränderter Form weiter, der Proudhonismus verschwand weitgehend und der kollektivistische Anarchismus Bakunins trat nahtlos an seiner Stelle in die innere Oppositionsrolle. Eigentlich ein ganz normales Phänomen, denn es gab in der Geschichte der grossen und lebendigen Emanzipationsbewegungen überhaupt noch nie einen Zustand ohne mehr oder weniger heftig geführte Linienkämpfe. Gerade deshalb bleibt die Art der inhaltlichen Auseinandersetzung, die alles entscheidende Schicksalsfrage. Dabei muss allerdings auf eine sehr gängige und falsche Vorstellung hingewiesen werden: ein guter respektiv schlechter Umgang mit politischen Differenzen innerhalb einer Bewegung hängt nicht so sehr vom Grad der Toleranz, respektiv der “Härte“ der Positionen und Diskussionsführung seitens der verschiedenen Strömungen ab, sondern erstens vielmehr davon, wieweit alle wichtigen Positionen Raum und Zeit erhalten, um sich in den Strukturen und an der Basis der Organisation zu erklären und zweitens davon, wie eng und verständlich die polemischen Auseinandersetzungen mit den praktischen Erfahrungen verbunden werden können. In beiderlei Hinsicht wurde der Konflikt um und mit dem Proudhonismus auf mustergültige Weise ausgetragen, aber – zum grossen Verhängnis für die Erste Internationale, sowie selbst für die nachfolgende Epoche – wurde diese erfolgreiche Methode nicht beibehalten in der bald danach beginnenden Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Anarchismus.

C) Als dritten (im SIB-Text vierten) Punkt im Minimalkonsens bliebe die sogenannte Einheitsfront-Methode. Der historische Kontext ist für heute nicht so wichtig; es geht wie der Begriff besagt um eine unsektiererische Methode, wie man die noch reformistisch denkenden Teile der Lohnabhängigenklasse ansprechen und politisch beeinflussen kann. Die Methode beruht auf einer theoretischen Einschätzung wie sich politisches Klassenbewusstsein bei normalen Menschen entwickelt und wie nicht.

D) Vierter Minimalkonsens. Ja wir wollen eine minimal verbindliche Organisation und kein unverbindliches Netzwerk. Die Zeit der Netzwerke, die übrigens in der Praxis meistens ziemlich undemokratisch funktionierten, ist abgelaufen. 20 Jahre Netzwerke und Soziaforen reicht, es hat uns kaum weitergebracht. Die Organisation sollte eine lebendige Zeitung haben mit einem zweiwöchentlichen oder so bald wie möglich wöchentlichen Rhythmus. Verhandlungen über teilweise oder vollständige Zusammenlegungen mit Zeitungen wie z.B. „Analyse & Kritik,“ „Sozialistische Zeitung“ und anderen sollten geprüft und versucht werden. Eine nationale und regionale Koordinationen mit nur minimalen Befugnissen muss diskutiert werden, nationale, breite Kongresse, die durchaus alle 6-8 Monate stattfinden könnten, wären das eigentliche Entscheidungszentrum, etwas im Sinne der Jahreskongresse der Ersten Internationale. Demokratischer Zentralismus im klassisch leninistischen Sinne liegt meiner Ansicht nach nicht drin, ist auch nicht erstrebenswert, da er in der Praxis aus 80% Zentralismus und nur 20% Demokratie bestand (und das seit 1903 und nicht erst seit 1921, wo die Demokratie dann ganz abgeschafft wurde!)

4. Die Minimalplattform der zu gründenden Organisation und wo und wie man bis zur Gründung welche Kampagnen macht, müssten nach meinem Dafürhalten jetzt mehr und mehr fokusiert werden. Einen Gründungskongress mit 1000 überzeugten MitgliederInnen halte ich für die allerunterste Grenze, eigentlich sollten eher 2000 angestrebt werden.

Editorischer Hinweis

Quelle: http://arschhoch.blogsport.de/2011/12/09/es-braucht-eine-organisation-jetzt/