Individualität und Privatheit bei Marx
Eine Theorie der Befreiung, die das Individuum zu ihrem Kern hat

von
Thomas Metscher

12-2012

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Die Menschen als «bestimmende Subjekte« heißt nicht nur: bestimmend über die Ergebnisse ihrer Arbeit und den Vorgang, der zu diesen Ergebnissen führt. Es meint politische, soziale, kulturelle und individuelle Selbstbestimmtheit: Selbstbestimmung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Seins. Der Gedanke ist Erbe der radikalen Aufklärung: So ist in Kants Idee der Person der Mensch als Zweck in sich selbst gedacht. Der aufklärerische Gedanke der Autonomie meint Menschen, in den Stand gesetzt, ihre vielseitigen Anlagen in selbstbestimmter Tätigkeit zu entfalten - meint Entwicklung menschlicher Kräfte als Selbstzweck. Auch das Leitbild der neuen Kultur kann kein anderes sein als die vielseitig entwickelte Person. Selbstzweckhafte Entwicklung menschlicher Kräfte soll als Kulturideal gelten - die diesseitige Verwirklichung des Menschen, seine Verwirklichung in voller Sinnlichkeit.

«Neue Kultur» meint neue" Qualitäten der Lebensweise: Kooperation, Solidarität, Freundlichkeit, Bewußtheit sind nähere Bestimmungen ihrer Idee. Sie kann nur sein als eine Gesellschaft praktisch gewordener Menschenwürde -oder sie ist nicht. Menschenwürde betrifft: Geburt, Leben und Tod. Eine menschenwürdige Gesellschaft ist eine solche, in der die Menschen nicht nur würdig zu leben, in der sie auch würdig zu sterben wissen.

INDIVIDUUM ALS KERNKATEGORIE

Bislang ist nicht genügend bekannt, daß das Individuum im Denken von Marx eine Kernkategorie bildet. Sie steht im Zentrum seiner Überlegungen, die Gesellschaft der Zukunft betreffend. Sie konstituiert den Kern jener impliziten politischen Ethik, aus der dieses Denken seine praktischen Impulse bezieht. Die Auffassung lautet, auf den Punkt gebracht: Das voll entfaltete Individuum (voll entfaltet immer bezogen auf je individuelle Anlagen eines bestimmten Menschen) ist Kern, Dreh- und Angelpunkt der neuen Gesellschaft jenseits der kapitalistischen. Dies überrascht, da «Marxismus» im allgemeinen Bewußtsein mit der Vorstellung von Klasse und kollektivem Subjekt verbunden wird und nicht mit dem individuellen. Marx Äußerungen dazu sind jedoch eindeutig. So spricht er im Kapital von der «vollen und freien Entwicklung jedes Individuums» als dem Grundprinzip der neuen «höheren» Gesellschaftsform (MEW Bd. 23, S. 618). Mit dieser Bestimmung präzisiert er den in den Grundrissen entwickelten Begriff der «universal entwickelten Individuen», die Produkt nicht der Natur, «sondern der Geschichte» seien. Die klassenlose Gesellschaft sieht er charakterisiert durch «freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität» (Grundrisse, MEW Bd. 42, S. 91). Die Idee des Individuums bildet ein Kontinuitätsmoment des Marxschen Denkens nicht nur im anthropologisch-geschichtsphilosophischen, auch im politischen Sinn. So wird die «Welt», die die Proletarier zu gewinnen haben, im Kommunistischen Manifest als eine solche beschrieben, in der «die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist». Es liegt auf der Hand, daß Individuum bei Marx nicht den solitären Einzelnen meint, noch auf dem Gedanken einer abstrakten Ich-Sub-stanz aufbaut. Ist das «menschliche Wesen (...) kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum» (MEW Bd. 3, S. 6), so ist mit dem «einzelnen Individuum» auch nicht der isoliert Einzelne gemeint, sondern der gesellschaftlich Einzelne, von dem es auch heißt, daß er sich nur in Gesellschaft isolieren kann. Das Individuum ist gesellschaftlich und es ist geschichtlich. Seine Entwicklung und Bildung ist geschichtlich (als Realität und als Möglichkeit), ebenso wie seine Isolation, Deformation und Entfremdung geschichtlich sind.

Zu unterscheiden in diesem Zusammenhang ist zwischen Individuum und Privatheit als grundlegenden historischen Subjektformen. Meint Individualität die entwickelte Subjektivität im Sinne einer Bildung vorhandener Anlagen (individueller Kräfte) und eines selbstbestimmten Handelns, so Privatheit die isolierte, auf sich zurückgeworfene und deformierte Subjektivität: das Ich im Zustand der Desolation und Entfremdung als der empirisch-dominanten Subjektform, die dem Zustand universaler Privatheit abgerungen ist.

Individualität baut auf Subjektfähigkeit auf (dem Vermögen der Ich-Identität) als Bedingung jeden geglückten und «guten» Lebens. In der Idee des Individuums ist ein Gesichtspunkt christlich-humanistischen Ursprungs aufgehoben: Unverwechselbarkeit und der Wert des je einzelnen Ich. Individualität heißt Einzigartigkeit menschlichen Daseins für jeden einzelnen Menschen selbst, meint die Würde des einzelnen Menschen und schließt den Schutz des je einzelnen Lebens ein.

Das Individuum gesellschaftlich und geschichtlich: Erinnert sei, daß zum historisch ältesten Bestand sozialistischen Denkens der Gedanke les «co-operative Commonwealth» gehört. Die Grundidee ist kooperative Lebensgestaltung im Gegensatz zum Konkurrenzmodell der bürgerlichen Gesellschaft. Wird im kruden Kommunismus noch das unterschiedslose (und gesichtslose) Kollektiv als Subjekt der kooperativen Gesellschaft gesehen, so wird bei Marx und jedem an Marx anschließenden Denken dieses anonyme Subjekt in empirische Individualitäten («einzelne Individuen») aufgelöst, die gleichwohl gesellschaftlich sind: als individuelle Personen nur in der Dialektik zu Anderen bestimmbar.

INDIVIDUELLES EIGENTUM

Das Problem kann hier nur angedeutet werden. Wie komplex Marx den Vorgang der Bildung von Individualität dachte, zeigt eine Stelle im Kapital, an der er über die gegenständlichen Bedingungen der Bildung von Individualität nachdenkt. Zu diesen gehört, im Sinne einer ökonomischen Grundlage, individuelles Eigentum. Den Kapitalismus beschreibt er als die «erste Negation des individuellen, auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums». Der Sozialismus ist die Negation der Negation: Er «stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel» (MEW Bd. 23, S. 791). Kapitalismus sei «Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren», Sozialismus «Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse». Die Selbstbestimmtheit von Individualität im Sozialismus ist also als konstituiert im Sinne eines sozialen Akts zu denken. Kann sie nur Tat des individuellen Lebens sein, so doch nur als Ergebnis, nicht als gesetzter Beginn. Wie alles Lebendige, muß sie ein materielles Fundament haben, und zu diesem gehört, für das Mensch-lich-Lebendige, die Ökonomie. Individuelles Eigentum - auch im Sozialismus und gerade im Sozialismus - bildet die ökonomische Grundlage individueller Selbstbestimmung. Der Gemeinbesitz der Erde und der Produktionsmittel, der den Sozialismus als ökonomische Gesellschaftsform ausmacht, sind gerade die Bedingung individuellen Eigentums für jeden einzelnen, ohne das Individualität nicht gedeihen kann.

Von hier aus gedacht, ist der Sozialismus als kooperative Gesellschaft nur in der Form von Individualitäten denkbar, denen individuelles Eigentum (im Unterschied zu privatem) garantiert ist: als Bedingung auch für.die Kooperation der Individuen, die entwickelte Form ihrer Gesellschaftlichkeit. Der soziale Ort aber innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, in dem sich gesellschaftliche Individualität und gesellschaftliche Kooperation von Individualitäten bilden können, ist die Zivilgesellschaft. Aus der Zivilgesellschaft und nur aus ihr können Kooperation und Individualität erwachsen. Sie allein (wenn überhaupt) ist der Ort auch, an dem der Trans-formationsprozeß der alten Gesellschaft in die neu organisiert werden muß.

Das Marxsche Denken ist also eine Theorie der Befreiung, die das Individuum zu ihrem Kern hat. Der aus allen Zwängen von Herrschaft befreite, sich selbst bestimmende, seine Welt und sich gestaltende Mensch kann uns in keiner anderen Gestalt entgegentreten als in der des Individuums. Erst im Individuum wird Freiheit konkret. Konkrete Freiheit aber heißt: Befreiung eines jeden als Bedingung für die Befreiung aller - Befreiung eines jeden und aller in vollkommener Diesseitigkeit. Wie stark die Impulse einer an der Idee des Individuums orientierten politischen Ethik untergründig das Denken von Marx von den frühen Schriften an (und ohne «episte-mologischen Bruch» zu den späteren) motiviert haben, zeigt jene oft zitierte, doch selten analysierte Stelle aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in dem Marx vom Umwerfen aller Verhältnisse spricht, «in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist» (MEW Bd. l, S. 385). Er nennt diesen Satz selbst den «kategorischen Imperativ», den die Kritik der Religion zu ihrem Ergebnis hat.

Marx Termini beschreiben eine Zustand universaler Unterwerfung und Selbstentfremdung, in dem damals wie heute der weitaus größte Teil der Weltbevölkerung lebt: Erniedrigung, Knechtschaft, Verlassenheit, Isolation, Verächtlichkeit, Verachtetwerden (als wertlos, als ein «Nichts» erachtet werden) - körperlich, physisch, geistig, ökonomisch, sozial, politisch, kulturell. Das Gegenbild ist die Erhöhung der Erniedrigten, ihre Erhebung aus dem Zustand der Unterwerfung, ein Aufrichten von am Boden liegenden Körpern. Freiheit und Autonomie wäree, daß alle über sich selbst bestimmen, die Gesellung mit anderen aus frei gewählten Stücken (wozu auch gehört, sich frei vereinzeln zu können) - einzeln und frei zu leben wie ein Baum geschwisterlich wie ein Wald. Aufheben des Verächtlichseins wäre der Gewinn einer Achtung, die ein jeder für andere wie für sich selbst hat - Bewußtsein des Werts jedes einzelnen Lebens, Bewußtsein der Würde jedes einzelnen Menschen.

Es sind dies die Bestimmungen eines ethischen Konzepts von Individualität, eines politischen Konzepts individueller Ethik. Die Kritik nicht die imaginären Blumen an der Kette pflückt, damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, «sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche« (MEW Bd. l, S. 379). Das Programm ist geblieben. Es steht nach wie vor an erster Stelle in der Ordnung politischen Handelns. Denn die Ketten sind die gleichen geblieben, haben auch die imaginären Blumen Form und Farbe gewechselt.

Editorische Hinweise

Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift "Marxistische Blätter", 10 Jg, Nr.  , 1991, S. 33 - 35, OCR-Scan red. trend

(Der vorliegende Text ist einem Kapitel aus Thomas Metschers «Pariser Meditationen einer Ästhetik der Befreiung» entnommen; das Buch 1992 im Verlag Gesellschaftskritik, Wien.)

Unter http://www.neue-impulse-verlag.de/marxistischeblaetter/archiv.html gibt es ein "Marxistische Blätter" Archiv ab Jahrgang 1999.