Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Mobilisierungen gegen Roma in Marseille und im Raum Lille

12-2012

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Am letzten Wochenende im September d.J. flimmerten Bilder von verkohlten Besitztümern über die Fernsehbildschirme, auf dem unteren Bildschirmrand erschien in kleiner Schrift der Städtename: Marseille. BesucherInnen aus dem Ausland fragten den Verfasser dieser Zeilen bereits bange, ob da ein Flugzeug abgestürzt sei. Nein: Die Aufnahmen von der erkalteten Asche oder den züngelnden Flammen stammten aus einem peripheren Stadtteil der französischen Mittelmeermetropole, wo Anwohner am Abend des 27. September in einer eigenmächtigen Aktion rund fünfzig Roma – die sich frisch angesiedelt hatten – vertrieben hatten. Daraufhin, „nach gelungener Aktion“, steckte sie von ihnen zurückgelassenes Hab & Gut in Brand. Dabei handelte es sich um Matratzen und, allem Anschein nach, um elektrische Haushaltsgeräte.

Der genaue Hergang der Ereignisse blieb zunächst im Unklaren. Zumal kein polizeiliches Ermittlungsverfahren eröffnet wurde, eher im Gegenteil: Die örtlichen Polizeikräfte hatten der Szene beigewohnt, ohne gegen die „wütenden Anwohner“ vorzugehen, sondern hatten im Gegenteil deren Abzug begleitet. Die Präfektur (Polizeipräsidium und Ausländerbehörde) von Marseille erklärte beruhigend: Es gebe keine Strafanzeigen und keinen Kläger. „Bislang haben wir nur verbrannten Müll auf fünf Quadratmetern Fläche.“ Da keine Straftaten festgestellt worden seien, habe man die handelnden Personen abziehen lassen.

Brandstiftung ist aber auf jeden Fall eine Straftat, auch nach französischem Recht (Artikel 322-5 des Strafgesetzbuchs, Code pénal). Tatsächlich ist es offenkundig nicht zu Gewalt gegen Personen gekommen, ebenso wenig wie zum Anzünden noch bewohnter Unterkünfte - wohl aber zu Drohungen, die zur Vertreibung einer Gruppe von Roma mit 40 Erwachsenen und fünfzehn Kindern führten. Diese hatten sich vier Tage zuvor, am 23. September, auf einer Brachfläche am Rande der Cité des Créneaux, eines randständigen Stadtteils von Marseille, niedergelassen, nachdem sie zuvor zwei Dutzend mal andernorts vertrieben worden waren. An dem Ort waren kurz zuvor drei vormalige Wohngebäude (Hochhäuser oder Plattenbauen) abgerissen worden, ein viertes harrte seiner bevorstehenden Zerstörung. Die frei gewordene Fläche diente den Roma zur Niederlassung.

Ein Teil der Einwohner der Siedlung – zum Teil mit Migrationshintergrund, meist nordafrikanischem - war offenkundig mit der eigenen Aussiedlung aus dem Stadtteil nicht einverstanden. Und so drückte sich eine gewisse Form von Sozialneid gegen noch Schwächere aus, nach dem Motto: „Wir durften nicht bleiben, warum sollten Andere sich da einfach so ansiedeln dürfen?“ Die eher als „sozial schwach“ zu charakterisierenden Einwohner fühlten sich chronisch von Staatsmacht und Stadt Marseille vernachlässigt. Nun wurden die neu hinzu gekommenen Roma zu ihrer Zielscheibe. Presseberichten vom Ort des Geschehens zufolge echauffierten sich die Anwohner über Einbrüche , die begangen worden seien – was natürlich möglich ist, nur scheint der Zusammenhang zwischen ihnen und der erst vier Tage zurückliegenden Ansiedlung der Roma ausgesprochen konstruiert, wenn nicht ins Reich der Fantasmen gehörend. Eine Gruppe von dreißig bis fünfzig Anwohnern ging demzufolge mit den Roma diskutieren, um ihnen klar zu machen, dass es nicht zu Straftaten kommen dürfte, wobei Jugendliche aus der Gruppe aber schnell unkontrolliert (verbal) aggressiv geworden seien. Die Roma hätten es „vorgezogen“, so berichtet etwa die Regionalzeitung La Provence, den Ort des Geschehens zu verlassen, und dabei einige Gegenstände zurückgelassen. Diese waren es, die daraufhin angezündet wurden.

Bedenkliche Rolle von Politiker/inne/n

Eine alles in allem kritikwürdige Rolle spielt dabei die sozialdemokratische Senatorin (d.h. Abgeordnete im parlamentarischen Oberhaus) und Bürgermeisterin des 15. und 16. Marseiller Arrondissements – beide Stadtbezirke sind administrativ zusammengeschlossen -, Samia Ghali. Die Mandatsträgerin erklärte zu den jüngsten Handlungen von Anwohnern des Roma-Camps: „Ich verurteile es nicht, ich heiße es nicht gut, aber ich verstehe es.“(1) So etwas komme nun eben einmal davon, dass die Staatsmacht sich nicht um die Sorgen der Leute kümmere.

Hingegen reagierte der konservativ-wirtschaftsliberale Regierende Bürgermeister von Marseille, Jean-Claude Gaudin (UMP), in scharfen Worten: Es komme nicht in Frage, dass Leute daran gehen, „Milizen zu bilden und die Probleme der öffentlichen Ordnung selbst regeln wollen“.

Die aggressive „Anwohner-Aktion“ von Marseille hat allem Anschein nach keinen organisierten, „rechten“ Hintergrund. Aber die extreme Rechte knüpfte sofort an die Sache an. In einer Presseaussendung vom 28. September 2012 erklärte Stéphane Ravier, Kommunalparlamentarier in Marseille und Vorstandsmitglied (Mitglied im „Politischen Büro“) des Front National - sowie voraussichtlicher Kandidat der rechtsextremen Partei auf den Chefsessel im Marseiller Rathaus 2014 - zum Thema: „(…) Die Methode ist radikal, aber sie hat den Verdienst/Vorzug, dass sie der UMPS (ANMERKUNG: eine für die ,Altparteien‘ UMP und Parti Socialiste bei der extremen Rechten übliche Bezeichnung) klar macht, dass es reicht mit dem Saustall! (…) Diese Demonstration des Überdrusses und des Wunsches, Herr im eigenen Haus zu bleiben, muss ihren demokratischen und Rettung bringenden Ausdruck bei der Kommunalwahl finden, indem sie dem FN all die Unterstützung bringt, die er verdient (…)“

Andere Orte der Mobilmachung

Unterdessen demonstrierten zwei Tage nach den Vorfällen von Marseille, am 29. September 12 (einem Samstag), vor dem Rathaus von Lille rund 700 Personen gegen die behördliche Ansiedlung eines Roma-Camps in Cysoing, in der Nähe der nordfranzösischen Regionalhauptstadt. Diese war vormals offiziell geplant worden, doch der Plan wurde inzwischen bereits aufgegeben. Hinter vordergründig technischen Argumenten – etwa dem, das Gelände sei verseucht und für eine solche Ansiedlung nicht geeignet – hörte die Regionalpresse schnell auch rassistische Anfeindungen heraus(2).

Am 27. Oktober 12 wiederholte sich der Vorgang in Hellemmes, einem anderen Vorort von Lille, dessen Bürgermeister Frédéric Marchand – er unterstützt ein Projekt für die Errichtung eine „legalen“, kleinen Ansiedlung für einige Romafamilien - dabei von einem Teil der rund 200 Demonstranten auch körperlich angegangen wurde und sich in ein Seitenzimmer seines Rathauses flüchtete. Beobachter sprachen recht eindeutig von einer Lynchstimmung. Die Demonstration wurde diesmal von den örtlichen Kräften der stärksten Oppositionspartei UMP – der Partei des früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy -, aber auch des Front National unterstützt. UMP-Vertreter machten vor laufenden Kameras Besorgnisse für „die Sicherheit“, aber auch „die Hygiene“ gegen die Fertighäuser für einige Romafamilien geltend.(3)

Trotz erneuter Mobilisierungen in den darauffolgenden Wochen begannen jedoch am 15. November 12 die Bauarbeiten, da in diesem Falle der Bürgermeister entschlossen ist, dem Druck von rechts nicht nachzugeben. „Aufgebracht Anwohner“ versuchten den Beginn der Arbeiten zu verhindern, was ihnen jedoch nicht gelangt.(4) Erneut wurde im Ballungsraum Lille von Anhängern der faschistischen „identitären Bewegung“ am Wochenende des 17. November 2012 gegen Roma-Ansiedlungen mobilisiert.(5)

5) Vgl. die Webseite des ,Vlaams Huis’, welche wir an dieser Stelle nicht verlinken möchten. Ungern, wirklich…

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.