Über den Irrationalismus als internationale Erscheinung in der imperialistischen Periode
Vorwort von "Die Zerstörung der Vernunft"

von Georg Lukács

12-2013

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Dieses Buch erhebt keinen Augenblick den Anspruch, eine Geschichte der reaktionären Philosophie oder gar ein Lehrbuch ihrer Entwicklung zu sein. Der Verfasser weiß vor allem, daß der Irrationalismus, dessen Emporwachsen, dessen Ausbreitung zur herrschenden Richtung der bürgerlichen Philosophie hier dargestellt wird, nur eine der wichtigen Tendenzen in der reaktionär-bürgerlichen Philosophie ist; obwohl es kaum eine reaktionäre Philosophie ohne einen bestimmten irrationalistischen Einschlag gibt, ist der Umkreis der reaktionären bürgerlichen Philosophie doch viel breiter als der der irrationalistischen Philosophie im eigentlichen, strengeren Sinn.

Aber selbst diese Einschränkung reicht nicht aus, um unsere Aufgabe genau zu umschreiben. Auch in diesem enger gestellten Themenkreis handelt es sich nicht um eine ausführliche, umfassende und Komplettheit anstrebende Geschichte des Irrationalismus, sondern bloß um das Herausarbeiten der Hauptlinie seiner Entwicklung, um die Analyse seiner wichtigsten und typischsten Etappen und Repräsentanten. Diese Hauptlinie soll ins Licht gerückt werden als die bezeichnendste und wirkungsvollste Art der reaktionären Antwort auf die großen Zeitprobleme der vergangenen letzten anderthalb Jahrhunderte.

Die Geschichte der Philosophie ist, ebenso wie die der Kunst und der Literatur, nie — wie ihre bürgerlichen Historiker meinen — einfach eine Geschichte philosophischer Ideen oder gar Persönlichkeiten. Die Probleme und Lösungsrichtungen für die Philosophie werden von der Entwicklung der Produktivkräfte, von der gesellschaftlichen Entwicklung, von der Entfaltung der Klassenkämpfe gestellt. Die entscheidenden Grundlinien einer jeweiligen Philosophie können unmöglich anders als auf Grund der Erkenntnis dieser primären bewegenden Kräfte aufgedeckt werden. Wird der Versuch gemacht, die philosophischen Problemzusammenhänge von einer sogenannten immanenten Entwicklung der Philosophie aus zu stellen und zu lösen, so entsteht notwendig eine idealistische Verzerrung der wichtigsten Zusammenhänge, selbst dann, wenn bei den Historikern das notwendige Wissen, der subjektive gute Wille zur Objektivität vorhanden ist. Selbstverständlich ist die sogenannte geisteswissenschaftliche Einstellung diesem Standpunkt gegenüber kein Fortschritt, sondern ein Schritt nach rückwärts: der verzerrende ideologische Ausgangspunkt bleibt, nur ist er noch verschwommener, idealistisch verzerrender; man vergleiche nur Dilthey und seine Schule mit der philosophischen Historiographie der Hegelianer, etwa mit Erdmann.

Daraus folgt keineswegs, wie die Vulgarisatoren meinen, eine Vernachlässigung der rein philosophischen Probleme. Im Gegenteil. Erst in einem solchen Zusammenhang kann der Unterschied zwischen wichtigen Fragen von dauernder Bedeutung und unwesentlichen, professoralen Nuancen-differenzen klar hervortreten. Gerade der Weg vom sozialen Leben ins soziale Leben gibt den philosophischen Gedanken ihre eigentliche Spannweite, bestimmt ihre Tiefe, auch im eng philosophischen Sinne. Dabei ist es eine durchaus sekundäre Frage, wie weit sich die einzelnen Denker dieser ihrer Position, dieser ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Funktion be-wußt sind. Auch in der Philosophie wird nicht über Gesinnungen, sondern über Taten — über objektivierten Gedankenausdruck, über dessen historisch notwendige Wirksamkeit — abgestimmt. Jeder Denker ist in diesem Sinn für den objektiven Gehalt seines Philosophierens vor der Geschichte verantwortlich.

So ergibt sich für uns als Stoff: der Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie. Das heißt, es soll gezeigt werden, wie dieser reale Gang sich in der Philosophie widerspiegelt, wie philosophische Formulierungen als gedanklicher Widerschein der realen Entwicklung Deutschlands zu Hitler diesen Gang beschleunigen halfen. Daß wir uns also auf die Darstellung dieses abstraktesten Teils der Entwicklung beschränken, beinhaltet keineswegs ein Überschätzen der Bedeutung der Philosophie in der bewegten Totalität der realen Entwicklung. Es ist aber, so glauben wir, nicht überflüssig hinzuzufügen, daß ein Unterschätzen der weltanschaulichen Momente zumindest ebenso gefährlich, ebensowenig der Wirklichkeit entsprechend wäre.

Diese Gesichtspunkte bestimmen unsere Behandlungsweise des Stoffs. Primär sind, vor allem für die Auswahl: soziale Genesis und Funktion. Unsere Aufgabe ist es, alle gedanklichen Vorarbeiten zur „nationalsozialistischen Weltanschauung" zu entlarven, mögen sie — scheinbar — noch so weit vom Hitlerismus abliegen, mögen sie — subjektiv— noch so wenig derartige Intentionen haben. Eine der Grundthesen dieses Buches ist: es gibt keine „unschuldige" Weltanschauung. In keiner Beziehung gibt es eine solche, aber insbesondere nicht in bezug auf unser Problem, und zwar gerade im philosophischen Sinn: die Stellungnahme pro oder contra Vernunft entscheidet zugleich über das Wesen einer Philosophie als Philosophie, über ihre Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung. Schon deshalb, weil die Vernunft selbst nicht etwas über der gesellschaftlichen Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales sein kann, sondern stets die konkrete Vernünftigkeit (oder Unvernünftigkeit) einer gesellschaftlichen Lage, einer Entwicklungsrichtung widerspiegelt, auf den Begriff bringt und diese damit fördert oder hemmt. Diese gesellschaftliche Bestimmtheit der Inhalte und Formen der Vernunft beinhaltet jedoch keinen historischen Relativismus. Bei aller gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingtheit dieser Inhalte und Formen ist die Fortschrittlichkeit einer jeden Lage oder Entwicklungstendenz etwas Objektives, unabhängig vom menschlichen Be-wußtsein Wirksames. Ob nun dieses sich nach vorwärts Bewegende als Vernunft oder Unvernunft aufgefaßt, als dieses oder jenes bejaht oder verworfen wird, ist gerade ein entscheidend wesentliches Moment der Par-teiung, des Klassenkampfes in der Philosophie.

Diese Genesis und Funktion aufzudecken, ist von größter Wichtigkeit. Aber in sich selbst noch keineswegs ausreichend. Die Objektivität des Fortschritts reicht freilich dazu aus, eine einzelne Erscheinung, eine Richtung als reaktionäre richtig zu stigmatisieren. Eine wirkliche marxistischleninistische Kritik der reaktionären Philosophie darf aber hier nicht stehenbleiben. Sie muß vielmehr die philosophische Falschheit, die Verzerrung der Grundfragen der Philosophie, das Zunichte machen ihrer Errungenschaften usw. als notwendige, sachlich-philosophische Folgen solcher Stellungnahmen konkret, im philosophischen Material selbst aufzeigen. Insofern ist die immanente Kritik ein berechtigtes, ja unentbehrliches Moment für die Darstellung und Entlarvung reaktionärer Tendenzen in der Philosophie. Die Klassiker des Marxismus haben sie auch stets verwendet, so Engels im „Anti-Dühring", so Lenin im „Empiriokritizismus". Die Ablehnung der immanenten Kritik als Moment einer Gesamtdarstellung, die zugleich soziale Genesis und Funktion, Klassencharakteristik, gesellschaftliche Entlarvung usw. umfaßt, muß notwendig zu einem Sektierertum in der Philosophie führen: zu einer Auffassung, als ob alles, was für einen bewußten Marxisten-Leninisten sich von selbst versteht, auch für seine Leser ohne Beweis einleuchtend wäre. Was Lenin über das politische Verhalten der Kommunisten gesagt hat: „Aber es kommt gerade darauf an, daß man das, was für uns überlebt ist, nicht als überlebt für die Klasse, als überlebt für die Massen ansieht", gilt vollinhaltlich auch für die marxistische Darstellung der Philosophie. Der Gegensatz der verschiedenen bürgerlichen Ideologien zu den Errungenschaften des dialektischen und historischen Materialismus ist die selbstverständliche Grundlage unserer Behandlung und Kritik. Aber auch der sachliche, philosophische Nachweis der inneren Inkohärenz, Widersprüchlichkeit usw. der einzelnen Philosophien ist unumgänglich, wenn man ihren reaktionären Charakter wirklich konkret zur Evidenz bringen will.

Diese allgemeine Wahrheit gilt besonders für die Geschichte des modernen Irrationalismus. Ist dieser doch, wie unser Buch es zu zeigen unternimmt, in ständigem Kampf mit dem Materialismus und der dialektischen Methode entstanden und wirksam geworden. Auch darin ist dieser philosophische Streit eine Widerspiegelung der Klassenkämpfe. Denn es ist sicher kein Zufall, daß die letzte und entwickeltste Form der idealistischen Dialektik im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und insbesondere mit ihren sozialen Konsequenzen zur Entfaltung kam. Der historische Charakter dieser Dialektik, deren große Vorläufer Vico und Herder waren, erhält erst nach der Französischen Revolution einen methodologisch bewußten und logisch durchgearbeiteten Ausdruck, vor allem in der Hegel-schen Dialektik. Es handelt sich dabei um die Notwendigkeit einer historischen Verteidigung und Ausbildung des Fortschrittgedankens, die über die Konzeption der Aufklärung weit hinausgeht. (Damit sind natürlich die Motive, die diese idealistische Dialektik gefördert haben, bei weitem nicht erschöpft: ich verweise nur auf die neuen Tendenzen in den Naturwissenschaften, die Engels im „Feuerbach" aufdeckt.) Die erste wichtige Periode des modernen Irrationalismus entsteht dementsprechend im Kampf gegen den idealistischer) dialektisch-historischen Begriff des Fortschritts; es ist der Weg von Schelling bis Kierkegaard, zugleich der Weg von einer feudalen Reaktion auf die Französische Revolution zur bürgerlichen Fortschrittsfeindlichkeit.

Mit der Junischlacht des Pariser Proletariats und insbesondere mit der Pariser Kommune ändert sich die Lage ganz radikal: von nun an ist die Weltanschauung des Proletariats, der dialektische und historische Materialismus, jener Gegner, dessen Wesensart die Weiterentwicklung des Irrationalismus bestimmt. Die neue Periode hat in Nietzsche ihren ersten und wichtigsten Repräsentanten. Beide Etappen des Irrationalismus bekämpfen den höchsten philosophischen Fortschrittsbegriff ihrer Zeit. Es ergibt aber — auch rein philosophisch — einen qualitativen Unterschied, ob der Gegner eine bürgerlich-idealistische Dialektik ist oder die materialistische Dialektik, die proletarische Weltanschauung, der Sozialismus. In der ersten Etappe ist eine relativ berechtigte, wirkliche Mängel und Schranken der idealistischen Dialektik aufzeigende, auf Sachkenntnis beruhende Kritik noch möglich. In der zweiten sehen wir dagegen, claß die bürgerlichen Philosophen bereits unfähig wurden und gar nicht gewillt sind, den Gegner wirklich zu studieren, den Versuch zu machen, ihn ernsthaft zu widerlegen. Dies ist bereits bei Nietzsche so, und je entschiedener der neue Gegner hervortritt — insbesondere seit dem Großen Oktober 1917 —, ein desto niedrigeres Niveau erhalten der Wille und die Fähigkeit, gegen den wirklichen und richtig erkannten Widersacher mit anständigen gedanklichen Waffen zu kämpfen, desto stärker treten Verdrehung, Verleumdung und Demagogie an die Stelle der ehrlichen wissenschaftlichen Polemik. Auch darin werden die Widerspiegelungen der Verschärfung des Klassenkampfes klar sichtbar. Die Feststellung von Marx nach der Revolution von 1848: „Les capacites de la bourgeoisie s'en vont" bestätigt sich von Etappe zu Etappe immer deutlicher. Und zwar nicht bloß in der eben erwähnten zentralen Polemik, sondern auch im ganzen Aufbau, in der gesamten Durcharbeitung der einzelnen irrationalistischen Philosophien. Das apologetische Gift dringt aus der Zentralfrage in die Peripherie ein: Willkürlichkeit, Widersprüchlichkeit, Unfundiertheit der Grundlagen, sophistische Argumentationen usw. charakterisieren immer schärfer die später auftretenden irrationalistischen Philosophien. Das Sinken des philosophischen Niveaus ist also ein Wesenszeichen der Entwicklung des Irrationalismus. In der „nationalsozialistischen Weltanschauung" offenbart sich diese Tendenz am plastischsten und evidentesten.

Bei alledem ist jedoch die Einheit der Entwicklung des Irrationalismus hervorzuheben. Denn das Sinken des philosophischen Niveaus als bloße Feststellung reicht keineswegs zur Charakteristik der Geschichte des Irrationalismus aus. Solche Feststellungen wurden wiederholt im bürgerlichen — angeblichen — Kampf gegen Hitler gemacht. Ihr Zweck war jedoch sehr oft ein konterrevolutionärer, ja sogar der einer Apologie des Faschismus selbst: die Preisgabe Hitlers und Rosenbergs, um „das Wesen", die reaktionärste Form des deutschen Monopolkapitalismus, die Zukunft eines neuen, aggressiven deutschen Imperialismus ideologisch zu retten. Der Rückzug vom „niveaulosen" Hitler auf die „hochwertigen" Spengler, Heidegger oder Nietzsche ist also, sowohl philosophisch als auch politisch, ein strategischer Rückzug, eine Loslösung vom verfolgenden Feinde, um die Reihen der Reaktion zu ordnen, um — unter günstigeren Bedingungen — eine erneute, methodologisch „verbesserte" Offensive der äußersten Reaktion zu entfachen.

Diesen Tendenzen gegenüber, deren Anfänge weit zurückgreifen, ist zweierlei zu betonen. Erstens, daß das Sinken des philosophischen Niveaus eine gesellschaftlich bedingte notwendige Erscheinung ist. Nicht die Minderwertigkeit der philosophischen Persönlichkeit Rosenbergs, im Vergleich etwa zu Nietzsche, ist das Ausschlaggebende. Im Gegenteil: gerade wegen seiner moralischen und intellektuellen Minderwertigkeit ist Rosenberg zum geeigneten Ideologen des Nationalsozialismus geworden. Und falls der oben angedeutete strategische Rückzug auf Nietzsche oder Spengler wieder zur philosophischen Offensive erwächst, muß sein Protagonist — historisch notwendig — philosophisch ein noch niedrigeres Niveau repräsentieren als Rosenberg: ganz unabhängig von seinen persönlichen Fähigkeiten, Kenntnissen usw. Denn das philosophische Niveau eines Ideologen wird letzten Endes davon bestimmt, wie tief er in die Fragen seiner Zeit einzudringen, wie er diese auf die höchste Höhe der philosophischen Abstraktion zu erheben imstande ist, wie weit der Standpunkt jener Klasse, auf deren Boden er steht, es gestattet, in diesen Fragen in die Tiefe und bis ins Letzte zu gehen. (Man vergesse nie, daß Descartes' „cogito" oder Spinozas „deus sive natura" in ihrer Zeit höchst aktuelle und kühn parteiliche Fragestellungen und Antworten waren.) Die „geniale" Willkürlichkeit und Oberflächlichkeit Nietzsches ist in ihrer Minderwertigkeit der klassischen Philosophie gegenüber ebenso gesellschaftlich bedingt, wie seine Höherwertigkeit den noch viel leichtfertigeren und leereren Konstruktionen Spenglers oder gar der hohlen Demagogie Rosenbergs gegenüber. Wenn die Beurteilung des modernen Irrationalismus auf die Ebene der abstrakt isolierten geistigen Niveauunterschiede verschoben wird, will man vor den politisch-gesellschaftlichen Wesen und Folgen seiner letzten Konsequenzen ausweichen. Abgesehen von dem politischen Charakter eines jeden solchen Versuchs, muß man auch seine, davon unabtrennbare Vergeblichkeit — gerade im philosophischen Sinne — energisch hervorheben. (Wie sich dies in der Nachkriegszeit konkret gestaltet, darauf kommen wir im Nachwort zu sprechen.)

Diese Feststellung hängt ganz eng mit unserer zweiten Bemerkung zusammen. Wir werden in diesem Buch ausführlich nachzuweisen versuchen, daß die Entwicklung des Irrationalismus auf keiner Etappe eine „immanente" Wesensart zeigt, als ob etwa aus einer Problemstellung oder -lösung die andere, von der inneren Dialektik der philosophischen Gedankenbewegung getrieben, entspringen würde. Wir wollen im Gegenteil zeigen, daß die verschiedenen Etappen des Irrationalismus als reaktionäre Antworten auf Probleme des Klassenkampfes entstanden sind. Inhalt, Form, Methode, Ton usw. seines Reagierens auf den Fortschritt in der Gesellschaft werden also nicht von einer solchen, ihm eigenen inneren Dialektik bestimmt, sondern vielmehr vom Gegner, von den Kampfbedingungen, die der reaktionären Bourgeoisie aufgezwungen werden. Dies muß als Grundprinzip der Entwicklung des Irrationalismus festgehalten werden.

Das bedeutet jedoch nicht, daß der Irrationalismus — innerhalb des so bestimmten gesellschaftlichen Rahmens — keine ideelle Einheit zeigen würde. Im Gegenteil. Gerade aus diesem seinem Charakter folgt, daß die von ihm aufgeworfenen inhaltlichen und methodologischen Probleme stark zusammenhängen, eine auffallende (und enge) Einheit offenbaren. Herab-' Setzung von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des gesellschaftlichgeschichtlichen Fortschritts, Schaffen von Mythen usw. sind Motive, die wir bei so gut wie jedem Irrationalisten wiederfinden. Die philosophische Reaktion der Vertreter der feudalen Überreste und der Bourgeoisie auf den gesellschaftlichen Fortschritt mag unter bestimmten Umständen, bei einzelnen persönlich begabten Vertretern dieser Richtung, eine geistvolle, glänzende Form erhalten, der in der ganzen Entwicklung durchlaufende philosophische Gehalt ist jedoch äußerst monoton und dürftig. Und da, wie oben aufgezeigt, der geistige Spielraum der Polemik, die Möglichkeit, wenigstens gewisse Widerspiegelungen der Wirklichkeit, wenn auch noch so verzerrt, ins Gedankensystem aufzunehmen, sich mit gesellschaftlicher Notwendigkeit ununterbrochen verengt, ist das Sinken des philosophischen Niveaus bei Gleichbleiben bestimmter entscheidender gedanklicher Motive unvermeidlich. Das Festhalten an diesen durchlaufenden Gedankenbestimmungen ist die Widerspiegelung der einheitlich reaktionären gesellschaftlichen Grundlagen des Irrationalismus, soviel qualitative Veränderungen auch in der Entwicklung von Schelling bis Hitler festgestellt werden können und müssen. Das Münden der deutschen irrationalistischen Philosophie in den Hitlerismus ist also nur insofern eine Notwendigkeit, als die konkreten Klassenkämpfe — freilich nicht ohne Hilfe dieser ideologischen Entwicklung — ein solches Resultat hervorgebracht haben. Vom Standpunkt der Entfaltung des Irrationalismus sind deshalb die Ergebnisse dieser Klassenkämpfe unveränderliche Tatsachen, die eine entsprechende philosophische Widerspiegelung erhalten, auf die der Irrationalismus so oder so reagiert, sie sind aber — von hieraus gesehen — eben unveränderliche Tatsachen. Damit ist natürlich keineswegs behauptet, daß sie — objektiv-historisch angesehen — fatale Notwendigkeiten gewesen wären.

Will man also die Entwicklung der deutschen irrationalistischen Philosophie richtig verstehen, so muß man diese Momente stets in ihrer Zusammengehörigkeit festhalten: die Abhängigkeit der Entwicklung des Irrationalismus von den entscheidenden Klassenkämpfen in Deutschland und in der ganzen Welt, was natürlich die Ablehnung einer „immanenten" Entwicklung in sich schließt, die Einheitlichkeit der Inhalte und Methoden bei einer ununterbrochenen Verengung des Spielraums für eine wirkliche philosophische Entfaltung, was die Steigerung der apologetischen und demagogischen Tendenzen befördern muß, und endlich als Folge: das notwendige, ständige, rapide Sinken des philosophischen Niveaus. Nur so wird es verständlich, wie bei Hitler die demagogische Popularisierung aller Gedankenmotive der entschiedenen philosophischen Reaktion zustande kam, die ideologische und politische „Krönung" der Entwicklung des Irrationalismus.

Die Zielsetzung, diese Motive und Tendenzen der Entwicklung des Irrationalismus in Deutschland klar herauszuarbeiten, bestimmt die Darstellungsweise unserer Arbeit. Es kann sich deshalb nur darum handeln: die wichtigsten Knotenpunkte durch eingehende Analyse ins richtige Licht zu rücken; nicht aber um eine ausgeführte Geschichte des Irrationalismus oder gar der reaktionären Philosophie überhaupt, die mit dem Anspruch auftreten würde, alle Gestalten und Tendenzen zu behandeln, oder auch nur aufzuzählen. Auf Vollständigkeit wird also hier bewußt verzichtet. Wenn etwa vom romantischen Irrationalismus am Anfang des 19. Jahrhunderts die Rede ist, so werden seine wichtigsten Bestimmungen am Hauptvertreter dieser Richtung, an Schelling, aufgezeigt; Friedrich Schlegel, Baader, Görres usw. werden kaum oder gar nicht erwähnt; es fehlt auch eine Behandlung Schleiermachers, dessen spezifische Tendenzen erst durch Kierkegaard eine breite reaktionäre Bedeutung erlangten; es fehlt der Irrationalismus der zweiten Periode Fichtes, der nur in der Rickertschule, besonders bei Lask eine — für die Gesamtentwicklung episodische — Wirksamkeit erhielt; es fehlen Weiße und der jüngere Fichte usw. usw. So gerät in der imperialistischen Periode Husserl auf den zweiten Plan, da die irrationalistischen Tendenzen, die seiner philosophischen Methode von Anfang an innewohnten, erst durch Scheler und insbesondere durch Heidegger wirklich explizit wurden; so treten neben Spengler Leopold Ziegler und Keyserling in den Hintergrund, so neben Klages Theodor Lessing, so auch neben Heidegger Jaspers usw. usw.

Dazu kommt noch, daß, da wir den Irrationalismus als die entscheidende Hauptströmung der reaktionären Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts auffassen, wichtige und einflußreiche, entschieden reaktionäre' Denker, bei denen der Irrationalismus nicht den Mittelpunkt ihrer Gedankenwelt ausmacht, ebenfalls unbehandelt bleiben. So der Eklektiker Eduard von Hartmann neben dem entschiedenen Irrationalisten Nietzsche; so, ebenfalls in Relation zu Nietzsche, Lagarde; so in der unmittelbaren Vorbereitungszeit des deutschen Faschismus Moeller van den Brück usw. usw. Wir hoffen, daß durch diese stoffliche Beschränkung die Hauptlinie der Entwicklung klarer zum Ausdruck kommt. Künftige Historiker der deutschen Philosophie werden, so hoffen wir, die hier dargestellte Generallinie der reaktionären Philosophie in Deutschland vielfach ergänzen und vervollständigen.

Zielsetzung und Stoff bedingen weiter, daß jener Strom, der von Schelling zu Hitler geht, in unserer Darstellung nicht in jener Einheitlichkeit zum Ausdruck kommen kann, die er in der gesellschaftlichen Wirklichkeit hatte. Die Kapitel IIIV versuchen diese Entwicklung auf dem Gebiet der irrationalistischen Philosophie im engeren Sinne klarzulegen. Das oben angedeutete Programm: die Entwicklungslinie von Schelling bis Hitler gelangt hier zur Darstellung. Damit kann aber die Aufgabe noch nicht als gelöst betrachtet werden. Erstens sinrl wir noch verpflichtet, wenigstens an einem wichtigen Beispiel zu zeigen, wie der Irrationalismus als reaktionäre Haupttendenz der Epoche die gesamte bürgerliche Philosophie sich unterzuordnen vermag. Dies wird im fünften Kapitel am imperialistischen Neuhegelianismus ausführlich dargelegt, auf die wichtigsten Wegbereiter wird nur kurz hingewiesen. Zweitens stellt das sechste Kapitel dieselbe Entwicklung, die philosophisch bereits analysiert wurde, auf dem Gebiet der deutschen Soziologie dar. Wir glauben, daß die Klarheit und Übersichtlichkeit des Gesamtzusammenhanges dadurch, daß ein so wichtiges Moment gesondert und nicht in die Philosophie aufgelöst und zerstreut behandelt wird, nur gewinnen kann. Und endlich werden drittens die historischen Vorläufer der Rassentheorie ebenfalls gesondert im siebten Kapitel dargestellt. Die zentrale Bedeutung, die ein so mittelmäßiger Eklektiker wie H. St. Chamberlain im deutschen Faschismus erlangte, kann nur so ins rechte Licht gerückt werden: er ist es, der den philosophischen Irrationalismus der imperialistischen Periode, die Lebensphilosophie, mit der Rassentheorie und mit den Ergebnissen des sozialen Darwinismus „synthetisiert". So wird er zum unmittelbaren Vorläufer von Hitler und Rosenberg, zum philosophischen „Klassiker" des Nationalsozialismus. Es ist klar, daß die zusammenfassende Behandlung der Hitlerzeit gerade in diesem Zusammenhang richtig zur Geltung gelangen kann, wobei natürlich die Ergebnisse des vierten und sechsten Kapitels stets mit in Betracht gezogen werden müssen. Selbstverständlich hat diese Darstellungsweise manchen Nachteil; Simmel ist z. B. ein einflußreicher Soziologe und wird doch wesentlich bei der imperialistischen Lebensphilosophie analysiert; zwischen Rickert und Max Weber, zwischen Dilthey und Freyer, zwischen Heidegger und C. Schmitt usw. bestehen intime Zusammenhänge, sie müssen aber trotzdem räumlich abgetrennt voneinander behandelt werden. Dies sind unvermeidliche Darstellungsmängel, auf welche schon hier hingewiesen werden muß. Wir hoffen jedoch, daß die Übersichtlichkeit der Hauptlinie die negativen Momente überwiegen wird.

Auf historische Vorarbeiten kann sich unsere Arbeit kaum stützen. Eine marxistische Geschichte der Philosophie gibt es noch nicht, und die bürgerlichen Darstellungen sind vom Standpunkt unserer Fragestellungen aus völlig unbrauchbar. Das ist natürlich kein Zufall. Die bürgerlichen Historiker der deutschen Philosophie ignorieren oder verkümmern die Rolle von Marx und die des Marxismus. Deshalb können sie weder zur großen Krise der deutschen Philosophie in den dreißiger, vierziger Jahren, noch zu ihrer späteren Niedergangsphase auch nur annähernd, auch nur in bezug auf die Tatsachen richtig Stellung nehmen. Nach den Hegelianern ist die deutsche Philosophie mit Hegel abgeschlossen; nach den Neukantianern hat sie in Kant ihren Gipfelpunkt erreicht, und die Verwirrung, die seine Nachfolger stifteten, konnte erst mit der Rückkehr zu ihm in Ordnung gebracht werden. Eduard v. Hartmann versucht eine „Synthese" zwischen Hegel und dem Irrationalismus (des späten Schelling und Schopenhauers) zustande zu bringen usw. Jedenfalls liegt die entscheidende Krise der deutschen Philo­sophie, die Auflösung des Hegelianismus, für die bürgerlichen Historiker außerhalb der Geschichte der Philosophie. Die Philosophiehistoriker der im­perialistischen Periode schaffen — wesentlich auf der Grundlage der Bejahung des Irrationalismus — einerseits eine Harmonie zwischen Hegel und der Romantik, andererseits eine zwischen Kant und Hegel, wodurch alle wichtigen Richtungskämpfe gedanklich aus der Welt geschafft werden und eine einheitliche und unproblematische, widerspruchslose Entwicklungs­linie zum — bejahten — Irrationalismus der imperialistischen Periode ge­zogen wird. Der einzige, auf anderen Gebieten sehr verdienstvolle, marxi­stische Historiker, Franz Mehring, kennt einerseits, mit Ausnahme Kants, die klassische deutsche Philosophie zu wenig und erkennt andererseits nicht genügend die spezifischen Züge der imperialistischen Periode, um für unse're Fragen richtunggebend sein zu können.

Das einzige neuere Buch, in welchem wenigstens ein Anlauf dazu ge­nommen wird, auf die Problematik der deutschen philosophischen Ent­wicklung einzugehen, ist das kenntnisreiche Werk K. Löwiths „Von Hegel zu Nietzsche". Darin wird zum erstenmal in der deutschen bürgerlichen Philosophiegeschichte der Versuch unternommen, die Auflösung des Hegelianismus, die Philosophie des jungen Marx in die Entwicklung orga­nisch einzufügen. Aber schon daraus, daß Löwith diese Entwicklung — und zwar nicht im entlarvenden Sinn — in Nietzsche gipfeln läßt, wird klar, daß er die wirklichen Probleme der behandelten Periode nicht sieht und, wo er auf sie stößt, sie resolut auf den Kopf stellt. Da er die Hauptrichtung bloß in einem Weg von Hegel weg erblickt, geraten bei ihm die rechten und linken Kritiker Hegels, insbesondere Kierkegaard und Marx, auf die gleiche Ebene, ihre Entgegengesetztheit in allen Fragen erscheint als bloße Verschiedenheit der Thematik, bei einer wesentlich verwandten Grund­richtung. Daß Löwith bei einer solchen Einstellung zwischen den Hege­lianern der Auflösungszeit (Rüge, Bauer), Feuerbach und Marx auch nur Nuancen innerhalb einer ähnlichen Tendenz und keine qualitativen Gegen­sätze erblickt, versteht sich von selbst. Da sein Buch in der neueren bürger­lichen Geschichtsschreibung der Philosophie eine fast alleinstehende Posi­tion an Stoffkenntnis einnimmt, führen wir einen längeren entscheidenden Passus an, damit der Leser selbst beurteilen kann, wie diese Methode zur Gleichsetzung von Marx und Kierkegaard und damit zu ähnlichen Folge­rungen führt, wie sie einige „linke" Präfaschisten gezogen haben (z. B. H.Fischer: „Marx und Nietzsche als Entdecker und Kritiker der Deka­denz"). Löwith sagt: „Kurz vor der Revolution von 1848 haben Marx und Kierkegaard dem Willen zu einer Entscheidung eine Sprache verliehen, deren Worte auch jetzt noch ihren Anspruch erheben: Marx im 'Kommunistischen Manifest' (1847) und Kierkegaard in einer .Literarischen An­meldung' (1846). Das eine Manifest schließt .Proletarier aller Länder ver­einigt Euch!' und das andere damit, daß jeder für sich an seiner eigenen Rettung arbeiten solle, dagegen sei die Prophetie über den Fortgang der Welt höchstens als Scherz erträglich. Dieser Gegensatz bedeutet aber ge­schichtlich betrachtet nur zwei Seiten einer gemeinsamen Destruktion der bürgerlich-christlichen Welt. Zur Revolution der bürgerlich-kapitalistischen Welt hat sich Marx auf die Masse des Proletariats gestützt, während Kierkegaard in seinem Kampf gegen die büigttMch-christliche Welt alles auf den Einzelnen setzt. Dem entspricht, daß für Marx die bürgerliche Gesellschaft eine Gesellschaft von »vereinzelten Einzelnen' ist, in welcher der Mensch seinem .Gattungswesen' entfremdet ist, und für Kierkegaard die Christenheit ein massenhaft verbreitetes Christentum, in dem niemand ein Nachfolger Christi ist. Weil aber Hegel diese existierenden Widersprüche im Wesen vermittelt hat, die bürgerliche Gesellschaft mit dem Staat und den Staat mit dem Christentum, zielt die Entscheidung von Marx wie von Kierkegaard auf die Hervorhebung des Unterschieds und des Widerspruchs in eben jenen Vermittlungen. Marx richtet sich auf die Selbstentfremdung, die für den Menschen der Kapitalismus ist, und Kierkegaard auf diejenige, die für den Christen die Christenheit ist."

Also auch hier: eine Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. Die marxi­stische Geschichtsschreibung kann mit solchen Vorarbeiten in Bewältigung dieses Stoffes nichts anfangen.

Endlich muß hier noch die Frage aufgeworfen werden, warum unsere Darstellung — mit wenigen Einschaltungen, wie Kierkegaard und Gobi-neau — sich auf den deutschen Irrationalismus beschränkt. Die besonderen Bedingungen, die Deutschland zu einem vorzugsweise geeigneten Boden für den Irrationalismus gemacht haben, versuchen wir im ersten Kapitel zu skizzieren. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Irrationalismus eine internationale Erscheinung ist, und zwar sowohl in seinem Kampf gegen den bürgerlichen Fortschrittsbegriff als auch im Kampf gegen den des Sozialismus. Und es unterliegt keinem Zweifel, daß in beiden Perioden wichtige Vertreter der gesellschaftlichen und politischen Reaktion in den verschiedensten Ländern aufgetreten sind. So schon während der Franzö­sischen Revolution in England Burke, so später in Frankreich Bonald, De Maistre und andere. Allerdings bekämpfen diese die Ideologie der Franzö­sischen Revolution, ohne eine derart spezifische und neue philosophische Methode für diese Zwecke auszubilden, wie dies in Deutschland geschehen ist. Es fehlen zwar auch solche Versuche nicht; man denke etwa an Maine de Biran. Es ist aber unzweifelhaft, daß auch dieser weit davon entfernt war, derartige internationale Dauerwirkungen hervorzubringen wie Schelling oder Schopenhauer, und er hat auch bei w-eitem nicht so entschieden und prinzipiell die Grundlagen des neuen Irrationalismus herausgearbeitet wie diese. Dies hängt wieder damit zusammen, daß Maine de Biran im Gegen­satz zum dezidierten Reaktionärtum der deutschen Romantiker ein Ideologe des juste milieu war. Der imperialistische Aufschwung des Irrationalismus zeigt besonders kraß die führende Rolle Deutschlands auf diesem Gebiet. Natürlich ist hier in erster Linie Nietzsche gemeint, der zum inhaltlichen und methodologischen Vorbild der irrationalistischen philosophischen Reaktion von den USA bis zum zaristischen Rußland wurde, und mit dessen Einfluß sich kein einziger Ideologe der Reaktion auch nur annähernd messen konnte und kann. Aber auch später bleibt Spengler international vorbild­lich für die irrationalistischen geschichtsphilosophischen Konzeptionen bis zu Toynbee; Heidegger ist das Modell für den französischen Existentialis­mus, wirkt schon lange vorher entscheidend auf Ortega y Gasset ein, be­sitzt in tiefer und gefährlicher Weise einen Einfluß auf das bürgerliche Denken in Amerika usw. usw.

Die bestimmenden Ursachen dieses Unterschiedes könnten natürlich nur auf der Grundlage der konkreten Geschichte aller einzelnen Länder heraus­gearbeitet werden. Erst eine solche historische Betrachtung würde die spe­zifischen Tendenzen klarlegen, die in Deutschland ihre „klassische", kon­sequent bis ans Ende gehende Form erhielten, während sie in den anderen Ländern zumeist auf halbem Weg stehengeblieben sind. Natürlich gibt es den Fall Mussolini, mit seinen philosophischen Quellen aus James, Pareto, Sorel und Bergson; aber selbst hier geht die internationale Wirkung lange nicht so stark in die Breite und Tiefe wie schon in der Vorbereitungszeit des faschistischen Deutschland und erst recht unter Hitler. So können wir überall das Auftreten sämtlicher Motive des Irrationalismus beobachten; insofern ist dieser tatsächlich eine internationale Erscheinung, besonders in der imperialistischen Periode. Jedoch nur äußerst selten, vereinzelt, epi­sodisch werden daraus alle Konsequenzen gezogen, wird der Irrationalis­mus zu einer derart allgemein herrschenden Richtung wie in Deutschland; insofern bleibt die Hegemonie der deutschen Entwicklung bestehen. (Über die gegenwärtige Lage werden wir im Nachwort sprechen.)

Man kann diese Tendenz schon vor dem ersten Weltkrieg wahrnehmen. Ebenso wie in Deutschland erlangt der Irrationalismus hochentwickelte Formen in fast allen führenden Ländern der imperialistischen Periode. So im Pragmatismus der angelsächsischen Länder, so mit Boutroux, Bergson usw. in Frankreich, so mit Croce in Italien. Diese Formen zeigen — bei tie­fer Verwandtschaft in den letzten gedanklichen Grundlagen — eine äußerst bunte Verschiedenheit; diese wird primär bestimmt durch die Art, Höhe und Schärfe des Klassenkampfes im betreffenden Land, daneben durch das überkommene philosophische Erbe, durch die unmittelbare gedankliche Gegnerschaft. In unseren ausführüchen Analysen der einzelnen Etappen der deutschen Entwicklung leiten wir diese, wie hier bereits angedeutet, aus den konkreten historischen Umständen ab. Ohne ein solches Aufdecken der realen gesellschaftlich-geschichtlichen Grundlagen ist keine wissen­schaftliche Analyse möglich. Dies gilt natürlich auch für die folgenden Be­trachtungen. Sie erheben deshalb keinen Augenblick den Anspruch, auch nur die Skizze einer wissenschafüichen Bestimmung von Philosophien oder Richtungen zu sein. Sie deuten bloß bestimmte allgemeinste Züge als aus der — allgemeinen — Gleichheit der imperialistischen Ökonomie ent­sprungen an; freilich bei verschiedener Entwicklungsstufe der einzelnen Länder, bei der ungleichmäßigen Entwicklung im Imperialismus, welche trotz dieser Gleichheit der Grundlagen zugleich konkrete Verschieden­heiten hervorbringt.

Wir können hier natürlich diese unsere Auffassung nur an einigen flüch­tig skizzierten Beispielen illustrieren. Die ähnlichen, von der imperialisti­schen Ökonomie als ähnlich determinierten, ideologischen Bedürfnisse bringen unter verschiedenen konkreten gesellschaftlichen Umständen sehr verschiedene, ja, oberflächlich betrachtet, entgegengesetzt scheinende Ab­arten des Irrationalismus hervor. Man denke etwa an Croce und an W.James und den Pragmatismus. Beide stehen, was die unmittelbaren philosophi­schen Vorgänger betrifft, im Kampf gegen bestimmte Hegeische Tradi­tionen. Daß dies in der imperialistischen Zeit möglich ist, darin spiegelt sich ein Unterschied zwischen der deutschen und der sonstigen westlichen philosophischen Entwicklung. Die Revolution von 1848 beendet für Deutschland die Auflösung des Hegehanismus; der Irrationalist Schopen­hauer wird zum führenden Philosophen des nachrevolutionären Deutsch­land, der Vorbereitungszeit der Bismarckschen Reichsgründung. In den angelsächsischen Ländern und in Italien spielt dagegen die Hegelsche Phi­losophie auch in dieser Zeit eine führende Rolle, ja sie erhält sogar einen gesteigerten Einfluß. Das beruht darauf, daß der bürgerliche Fortschritts­gedanke hier noch nicht, wie in Deutschland, in eine offene Krise gerät; die Krise bleibt hier latent und versteckt, der Fortschrittsbegriff wird bloß, den Ergebnissen von 1848 entsprechend, liberal verflacht und verwässert. Philosophisch hat dies zur Folge, daß die Hegeische Dialektik ihren Charak­ter als „Algebra der Revolution" (Herzen) vollständig verliert, daß Hegel immer stärker an Kant und den Kantianismus angenähert wird. Darum kann ein solcher Hegehanismus, besonders in den angelsächsischen Ländem, eine Parallelerscheinung zur vordringenden Soziologie sein, die eben­falls einen liberalen Evolutionismus predigt wie vor allem die Herbert Spencers. Es sei hier nur beiläufig darauf hingewiesen, daß in den Über­resten des deutschen Hegelianismus ein ähnlicher Prozeß der Rückentwick-lung zu Kant vor sich geht, nur spielt er bei dem allgemeinen Zurück­drängen der ganzen Richtung keine so wichtige Rolle wie im Westen. Es genügt, wenn wir auf die Entwicklung von Rosenkranz und Vischer hin­weisen; der letztere spielt insofern eine Pionierrolle für die Philosophie des Imperialismus, als seine Wendung zu Kant bereits dessen irrationalistische Interpretation mit einbegreift.

Croce steht keineswegs unmittelbar unter dem Einfluß Vischers, seine Beziehung zu Hegel (und zu dem von ihm „entdeckten" und propagierten Vico) bewegt sich aber auf einer ähnlichen Linie der Irrationalisierung. Er berührt sich also sehr eng mit dem später auftretenden deutschen Hege­lianismus der imperialistischen Periode, nur mit dem sehr wichtigen Unter­schied, daß dieser die angeblich erneuerte Hegeische Philosophie als Sammelideologie für eine zu vereinigende Reaktion (den Nationalsozialis­mus mitinbegriffen) auffaßt, während Croce bei einem — freilich reichlich reaktionären — Liberalismus der imperialistischen Periode stehenbleibt und den Faschismus philosophisch ablehnt. (Der andere führende italie­nische Hegelianer, Gentile, wird allerdings zeitweilig zum Ideologen der „Konsolidierungsperiode" des Faschismus.) Wenn Croce das „Lebendige" vom „Toten" in Hegel trennt, so ist das erstere eben ein liberal gemäßigter Irrationalismus, das letztere: Dialektik und Objektivität. Beide Tendenzen haben zum Hauptinhalt: die Abwehr gegen den Marxismus. Darin ist phi­losophisch entscheidend: die radikale Subjektivierung der Geschichte, die radikale Entfernung jeder Gesetzmäßigkeit aus ihr. „Ein historisches Ge­setz, ein historischer Begriff sind", sagt Croce, „eine wahrhafte contradictio in adjecto." Geschichte, führt Croce anderswo aus, ist stets eine Geschichte der Gegenwart. Hier ist nicht nur die enge Berührung mit der Windelband-Rickert-Richtung in Deutschland, mit der beginnenden Irrationalisierung der Geschichte bemerkenswert, sondern zugleich die Art, wie Croce eine reale dialektische Fragestellung, nämlich daß die Erkenntnis der Gegen­wart (der bisher höchsten Stufe einer Entwicklungsreihe) den Schlüssel zu der Erkenntnis der weniger entfalteten Stufen der Vergangenheit bietet, in einen irrationalistischen Subjektivismus auflöst. Geschichte wird zur Kunst, und zwar natürlich zu einer Kunst im Sinne Croces, in welcher sich eine rein formalistisch aufgefaßte Vollendung mit der Intuition als angeblich alleinigem Organ der Produktivität und der adäquaten Rezeptivität paart. Die Vernunft ist aus allen Gebieten der gesellschaftlichen Tätigkeit des Men­schen verbannt, mit Ausnahme eines — im System untergeordneten — Gebiets der ökonomischen Praxis und eines — im Sinne des Systems ebenfalls untergeordneten, von der eigentlichen Wirklichkeit unabhängig gedachten — Reservats der Logik und der Naturwissenschaften. (Hier ist ebenfalls die Parallele zu Windelband-Rickert sichtbar.) Mit einem Wort: Croce schafft ein „System" des Irrationalismus für den bürgerlich dekadenten Gebrauch des Parasitismus der imperialistischen Periode. Für die äußerste Reaktion reicht dieser Irrationalismus schon vor dem ersten Weltkrieg nicht aus; man denke an die Rechtsopposition gegen Croce seitens Papini usw. Es ist aber — als Gegensatz zu Deutschland — bemerkenswert, daß dieser liberal­reaktionäre Irrationalismus Croces sich bis heute als eine der führenden Ideologien Italiens konservieren konnte.

Dem philosophischen Wesen nach ist der Pragmatismus, von dessen Ver­tretern wir hier nur den hervorragendsten, W. James, kurz behandeln wer­den, weitaus radikaler irrationalistisch, ohne deshalb in seinen Folgerungen entschieden weiter zu gehen als Croce. Nur ist das Publikum, dem James einen irrationalistischen Weltanschauungsersatz zu bieten hat, völlig an­derer Art. Freilich, wenn man den unmittelbaren, philosophiegeschicht­lichen Hintergrund nimmt, die unmittelbaren Vorgänger, an die James polemisch anknüpft, so scheint die Lage gewisse Ähnlichkeiten aufzuweisen. Denn in beiden Fällen handelt es sich um sogenannte Hegelianer, die in Wahrheit offene oder verkappte subjektive Ideaüsten, Kantianer sind. Das Verhalten zu diesen Vorgängern ist jedoch bei beiden bereits völlig ent-gegengesetz't. Während Croce die Hegeischen (und Vicoschen) Traditionen Itaüens angeblich fortsetzt, sie in Wirklichkeit in einen Irrationalismus überleitet, steht James in offenem Kampf gegen diese Traditionen der angelsächsischen Länder.

Diese offene Polemik zeigt eine sehr weitgehende Verwandtschaft mit der europäischen Entwicklung. Wie Mach und Avenarius scheinbar ihre Haupt­angriffe gegen den veralteten Idealismus richten, tatsächlich jedoch mit wirklicher Entschiedenheit bloß den philosophischen Materialismus be­kämpfen, so auch James. Und er steht ihnen auch darin recht nahe, daß diese Vereinigung des wirklichen Kampfes gegen den Materialismus mit den Scheinattacken gegen den Idealismus sich ein Verhalten anmaßt, als ob diese „neue" Philosophie sich endlich über den falschen Gegensatz von Materiaüsmus und Idealismus erheben würde, als ob mit ihr ein „dritter Weg" in der Philosophie entdeckt worden wäre. Diese Verwandtschaft betrifft so gut wie alle wesentlichen Fragen der Philosophie, muß also die Grundlage der Einschätzung des Pragmatismus bilden. Die Unterschiede sind jedoch, gerade von unserem Standpunkt, mindestens ebenso wichtig. Vor allem deshalb, weil der Irrationalismus, der im Machismus implizite enthalten ist und erst allmählich entschieden hervortritt, bei James bereits in voller Entfaltung explizite erscheint. Dies kommt schon darin zum Aus­druck, daß Mach und Avenarius vor allem eine erkenntnistheoretische Be­gründung der exakten Naturwissenschaften erstreben und dabei vorgeben in Weltanschauungsfragen völlig neutral zu sein, während James gerade mit dem Anspruch auftritt, die Weltanschauungsfragen mit Hilfe seiner neuen Philosophie unmittelbar beantworten zu können. Er wendet sich deshalb sofort nicht an verhältnismäßig enge Gelehrtenkreise, sondern erstrebt, die Weltanschauungsbedürfnisse des Alltags, des Durchschnitts­menschen zu befriedigen. Es ist scheinbar nur ein terminologischer Unter­schied, wenn die Machisten die „Denkökonomie" als erkenntnistheore­tisches Kriterium der Wahrheit aufstellen, während James Wahrheit und Nützlichkeit (für das jeweilige Individuum) einander einfach gleichsetzt. Einerseits dehnt damit James die Geltung der machistischen Erkenntnis­theorie auf das ganze Leben aus, gibt ihr einen entschiedenen lebensphilo­sophischen Akzent, andererseits gibt er ihr eine allgemeinere, über die Technik der „Denkökonomie" hinausgehende Geltung.

Auch hier ist das grundlegende Verhalten des Irrationalismus der Dialek­tik gegenüber deutlich sichtbar. Es ist eine fundamentale These des dialek­tischen Materialismus, daß die Praxis das Kriterium der theoretischen Wahrheit bildet. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der gedanklichen Widerspiegelung der von unserem Bewußtsein unabhängig existierenden objektiven Wirklichkeit, oder besser: der Grad unserer Annäherung an sie, bewahrheitet sich erst in der Praxis, durch die Praxis. James, der die Schranken, die Hilflosigkeit des metaphysischen Idealismus klar sieht, der wiederholt auf diese Schranken hinweist (daß etwa der Idealismus die Welt „als vollendet und fertig von Ewigkeit her" auffaßt, während der Prag­matismus sie im Werden zu ergreifen versucht), entfernt sowohl aus der Theorie wie aus der Praxis jede Beziehung zur objektiven Wirklichkeit und verwandelt dadurch die Dialektik in einen subjektivistischen Irrationalis­mus. James gibt dies auch offen zu, indem er damit die Weltanschauungs­bedürfnisse des amerikanischen „man in the street" zu befriedigen unter­nimmt. Im alltäglichen Geschäftsleben muß — bei Strafe des Bankerotts — die Wirklichkeit genau beobachtet werden (unbekümmert darum, daß ihre objektive Wahrheit, ihre Unabhängigkeit vom Bewußtsein erkenntnis­theoretisch geleugnet wird), auf allen anderen Gebieten herrscht jedoch die irrationalistische Willkür ganz unbeschränkt. James sagt: „Die praktische Welt der Geschäfte ist ihrerseits in hohem Maße rational für den Politiker, den Militär, für den vom Geschäftsgeist beherrschten Mann . . . Aber sie ist irrational für das sittliche und künstlerische Temperament."

Hier tritt eine sehr wichtige Bestimmung des Irrationalismus klar her­vor: eine seiner wichtigsten sozialen Aufgaben für die reaktionäre Bour­geoisie besteht nämlich darin, den Menschen einen „Komfort" auf dem Gebiet der Weltanschauung zu bieten, die Illusion einer vollen Freiheit, die Illusion der persönlichen Selbständigkeit, der moralischen und intellek­tuellen Höherwertigkeit — bei einem Verhalten, das sie in ihren wirklichen Handlungen ununterbrochen mit der reaktionären Bourgeoisie verknüpft, sie ihr bedingungslos dienstbar macht. Wir werden in späteren ausführ­lichen Analysen sehen können, wie ein solcher „Komfort" auch dem „er­habensten" Asketismus der irrationalistischen Philosophie, etwa bei Schopenhauer oder Kierkegaard, zugrunde liegt. James spricht diesen Ge­danken mit dem naiven Zynismus des erfolgreichen, selbstbewußten ameri­kanischen Geschäftsmanns aus, er erfüllt die Weltanschauungsbedürfnisse des Typus Babbitt. Auch dieser will, wie Sinclair Lewis ausgezeichnet zeigt, sein Recht auf eine höchst persönliche Intuition gesichert sehen, auch er erfährt in der Praxis, daß Wahrheit und Nützlichkeit in der Lebensführung eines echten Amerikaners gleichbedeutende Begriffe sind. Die Bewußtheit und der Zynismus von James stehen natürlich gedanklich etwas höher als die des Sinclair Lewisschen Babbitt. James lehnt z. B. den Idealismus ab, vergißt aber nicht, ihm insofern eine pragmatistische Reverenz zu erweisen, als er für die alltägliche Lebensführung nützlich ist, da er den philosophi­schen Komfort erhöht; James sagt vom Absoluten des Idealismus: „Es gewährleistet moralische Ferien. Dies tut auch jede religiöse Anschauung." Dieser Komfort wäre aber intellektuell wenig wirksam, wenn er nicht eine scharfe Ablehnung des Materialismus, eine angebliche Widerlegung der wissenschaftlich fundierten Weltanschauung enthalten würde. James macht sich auch diese Aufgabe zynisch bequem. Er führt — konsequent-pragma-tistisch — kein einziges sachliches Argument gegen den Materialismus an; er weist nur darauf hin, daß dieser als Prinzip der Welterklärung keines­wegs „nützlicher" ist als der Glaube an Gott. „Nennen wir", führt er aus, „die Ursache der Welt Materie, so nehmen wir ihr keinen einzigen ihrer Bestandteile, und wir vermehren ihren Reichtum nicht, wenn wir ihre Ur­sache Gott nennen . .. Der Gott hat, wenn er da ist, ebensoviel geleistet, wie die Atome leisten können, und hat ebensoviel Dank verdient wie die Atome und nicht mehr." So kann Babbitt ruhig an Gott, an den Gott wel­cher Religion oder Sekte auch immer, glauben, er verstößt nicht gegen die Anforderungen, die die Wissenschaft an einen up to date gentleman stellt.

Bei James tritt der Gedanke des Mythenschaffens nirgends mit jener klaren Inhaltlichkeit hervor wie etwa bei Nietzsche, der in seiner Erkennt­nistheorie und Ethik viele pragmatistische Züge zeigt, er schafft aber eine «kenntnistheoretische Grundlegung und sogar ein moralisches Gebot da-ur, daß jeder Babbitt auf allen Gebieten des Lebens für seinen persönlichen Gebrauch jene Mythen schaffe oder annehme, die ihm gerade nützlich scheinen; der Pragmatismus gibt ihm dazu das nötige intellektuelle gute Gewissen. Eben in seiner Inhaltslosigkeit und Flachheit ist deshalb der Pragmatismus jenes Warenhaus der Weltanschauungen, das für das Vor­kriegsamerika mit seiner Perspektive der unbeschränkten Prosperität und Sekurität notwendig war.

Es versteht sich freilich von selbst, daß, soweit der Pragmatismus in an­deren Ländern unter den Bedingungen einer verscbärfteren und ausge­bildeteren Form des Klassenkampfes wirksam wurde, seine bloß impliziten Momente rasch zu expliziten werden mußten. Das wird am deutlichsten bei Bergson. Damit soll natürlich keineswegs eine direkte Wirkung des Pragmatismus auf Bergson behauptet werden; es handelt sirh hier, im Gegenteil, ebenfalls um parallele Tendenzen, wobei die gegenseitige Hoch­schätzung von Bergson und James diese Parallelität auch noch von der subjektiven Seite unterstreicht. Das Gemeinsame bei beiden ist die Ab­lehnung der objektiven Wirklichkeit und ihrer rationellen Erkennbarkeit, die Reduktion der Erkenntnis auf bloß technische Nützlichkeit, der Appell an ein intuitives Erfassen der dem Wesen nach als irrationalistisch dekre­tierten wahren Wirklichkeit. Bei dieser gemeinsamen Grundtendenz zeigen sich jedoch nicht unwesentliche Unterschiede der Akzente und Propor­tionen, deren Ursachen in der Verschiedenheit der Gesellschaften zu suchen sind, in denen beide gewirkt haben, und dementsprechend in der Ver­schiedenheit der gedanklichen Traditionen, an die sie, bejahend oder ver­neinend, anknüpften. Bergson entwickelt einerseits den modernen Agno­stizismus weitaus kühner und entschiedener als James zu einem offenen Verkünden von Mythen weiter, andererseits ist, wenigstens während seiner international ausschlaggebenden Wirksamkeit, seine Philosophie viel aus­schließlicher auf die Kritik der naturwissenschaftlichen Anschauungen, auf die Destruktion ihrer Berechtigung, objektive Wahrheiten auszusprechen, auf das weltanschauliche Ersetzen der Naturwissenschiften durch biolo­gische Mythen gerichtet als auf Probleme des gesellschaftlichen Lebens. Erst sehr spät erscheint sein Buch über Ethik und Religion und erreicht bei weitem nicht mehr die allgemeine Wirkung seiner früheren biologi­schen Mythen. Die Bergsonsche Intuition richtet sich nach außen als Ten­denz, die Objektivität und Wahrheit der naturwissenschaftlichen Er­kenntnis zu zerstören; sie richtet sich nach innen als Introspektion des vereinsamten, vom gesellschaftlichen Leben abgetrennten parasitischen Individuums der imperialistischen Periode. (Es ist kein Zufall, daß die größte literarische Nachwirkung Bergsons bei Proust erscheint.)

Hier ist der Gegensatz nicht nur zu James, sondern insbesondere zu Bergsons deutschen Zeitgenossen und Verehrern handgreiflich faßbar. Diltheys ebenfalls intuitive „geniale Anschauung", Simmeis und Gundolfs
Intuition, die „Wesensschau" Schelers usw. sind von vornherein gesell­schaftlich gerichtet, von Nietzsche und Spengler gar nicht zu reden; die Abkehr von der Objektivität und Rationalität erscheint hier sofort und unmittelbar als entschiedene Stellungnahme gegen den gesellschaftlichen Fortschritt. Dies ist bei Bergson nur vermittelt der Fall, und so stark sein ethisch-religiöses Spätwerk reaktionär und mystisch eingestellt ist, es bleibt in dieser Richtung weit hinter dem deutschen Irrationalismus der Zeit seines Erscheinens zurück. Das bedeutet natürlich nicht, daß Bergsons Wirkung nicht auch in Frankreich in diese Richtung gehen wütde; über Sorel werden wir gleich etwas ausführlicher sprechen. Aber auch anderswo ist, von Peguys Wendung zur katholischen Reaktion bis zu den Anfängen des heutigen ideologischen Agenten de Gaulies, R. Aron, diese Wirkung überall spürbar.

Die Hauptattacke Bergsons ist jedoch gegen die Objektivität und Wissen­schaftlichkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gerichtet. Die ab­strakte und schroffe Gegenüberstellung von Rationalität und irrationali­stischer Intuition erreicht bei ihm auf erkenntnistheoretischem Gebiet ihren Gipfelpunkt im Vorkriegsimperialismus. Was bei Mach noch rein erkennt­nistheoretisch war, was bei James zu einer allgemeinen Grundlegung sub­jektiver individueller Mythen erwuchs, erscheint bei Bergson als zusammen­hängendes mythisch-irrationelles Weltbild, das dem der Naturwissenschaf­ten, deren Anspruch auf objektive Erkenntnis der Wirklichkeit Bergson ebenso schroff ablehnt wie Mach oder James, denen er, wie diese, nur eine technizistische Nützlichkeit zubilligt, ein bewegtes und farbiges metaphy­sisches Tableau gegenüberstellt: der leblosen, toten raumartig-erstarrten Welt eine Welt der Bewegung, des Lebens, der Zeit, der Dauer. Der bei Mach bloß agnostizistische Appell an die subjektive Unmittelbarkeit der Wahrnehmung erwächst bei Bergson zu einer Weltanschauung auf der Grundlage der radikal irrationalistischen Intuition.

Auch hier ist der Grundcharakter des modernen Irrationalismus leicht ablesbar. Dem Scheitern der metaphysisch-mechanischen Behandlungs-weise an der Dialektik der Wirklichkeit, der Ursache der allgemeinen Krise der Naturwissenschaften in der imperialistischen Periode, stellt Bergson nicht die Erkenntnis der wirklichen dialektischen Bewegung und Gesetz­lichkeit gegenüber; dies kann nur der dialektische Materialismus tun. Im Gegenteil, Bergsons Leistung liegt im Erfinden eines Weltbildes, das hinter dem verlockenden Schein einer lebendigen Bewegtheit gerade die konser-Ia!1Ve' die reaktionäre Statik wiederherstellt. Um diese Lage nur an einem chlusselproblem zu illustrieren: Bergson bekämpft das Mechanische, das ote an den Evolutionslehren vom Typus Spencers, zugleich jedoch lehnt «in der Biologie die Vererbbarkeit der erworbenen Eigenschaften ab.

Also gerade in der Frage, in der eine dialektische Weiterbildung Darwins not­wendig und möglich geworden ist (Mitschurin und Lyssenko haben dieses Problem auf der Grundlage des dialektischen Materialismus weitergeführt), nimmt Bergson Stellung gegen die wirkliche Entwicklungslehre. Damit fügt sich seine Philosophie vor allem in jene internationale Bewegung zur Destruktion der Objektivität der Naturwissenschaften ein, die von Mach und Avenarius begonnen, in der imperialistischen Periode sehr wichtige Ver­treter auch in Frankreich gefunden hat; es genügt auf Poincare' und Duhem hinzuweisen.

Die weltanschauüche Bedeutung dieser Tendenzen ist in Frankreich, wo die Traditionen der Aufklärung (und mit ihr die von Materialismus und Atheismus) viel tiefer wurzeln als in Deutschland, eine besonders große. Wie bereits gezeigt, geht aber Bergson im Schaffen dezidiert irrationali­stischer Mythen weit über diese Richtung hinaus, richtet er seine Angriffe weltanschaulich gegen Objektivität und Rationaütät, gegen die Herrschaft der Vernunft (ebenfalls eine altfranzösische Tradition), kämpft er für ein irra­tionalistisches Weltbild. Damit gibt er jenen Kritikern des kapitalistischen Lebens von rechts, von der Seite der Reaktion, die schon jahrzehntelang wirksam waren, ein philosophisches Fundament, den Schein einer Über­einstimmung mit den neuesten Ergebnissen der Naturwissenschaften. Wäh­rend die meisten bisherigen reaktionären Ideologen in Frankreich diese Attacke zumeist im Namen von Royalismus und Ultramontanismus führten und damit in ihrer Wirksamkeit auf von vornherein entschieden reaktionäre Kreise beschränkt waren, wendet sich die Bergsonsche Philosophie auch an jene Intelligenz, die mit der kapitalistisch korrupten Entwicklung der drit­ten Republik unzufrieden war, die ihren Weg auch nach links in der Rich­tung zum Sozialismus zu suchen begann. Wie jeder wichtige irrationali­stische Lebensphilosoph „vertieft" Bergson dieses Problem dahingehend, daß es sich um den allgemein weltanschaulichen Gegensatz des Toten und des Lebendigen handle, wobei diese Kreise ohne ausdrückliche Hinweise Bergsons leicht verstanden haben, daß unter dem Begriff des Toten die kapitalistische Demokratie zu verstehen sei, daß ihre Opposition gegen diese in Bergson eine philosophische Stütze erhielt. (Wie sich dies konkret auswirkt, werden wir an Sorel zu illustrieren versuchen.)

In dieser Hinsicht übt Bergson in Frankreich zur Krisenzeit am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts (Dreyfus-Affäre usw.) eine ähnliche Wirkung aus wie Nietzsche in Deutschland zur Zeit der Auf­hebung des Sozialistengesetzes. Der Unterschied liegt wieder darin, daß die irrationalistische Lebensphilosophie Nietzsches ein offener Aufruf zur reaktionären antidemokratischen, antisozialistischen imperialistischen Akti­vität war, während diese Ziele bei Bergson nicht offen ausgesprochen, nur allgemein weltanschaulich verkündet, sogar neutralistisch verhüllt wurden. Diese scheinbare politische Neutralität Bergsons wirkt aber nicht nur ver­wirrend und irreführend auf die sich in einer ideologischen Krise befind­liche Intelligenz, sondern verwirrt und führt irre gerade in reaktionärer Richtung. (Diese Wirkung Bergsons kann man am besten an" Peguys Ent­wicklung studieren.) Der von den Hitler-Faschisten ermordete kommuni­stische Widerstandskämpfer G. Politzer charakterisiert die reaktionäre Wesensart der Bergsonschen Abstraktheit sehr richtig: „Sich mit dem gan­zen Leben zu verschmelzen, mit dem ganzen Leben zu vibrieren, bedeutet, kalt und gleichgültig zu bleiben angesichts des Lebens: die echten Emo­tionen gehen im Milieu der universellen Sensibilität unter. Ein Pogrom spielt sich ebenso in der Dauer (dur£e) ab wie eine Revolution: indem man die Momente der Dauer in ihrem individuellen Kolorit zu erfassen sucht, indem man die Dynamik der Verwirrung ihrer Momente bewundert, ver­gißt man genau das, daß man es auf der einen Seite mit einem Pogrom, auf der anderen Seite mit einer Revolution zu tun hat." Hier ist ganz deutlich sichtbar, was diesen bedeutendsten Vertreter der westeuropäischen Ver­nunftfeindlichkeit mit der modernen deutschen Zentralgestalt dieser Rich­tung, mit Nietzsche, verbindet, und zugleich, wie weit jener hinter diesem — infolge der verschiedenen Entwicklung der beiden Länder — notwendig an Konkretheit und Entschiedenheit im Ausbau des reaktionär-irrationali­stischen Weltbildes zurückbleibt.

Dieser Unterschied zeigt sich auch im Verhältnis zu den philosophischen Traditionen. Während in Deutschland bereits der späte Schelling die Attacke gegen den von Descartes geschaffenen Rationalismus einleitet, welcher Angriff dann, wie wir an seiner Stelle sehen werden, in der Hitlerzeit seine höchste Form, die der Ablehnung der gesamten progressiven bürgerlichen Philosophien, der Kanonisierung aller ausgesprochenen Reaktionäre erhält, bewegen sich Bergson und der Bergsonismus auf der Linie einer zumeist unpolemischen Uminterpretation der Philosophen des Fortschritts. Frei­lich kritisiert Bergson die Positivisten, auch Kant, freilich geht er auf fran­zosische Mystiker wie Madame Guyon zurück; von einer entschiedenen Absage an die großen französischen Traditionen ist aber bei ihm und seinen Anhängern keine Rede. Auch im Laufe der späteren Entwicklung nicht; der dem Existentialismus sehr nahestehende J.Wahl versucht, den inneren Zusammenhang Bergsons mit Descartes noch so zu retten, daß er mit dessen cogito ein Bergsonsches in Parallele stellt: „Je dure dont je suis." Wir haben es hier mit der genauen Parallele zu jenen Deutschen zu tun, die wie Simmel Kant, wie Dilthey Hegel zu Irrationalisten uminterpretieren wollen.
lese Stufe wird in Frankreich auch von der existentialistischen Schule nicht überschritten; auch diese betont ihre kartesianische „Orthodoxie".

Die Konkretisierung dessen, wie weit Bergson im Ausbau des Irratio­nalismus geht, soll nun keineswegs besagen, daß es in Frankreich keine militante ideologische Reaktion gegeben hätte. Im Gegenteil. Die ganze imperialistische Periode ist von ihr erfüllt (man denke an Bourget, Barres, Maurras usw.). Nur ist in ihr der philosophische Irrationalismus bei weitem nicht in jenem Grade herrschend wie in Deutschland. In der Soziologe ist dagegen der offen reaktionäre Angriff noch schärfer als auf deutschem Gebiet. Die verspätete Entwicklung des deutschen Kapitalismus, die Her­stellung der nationalen Einheit in der reaktionär-junkerlichen Bismarckschen Form haben sogar zur Folge, daß die Soziologie als typische Wissenschaft der apologetischen Periode der Bourgeoisie sich in Deutschland nur schwer, nach Überwindung starker Hemmungen seitens der Ideologie der feudalen Überreste, durchsetzen konnte. Und es wird an seiner Stelle darauf hin­gewiesen werden, daß die deutsche Soziologie in ihrer Kritik der Demo­kratie vielfach die Ergebnisse des Westens aufarbeitet und den spezifisch deutschen Zielsetzungen entsprechend weiterbildet.

Wir können hier natürlich die westliche Soziologie nicht einmal an­deutend behandeln. Sie bildet weiter aus, was die Begründer dieser neuen bürgerlichen Wissenschaft erfunden haben: die sorgfältige Loslösung der gesellschaftlichen Phänomene von ihrer ökonomischen Basis, das Ver­weisen der ökonomischen Probleme in eine andere, von der Soziologie völlig abgetrennte Wissenschaft. Schon damit wird ein apologetischer Zweck erreicht. Die Entökonomisierung der Soziologie ist zugleich ein Enthistorisieren: die — apologetisch verzerrt dargestellten — Bestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft können nunmehr als „ewige" Kategorien einer jeden Gesellschaftlichkeit überhaupt behandelt werden. Und daß eine solche Methodologie den Zweck verfolgt, die Unmöglichkeit des Sozialis­mus, einer jeden Revolution direkt oder indirekt zu beweisen, bedarf eben­falls keines Kommentars. Aus der fast unübersichtlichen thematischen Fülle der westlichen Soziologie seien hier nur zwei für die philosophische Ent­wicklung besonders wichtige Motive hervorgehoben. So entsteht eine eigene Wissenschaft, die „Psychologie der Massen". Ihr hervorragender Ver­treter Le Bon stellt, kurz zusammengefaßt, die Psychologie der Masse als die des bloß Instinktiven, Barbarischen der Vernünftigkeit, der Zivilisiert-heit des Denkens der Einzelnen gegenüber. Je mehr Einfluß also die Massen auf das öffentliche Leben gewinnen, als desto gefährdeter müssen die Ergebnisse der Kulturentwicklung der Menschheit erscheinen. Wird hier zur Abwehr gegen Demokratie und Sozialismus im Namen der Wissen­schaft aufgerufen, so stimmt ein anderer führender Soziologe der imperia­listischen Periode, Pareto, in einen Trostgesang im Namen derselben Sozio­logie ein. Wenn, wieder in kürzester Zusammenfassung, die Geschichte
aller gesellschaftlichen Wandlungen nur das Ablösen der einen, alten Elite" durch eine neue ist, so sind wieder die „ewigen" Fundamente der kapitalistischen Gesellschaft soziologisch gerettet, so kann von einem grundlegend neuen Typus der Gesellschaft, von der sozialistischen, keine Rede sein. Der Deutsche R. Michels, ein späterer Anhänger Mussolinis, hat auch diese Prinzipien auf die Arbeiterbewegung angewandt und die Tat­sache der Entstehung einer Arbeiterbürokratie unter den Bedingungen des Imperialismus, von denen als Bedingungen er natürlich schweigt, dazu benutzt, die Verbürgerüchung einer jeden Arbeiterbewegung als sozio­logisch gesetzmäßig nachzuweisen.

Eine besondere Stellung in der westlichen Philosophie und Soziologie nimmt G. Sorel ein. Lenin hat ihn gelegentlich „den bekannten Konfusions­rat" genannt. Mit vollem Recht. Denn es mischen sich bei ihm die ein­ander schroffst widersprechenden Voraussetzungen und Folgerungen. In seinen gedanklichen Überzeugungen ist Sorel ein rein bürgerlicher Denker, ein typischer kleinbürgerlicher Intellektueller. Er akzeptiert sowohl öko­nomisch wie philosophisch die Marxrevision Bernsteins. Er lehnt mit Bern­stein die innere Dialektik der ökonomischen Entwicklung, insbesondere die des Kapitalismus, als notwendig zur proletarischen Revolution führend ab; dementsprechend verwirft er auch, wieder Bernstein folgend, die Dialektik als philosophische Methode. Diese wird bei ihm durch den Prag­matismus von James und vor allem durch die Bergsonsche Intuition ersetzt. Er übernimmt aus der bürgerlichen Soziologie seiner Zeit den Gedanken von der Vernunftwidrigkeit der Bewegung der Massen und ebenfalls die Elitekonzeption Paretos. Er betrachtet den Fortschritt als eine typisch bürgerliche Illusion, wobei er sich meistens die Argumentationen der Ideo­logen der Reaktion zu eigen macht.

Aus allen diesen bürgerlich-idealistisch reaktionären Voraussetzungen wird nun bei Sorel mit einem echt irrationalistischen gedanklichen salto mortale eine Theorie der „reinen" proletarischen Revolution entwickelt, der Mythos vom Generalstreik, der Mythos von der proletarischen An­wendung der Gewalt. Das ist das typische Bild des kleinbürgerlichen Rebellentums: Sorel haßt und verachtet die Kultur der Bourgeoisie, kann sich jedoch an keinem einzigen konkreten Punkt von ihrem, sein ganzes Denken bestimmenden Einfluß gedanklich loslösen. Wenn also sein Haß UQd seine Verachtung nach Ausdruck ringen, so kann das Resultat nur ein irrationalistischer Sprung ins total Unbekannte, ins reine Nichts sein. Das, was Sorel proletarisch nennt, ist nichts weiter als eine abstrakte Verneinung aller Bürgerlichkeit ohne irgendeinen konkreten Inhalt. Denn sobald er zu en anfängt, denkt er in bürgerlichen Inhalten, in bürgerlichen Formen. ie Bergsonsche Intuition, der Irrationalismus der duree reelle erhält hieralso den Akzent einer Utopie der vollendeten Verzweiflung. Gerade in der Konzeption des Sorelschen Mythos kommt diese abstrakte Inhaltlosigkeit klar zum Ausdruck; Sorel lehnt ja jede Politik von vornherein ab, ist den realen konkreten Zielen und Mitteln der einzelnen Streiks gegenüber völlig gleichgültig: die irrationalistische Intuition, der von ihr geschaffene inhalts­lose Mythos steht ganz abseits von der realen gesellschaftlichen Wirklich­keit, ist nichts weiter als ein ekstatischer Sprung ins Nichts.

Gerade darin steckt aber der Grund seiner faszinierenden Wirkung auf eine bestimmte Schicht der Intelligenz im Imperialismus; gerade deshalb kann dieser Irrationaüsmus die Unzufriedenheit mit der kapitalistischen Gesellschaft von jedem wirklichen Kampf gegen sie pathetisch wegsteigern. War auch der Royalismus bei Sorel selbst nur eine Episode, so ist es schon mehr als etwas Episodisches, wenn er sich in der großen revolutionären Krise am Ende des ersten Weltkrieges simultan für Lenin, Mussolini und Ebert begeistern konnte. Die gleichgültige Richtungslosigkeit, die Politzer Bergson vorwirft, erscheint bei Sorel formell als pathetische Aktivität, jedoch ohne ihren Charakter als Richtungslosigkeit überwinden zu können. Und es ist sicher weit mehr als ein Zufall, daß Sorels so völlig inhalts­entleerte Theorie des Mythos für Mussolini, wenigstens zeitweiüg, wichtig wurde. Natürüch hat sich damit die spontan-irrationalistische Konfusion Sorels in eine bewußte Demagogie verwandelt. Die Verwandlung konnte aber — und dies ist das Wichtige — ohne irgendeinen wesentlichen Umbau von Inhalt und Methode vollzogen werden. Der Mythos von Sorel ist so ausschließlich gefühlsbetont, so gehaltlos, daß er ohne Mühe in den dema­gogisch verwendeten Mythos des Faschismus übergehen konnte. Wenn Mussolini sagt: „Wir haben unseren Mythos geschaffen. Der Mythos ist ein Glaube, eine Passion. Es ist nicht notwendig, daß er eine Wirklichkeit sei. Er ist durch die Tatsache real, daß er ein Ansporn ist, ein Glaube, daß er Mut bedeutet", so ist dies der reine Sorel, und die Erkenntnistheorie des Pragmatismus und der Bergsonschen Intuition ist darin zum Vehikel der Ideologie des Faschismus geworden.

Freilich eines Faschismus, der bei allen seinen Greueln nie die Welt­bedeutung jenes Schreckens erreichte, die der Hitlerismus für die ganze Welt hatte. (Es ist z. B. charakteristisch, daß der Horthy-Faschismus in Ungarn, der in sehr nahen politischen Beziehungen zum italienischen stand, seine Ideologie doch aus dem damals noch vorfaschistischen Deutschland holte.) Freilich ist auch hier der ideologische Zusammenhang Mussolinis mit Bergson, James und Sorel viel magerer und formeller als der zwischen Hitler und dem deutschen Irrationalismus. Mag man aber alle diese Vor­behalte machen, so beleuchtet doch schon diese einzige Tatsache das, was wir hier und später immer wieder beweisen wollen: es gibt keine „un­schuldige" philosophische Stellungnahme. Ob die Ethik und Geschichts­philosophie bei Bergson selbst nicht bis zu faschistischen Konsequenzen führt, ist neben der Tatsache, daß Mussolini aus seiner Philosophie ohne Fälschungen eine Ideologie des Faschismus herausentwickeln konnte, in bezug auf die Verantwortung vor der Menschheit völlig irrelevant; es kommt ebensowenig in Betracht, wie es keine Entlastung für Spengler oder Stefan George als ideologischer Vorläufer Hitlers bedeutet, daß der verwirklichte „Nationalsozialismus" ihrem persönlichen Geschmack nicht ganz entsprach. Die bloße Tatsache der hier angedeuteten Zusammenhänge muß ein gewichtiges discite moniti (lernt, die ihr gewarnt seid) für jeden ehrlichen Intellektuellen des Westens sein. Sie zeigt, daß die Möglichkeit einer faschistischen, einer aggressiv reaktionären Ideologie in jeder philoso­phischen Regung des Irrationalismus sachlich enthalten ist. Wann, wo und wie aus einer solchen — unschuldig scheinenden — Möglichkeit eine fürchterliche faschistische Wirklichkeit wird: das entscheidet sich nicht philosophisch, nicht auf dem Gebiet der Philosophie. Aber die Einsicht in diesen Zusammenhang sollte die. Verantwortlichkeit der Denkenden nicht abstumpfen, sondern steigern. Es wäre ein gefährlicher Selbstbetrug, eine pure Heuchelei, sich in Unschuld die Hände zu waschen und — im Namen von Croce oder James — auf die Entwicklung des deutschen Irrationalismus verachtungsvoll herabzublicken.

Und endlich: unsere Betrachtungen haben, so hoffen wir, gezeigt, daß trotz der geistigen Verbindung Bergson-Sorel-Mussolini die führende Rolle des deutschen Irrationalismus unvermindert bestehen bleibt. Das Deutsch­land des 19. und 20. Jahrhunderts bleibt das „klassische" Land des Irratio­nalismus, der Boden, wo dieser sich am vielseitigsten und umfassendsten entfaltet hat und darum in der lehrreichsten Weise studiert werden kann, so wie Marx den Kapitalismus in England untersucht hat.

Wir glauben: diese Tatsache gehört zu den schmachvollsten Seiten der deutschen Geschichte. Sie muß eben deshalb eingehend studiert werden, damit die Deutschen sie radikal überwinden und ihr Fortleben oder ihre Wiederkehr energisch verhindern können. Das Volk von Dürer und Thomas Münzer, von Goethe und Karl Marx hat so viel Großes in seiner Ver­gangenheit, hat so große Perspektiven für seine Zukunft, daß es keinen Grund hat, vor einer schonungslosen Abrechnung mit einer gefährlichen Vergangenheit und ihrem schädlichen, gefahrdrohenden Erbe zurück­zuschrecken. In diesem doppelten — deutschen wie internationalen — Sinn will dieses Buch eine Warnung, eine Lehre für jeden ehrlichen Intellek­tuellen aussprechen.
 

Budapest, November 1952

Editorische Hinweise

Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft,  Berlin DDR, 3. Auflage 1984, S.5-29, OCR-scan red. trend