Dieses Buch
erhebt keinen Augenblick den Anspruch, eine Geschichte der
reaktionären Philosophie oder gar ein Lehrbuch ihrer Entwicklung
zu sein. Der Verfasser weiß vor allem, daß der Irrationalismus,
dessen Emporwachsen, dessen Ausbreitung zur herrschenden
Richtung der bürgerlichen Philosophie hier dargestellt wird, nur
eine der wichtigen Tendenzen in der reaktionär-bürgerlichen
Philosophie ist; obwohl es kaum eine reaktionäre Philosophie
ohne einen bestimmten irrationalistischen Einschlag gibt, ist
der Umkreis der reaktionären bürgerlichen Philosophie doch viel
breiter als der der irrationalistischen Philosophie im
eigentlichen, strengeren Sinn.Aber selbst diese Einschränkung
reicht nicht aus, um unsere Aufgabe genau zu umschreiben. Auch
in diesem enger gestellten Themenkreis handelt es sich nicht um
eine ausführliche, umfassende und Komplettheit anstrebende
Geschichte des Irrationalismus, sondern bloß um das
Herausarbeiten der Hauptlinie seiner Entwicklung, um die Analyse
seiner wichtigsten und typischsten Etappen und Repräsentanten.
Diese Hauptlinie soll ins Licht gerückt werden als die
bezeichnendste und wirkungsvollste Art der reaktionären Antwort
auf die großen Zeitprobleme der vergangenen letzten anderthalb
Jahrhunderte.
Die Geschichte der Philosophie ist, ebenso wie die der Kunst
und der Literatur, nie — wie ihre bürgerlichen Historiker meinen
— einfach eine Geschichte philosophischer Ideen oder gar
Persönlichkeiten. Die Probleme und Lösungsrichtungen für die
Philosophie werden von der Entwicklung der Produktivkräfte, von
der gesellschaftlichen Entwicklung, von der Entfaltung der
Klassenkämpfe gestellt. Die entscheidenden Grundlinien einer
jeweiligen Philosophie können unmöglich anders als auf Grund der
Erkenntnis dieser primären bewegenden Kräfte aufgedeckt werden.
Wird der Versuch gemacht, die philosophischen
Problemzusammenhänge von einer sogenannten immanenten
Entwicklung der Philosophie aus zu stellen und zu lösen, so
entsteht notwendig eine idealistische Verzerrung der wichtigsten
Zusammenhänge, selbst dann, wenn bei den Historikern das
notwendige Wissen, der subjektive gute Wille zur Objektivität
vorhanden ist. Selbstverständlich ist die sogenannte
geisteswissenschaftliche Einstellung diesem Standpunkt gegenüber
kein Fortschritt, sondern ein Schritt nach
rückwärts: der verzerrende ideologische Ausgangspunkt bleibt,
nur ist er noch verschwommener, idealistisch verzerrender; man
vergleiche nur Dilthey und seine Schule mit der philosophischen
Historiographie der Hegelianer, etwa mit Erdmann.
Daraus folgt keineswegs, wie die Vulgarisatoren meinen, eine
Vernachlässigung der rein philosophischen Probleme. Im
Gegenteil. Erst in einem solchen Zusammenhang kann der
Unterschied zwischen wichtigen Fragen von dauernder Bedeutung
und unwesentlichen, professoralen Nuancen-differenzen klar
hervortreten. Gerade der Weg vom sozialen Leben ins soziale
Leben gibt den philosophischen Gedanken ihre eigentliche
Spannweite, bestimmt ihre Tiefe, auch im eng philosophischen
Sinne. Dabei ist es eine durchaus sekundäre Frage, wie weit sich
die einzelnen Denker dieser ihrer Position, dieser ihrer
gesellschaftlich-geschichtlichen Funktion be-wußt sind. Auch in
der Philosophie wird nicht über Gesinnungen, sondern über Taten
— über objektivierten Gedankenausdruck, über dessen historisch
notwendige Wirksamkeit — abgestimmt. Jeder Denker ist in diesem
Sinn für den objektiven Gehalt seines Philosophierens vor der
Geschichte verantwortlich.
So ergibt sich für uns als Stoff: der Weg Deutschlands zu
Hitler auf dem Gebiet der Philosophie. Das heißt, es soll
gezeigt werden, wie dieser reale Gang sich in der Philosophie
widerspiegelt, wie philosophische Formulierungen als
gedanklicher Widerschein der realen Entwicklung Deutschlands zu
Hitler diesen Gang beschleunigen halfen. Daß wir uns also auf
die Darstellung dieses abstraktesten Teils der Entwicklung
beschränken, beinhaltet keineswegs ein Überschätzen der
Bedeutung der Philosophie in der bewegten Totalität der realen
Entwicklung. Es ist aber, so glauben wir, nicht überflüssig
hinzuzufügen, daß ein Unterschätzen der weltanschaulichen
Momente zumindest ebenso gefährlich, ebensowenig der
Wirklichkeit entsprechend wäre.
Diese Gesichtspunkte bestimmen unsere Behandlungsweise des
Stoffs. Primär sind, vor allem für die Auswahl: soziale Genesis
und Funktion. Unsere Aufgabe ist es, alle gedanklichen
Vorarbeiten zur „nationalsozialistischen Weltanschauung" zu
entlarven, mögen sie — scheinbar — noch so weit vom Hitlerismus
abliegen, mögen sie — subjektiv— noch so wenig derartige
Intentionen haben. Eine der Grundthesen dieses Buches ist: es
gibt keine „unschuldige" Weltanschauung. In keiner Beziehung
gibt es eine solche, aber insbesondere nicht in bezug auf unser
Problem, und zwar gerade im philosophischen Sinn: die
Stellungnahme pro oder contra Vernunft entscheidet zugleich über
das Wesen einer Philosophie als Philosophie, über ihre Rolle in
der gesellschaftlichen Entwicklung. Schon deshalb, weil die
Vernunft selbst nicht etwas über der gesellschaftlichen
Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales sein kann, sondern
stets die konkrete Vernünftigkeit (oder Unvernünftigkeit) einer
gesellschaftlichen Lage, einer Entwicklungsrichtung
widerspiegelt, auf den Begriff bringt und diese damit fördert
oder hemmt. Diese gesellschaftliche Bestimmtheit der Inhalte und
Formen der Vernunft beinhaltet jedoch keinen historischen
Relativismus. Bei aller gesellschaftlich-geschichtlichen
Bedingtheit dieser Inhalte und Formen ist die
Fortschrittlichkeit einer jeden Lage oder Entwicklungstendenz
etwas Objektives, unabhängig vom menschlichen Be-wußtsein
Wirksames. Ob nun dieses sich nach vorwärts Bewegende als
Vernunft oder Unvernunft aufgefaßt, als dieses oder jenes bejaht
oder verworfen wird, ist gerade ein entscheidend wesentliches
Moment der Par-teiung, des Klassenkampfes in der Philosophie.
Diese Genesis und Funktion aufzudecken, ist von größter
Wichtigkeit. Aber in sich selbst noch keineswegs ausreichend.
Die Objektivität des Fortschritts reicht freilich dazu aus, eine
einzelne Erscheinung, eine Richtung als reaktionäre richtig zu
stigmatisieren. Eine wirkliche marxistischleninistische Kritik
der reaktionären Philosophie darf aber hier nicht stehenbleiben.
Sie muß vielmehr die philosophische Falschheit, die Verzerrung
der Grundfragen der Philosophie, das Zunichte machen ihrer
Errungenschaften usw. als notwendige, sachlich-philosophische
Folgen solcher Stellungnahmen konkret, im philosophischen
Material selbst aufzeigen. Insofern ist die immanente Kritik ein
berechtigtes, ja unentbehrliches Moment für die Darstellung und
Entlarvung reaktionärer Tendenzen in der Philosophie. Die
Klassiker des Marxismus haben sie auch stets verwendet, so
Engels im „Anti-Dühring", so Lenin im „Empiriokritizismus". Die
Ablehnung der immanenten Kritik als Moment einer
Gesamtdarstellung, die zugleich soziale Genesis und Funktion,
Klassencharakteristik, gesellschaftliche Entlarvung usw. umfaßt,
muß notwendig zu einem Sektierertum in der Philosophie führen:
zu einer Auffassung, als ob alles, was für einen bewußten
Marxisten-Leninisten sich von selbst versteht, auch für seine
Leser ohne Beweis einleuchtend wäre. Was Lenin über das
politische Verhalten der Kommunisten gesagt hat: „Aber es kommt
gerade darauf an, daß man das, was für uns überlebt ist,
nicht als überlebt für die Klasse, als überlebt
für die Massen ansieht", gilt vollinhaltlich auch für die
marxistische Darstellung der Philosophie. Der Gegensatz der
verschiedenen bürgerlichen Ideologien zu den Errungenschaften
des dialektischen und historischen Materialismus ist die
selbstverständliche Grundlage unserer Behandlung und Kritik.
Aber auch der sachliche, philosophische Nachweis der inneren
Inkohärenz, Widersprüchlichkeit usw. der einzelnen Philosophien
ist unumgänglich, wenn man ihren reaktionären Charakter wirklich
konkret zur Evidenz bringen will.
Diese allgemeine Wahrheit gilt besonders für die Geschichte
des modernen Irrationalismus. Ist dieser doch, wie unser Buch es
zu zeigen unternimmt, in ständigem Kampf mit dem
Materialismus und der dialektischen Methode entstanden und
wirksam geworden. Auch darin ist dieser philosophische Streit
eine Widerspiegelung der Klassenkämpfe. Denn es ist sicher kein
Zufall, daß die letzte und entwickeltste Form der idealistischen
Dialektik im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und
insbesondere mit ihren sozialen Konsequenzen zur Entfaltung kam.
Der historische Charakter dieser Dialektik, deren große
Vorläufer Vico und Herder waren, erhält erst nach der
Französischen Revolution einen methodologisch bewußten und
logisch durchgearbeiteten Ausdruck, vor allem in der Hegel-schen
Dialektik. Es handelt sich dabei um die Notwendigkeit einer
historischen Verteidigung und Ausbildung des
Fortschrittgedankens, die über die Konzeption der Aufklärung
weit hinausgeht. (Damit sind natürlich die Motive, die diese
idealistische Dialektik gefördert haben, bei weitem nicht
erschöpft: ich verweise nur auf die neuen Tendenzen in den
Naturwissenschaften, die Engels im „Feuerbach" aufdeckt.) Die
erste wichtige Periode des modernen Irrationalismus entsteht
dementsprechend im Kampf gegen den idealistischer)
dialektisch-historischen Begriff des Fortschritts; es ist der
Weg von Schelling bis Kierkegaard, zugleich der Weg von einer
feudalen Reaktion auf die Französische Revolution zur
bürgerlichen Fortschrittsfeindlichkeit.
Mit der Junischlacht des Pariser Proletariats und
insbesondere mit der Pariser Kommune ändert sich die Lage ganz
radikal: von nun an ist die Weltanschauung des Proletariats, der
dialektische und historische Materialismus, jener Gegner, dessen
Wesensart die Weiterentwicklung des Irrationalismus bestimmt.
Die neue Periode hat in Nietzsche ihren ersten und wichtigsten
Repräsentanten. Beide Etappen des Irrationalismus bekämpfen den
höchsten philosophischen Fortschrittsbegriff ihrer Zeit. Es
ergibt aber — auch rein philosophisch — einen qualitativen
Unterschied, ob der Gegner eine bürgerlich-idealistische
Dialektik ist oder die materialistische Dialektik, die
proletarische Weltanschauung, der Sozialismus. In der ersten
Etappe ist eine relativ berechtigte, wirkliche Mängel und
Schranken der idealistischen Dialektik aufzeigende, auf
Sachkenntnis beruhende Kritik noch möglich. In der zweiten sehen
wir dagegen, claß die bürgerlichen Philosophen bereits unfähig
wurden und gar nicht gewillt sind, den Gegner wirklich zu
studieren, den Versuch zu machen, ihn ernsthaft zu widerlegen.
Dies ist bereits bei Nietzsche so, und je entschiedener der neue
Gegner hervortritt — insbesondere seit dem Großen Oktober 1917
—, ein desto niedrigeres Niveau erhalten der Wille und die
Fähigkeit, gegen den wirklichen und richtig erkannten
Widersacher mit anständigen gedanklichen Waffen zu kämpfen,
desto stärker treten Verdrehung, Verleumdung und Demagogie an
die Stelle der ehrlichen wissenschaftlichen Polemik. Auch darin
werden die Widerspiegelungen der Verschärfung des Klassenkampfes
klar sichtbar. Die Feststellung von Marx nach der Revolution von
1848: „Les capacites de la bourgeoisie s'en vont" bestätigt sich
von Etappe zu Etappe immer deutlicher. Und zwar nicht bloß in
der eben erwähnten zentralen Polemik, sondern auch im ganzen
Aufbau, in der gesamten Durcharbeitung der einzelnen
irrationalistischen Philosophien. Das apologetische Gift dringt
aus der Zentralfrage in die Peripherie ein: Willkürlichkeit,
Widersprüchlichkeit, Unfundiertheit der Grundlagen, sophistische
Argumentationen usw. charakterisieren immer schärfer die später
auftretenden irrationalistischen Philosophien. Das Sinken des
philosophischen Niveaus ist also ein Wesenszeichen der
Entwicklung des Irrationalismus. In der „nationalsozialistischen
Weltanschauung" offenbart sich diese Tendenz am plastischsten
und evidentesten.
Bei alledem ist jedoch die Einheit der Entwicklung des
Irrationalismus hervorzuheben. Denn das Sinken des
philosophischen Niveaus als bloße Feststellung reicht keineswegs
zur Charakteristik der Geschichte des Irrationalismus aus.
Solche Feststellungen wurden wiederholt im bürgerlichen —
angeblichen — Kampf gegen Hitler gemacht. Ihr Zweck war jedoch
sehr oft ein konterrevolutionärer, ja sogar der einer Apologie
des Faschismus selbst: die Preisgabe Hitlers und Rosenbergs, um
„das Wesen", die reaktionärste Form des deutschen
Monopolkapitalismus, die Zukunft eines neuen, aggressiven
deutschen Imperialismus ideologisch zu retten. Der Rückzug vom
„niveaulosen" Hitler auf die „hochwertigen" Spengler, Heidegger
oder Nietzsche ist also, sowohl philosophisch als auch
politisch, ein strategischer Rückzug, eine Loslösung vom
verfolgenden Feinde, um die Reihen der Reaktion zu ordnen, um —
unter günstigeren Bedingungen — eine erneute, methodologisch
„verbesserte" Offensive der äußersten Reaktion zu entfachen.
Diesen Tendenzen gegenüber, deren Anfänge weit zurückgreifen,
ist zweierlei zu betonen. Erstens, daß das Sinken des
philosophischen Niveaus eine gesellschaftlich bedingte
notwendige Erscheinung ist. Nicht die Minderwertigkeit der
philosophischen Persönlichkeit Rosenbergs, im Vergleich etwa zu
Nietzsche, ist das Ausschlaggebende. Im Gegenteil: gerade wegen
seiner moralischen und intellektuellen Minderwertigkeit ist
Rosenberg zum geeigneten Ideologen des Nationalsozialismus
geworden. Und falls der oben angedeutete strategische Rückzug
auf Nietzsche oder Spengler wieder zur philosophischen Offensive
erwächst, muß sein Protagonist — historisch notwendig —
philosophisch ein noch niedrigeres Niveau repräsentieren als
Rosenberg: ganz unabhängig von seinen persönlichen Fähig
keiten,
Kenntnissen usw. Denn das philosophische Niveau eines Ideologen
wird letzten Endes davon bestimmt, wie tief er in die Fragen
seiner Zeit einzudringen, wie er diese auf die höchste Höhe der
philosophischen Abstraktion zu erheben imstande ist, wie weit
der Standpunkt jener Klasse, auf deren Boden er steht, es
gestattet, in diesen Fragen in die Tiefe und bis ins Letzte zu
gehen. (Man vergesse nie, daß Descartes' „cogito" oder Spinozas
„deus sive natura" in ihrer Zeit höchst aktuelle und kühn
parteiliche Fragestellungen und Antworten waren.) Die „geniale"
Willkürlichkeit und Oberflächlichkeit Nietzsches ist in ihrer
Minderwertigkeit der klassischen Philosophie gegenüber ebenso
gesellschaftlich bedingt, wie seine Höherwertigkeit den noch
viel leichtfertigeren und leereren Konstruktionen Spenglers oder
gar der hohlen Demagogie Rosenbergs gegenüber. Wenn die
Beurteilung des modernen Irrationalismus auf die Ebene der
abstrakt isolierten geistigen Niveauunterschiede verschoben
wird, will man vor den politisch-gesellschaftlichen Wesen und
Folgen seiner letzten Konsequenzen ausweichen. Abgesehen von dem
politischen Charakter eines jeden solchen Versuchs, muß man auch
seine, davon unabtrennbare Vergeblichkeit — gerade im
philosophischen Sinne — energisch hervorheben. (Wie sich dies in
der Nachkriegszeit konkret gestaltet, darauf kommen wir im
Nachwort zu sprechen.)
Diese Feststellung hängt ganz eng mit unserer zweiten
Bemerkung zusammen. Wir werden in diesem Buch ausführlich
nachzuweisen versuchen, daß die Entwicklung des Irrationalismus
auf keiner Etappe eine „immanente" Wesensart zeigt, als ob etwa
aus einer Problemstellung oder -lösung die andere, von der
inneren Dialektik der philosophischen Gedankenbewegung
getrieben, entspringen würde. Wir wollen im Gegenteil zeigen,
daß die verschiedenen Etappen des Irrationalismus als
reaktionäre Antworten auf Probleme des Klassenkampfes entstanden
sind. Inhalt, Form, Methode, Ton usw. seines Reagierens auf den
Fortschritt in der Gesellschaft werden also nicht von einer
solchen, ihm eigenen inneren Dialektik bestimmt, sondern
vielmehr vom Gegner, von den Kampfbedingungen, die der
reaktionären Bourgeoisie aufgezwungen werden. Dies muß als
Grundprinzip der Entwicklung des Irrationalismus festgehalten
werden.
Das bedeutet jedoch nicht, daß der Irrationalismus —
innerhalb des so bestimmten gesellschaftlichen Rahmens — keine
ideelle Einheit zeigen würde. Im Gegenteil. Gerade aus diesem
seinem Charakter folgt, daß die von ihm aufgeworfenen
inhaltlichen und methodologischen Probleme stark zusammenhängen,
eine auffallende (und enge) Einheit offenbaren. Herab-' Setzung
von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der
Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des
gesellschaftlichgeschichtlichen Fortschritts, Schaffen von
Mythen usw. sind Motive, die wir bei so gut wie jedem
Irrationalisten wiederfinden. Die philosophische Reaktion der
Vertreter der feudalen Überreste und der Bourgeoisie auf den
gesellschaftlichen Fortschritt mag unter bestimmten Umständen,
bei einzelnen persönlich begabten Vertretern dieser Richtung,
eine geistvolle, glänzende Form erhalten, der in der ganzen
Entwicklung durchlaufende philosophische Gehalt ist jedoch
äußerst monoton und dürftig. Und da, wie oben aufgezeigt, der
geistige Spielraum der Polemik, die Möglichkeit, wenigstens
gewisse Widerspiegelungen der Wirklichkeit, wenn auch noch so
verzerrt, ins Gedankensystem aufzunehmen, sich mit
gesellschaftlicher Notwendigkeit ununterbrochen verengt, ist das
Sinken des philosophischen Niveaus bei Gleichbleiben bestimmter
entscheidender gedanklicher Motive unvermeidlich. Das Festhalten
an diesen durchlaufenden Gedankenbestimmungen ist die
Widerspiegelung der einheitlich reaktionären gesellschaftlichen
Grundlagen des Irrationalismus, soviel qualitative Veränderungen
auch in der Entwicklung von Schelling bis Hitler festgestellt
werden können und müssen. Das Münden der deutschen
irrationalistischen Philosophie in den Hitlerismus ist also nur
insofern eine Notwendigkeit, als die konkreten Klassenkämpfe —
freilich nicht ohne Hilfe dieser ideologischen Entwicklung — ein
solches Resultat hervorgebracht haben. Vom Standpunkt der
Entfaltung des Irrationalismus sind deshalb die Ergebnisse
dieser Klassenkämpfe unveränderliche Tatsachen, die eine
entsprechende philosophische Widerspiegelung erhalten, auf die
der Irrationalismus so oder so reagiert, sie sind aber — von
hieraus gesehen — eben unveränderliche Tatsachen. Damit ist
natürlich keineswegs behauptet, daß sie — objektiv-historisch
angesehen — fatale Notwendigkeiten gewesen wären.
Will man also die Entwicklung der deutschen
irrationalistischen Philosophie richtig verstehen, so muß man
diese Momente stets in ihrer Zusammengehörigkeit festhalten: die
Abhängigkeit der Entwicklung des Irrationalismus von den
entscheidenden Klassenkämpfen in Deutschland und in der ganzen
Welt, was natürlich die Ablehnung einer „immanenten" Entwicklung
in sich schließt, die Einheitlichkeit der Inhalte und Methoden
bei einer ununterbrochenen Verengung des Spielraums für eine
wirkliche philosophische Entfaltung, was die Steigerung der
apologetischen und demagogischen Tendenzen befördern muß, und
endlich als Folge: das notwendige, ständige, rapide Sinken des
philosophischen Niveaus. Nur so wird es verständlich, wie bei
Hitler die demagogische Popularisierung aller Gedankenmotive der
entschiedenen philosophischen Reaktion zustande kam, die
ideologische und politische „Krönung" der Entwicklung des
Irrationalismus.
Die Zielsetzung, diese Motive und Tendenzen der Entwicklung
des Irrationalismus in Deutschland klar herauszuarbeiten,
bestimmt die Darstellungsweise unserer Arbeit. Es kann sich deshalb nur darum
handeln: die wichtigsten Knotenpunkte durch eingehende Analyse
ins richtige Licht zu rücken; nicht aber um eine ausgeführte
Geschichte des Irrationalismus oder gar der reaktionären
Philosophie überhaupt, die mit dem Anspruch auftreten würde,
alle Gestalten und Tendenzen zu behandeln, oder auch nur
aufzuzählen. Auf Vollständigkeit wird also hier bewußt
verzichtet. Wenn etwa vom romantischen Irrationalismus am Anfang
des 19. Jahrhunderts die Rede ist, so werden seine wichtigsten
Bestimmungen am Hauptvertreter dieser Richtung, an Schelling,
aufgezeigt; Friedrich Schlegel, Baader, Görres usw. werden kaum
oder gar nicht erwähnt; es fehlt auch eine Behandlung
Schleiermachers, dessen spezifische Tendenzen erst durch
Kierkegaard eine breite reaktionäre Bedeutung erlangten; es
fehlt der Irrationalismus der zweiten Periode Fichtes, der nur
in der Rickertschule, besonders bei Lask eine — für die
Gesamtentwicklung episodische — Wirksamkeit erhielt; es fehlen
Weiße und der jüngere Fichte usw. usw. So gerät in der
imperialistischen Periode Husserl auf den zweiten Plan, da die
irrationalistischen Tendenzen, die seiner philosophischen
Methode von Anfang an innewohnten, erst durch Scheler und
insbesondere durch Heidegger wirklich explizit wurden; so treten
neben Spengler Leopold Ziegler und Keyserling in den
Hintergrund, so neben Klages Theodor Lessing, so auch neben
Heidegger Jaspers usw. usw.
Dazu kommt noch, daß, da wir den Irrationalismus als die
entscheidende Hauptströmung der reaktionären Philosophie des 19.
und 20. Jahrhunderts auffassen, wichtige und einflußreiche,
entschieden reaktionäre' Denker, bei denen der Irrationalismus
nicht den Mittelpunkt ihrer Gedankenwelt ausmacht, ebenfalls
unbehandelt bleiben. So der Eklektiker Eduard von Hartmann neben
dem entschiedenen Irrationalisten Nietzsche; so, ebenfalls in
Relation zu Nietzsche, Lagarde; so in der unmittelbaren
Vorbereitungszeit des deutschen Faschismus Moeller van den Brück
usw. usw. Wir hoffen, daß durch diese stoffliche Beschränkung
die Hauptlinie der Entwicklung klarer zum Ausdruck kommt.
Künftige Historiker der deutschen Philosophie werden, so hoffen
wir, die hier dargestellte Generallinie der reaktionären
Philosophie in Deutschland vielfach ergänzen und
vervollständigen.
Zielsetzung und Stoff bedingen weiter, daß jener Strom, der
von Schelling zu Hitler geht, in unserer Darstellung nicht in
jener Einheitlichkeit zum Ausdruck kommen kann, die er in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit hatte. Die Kapitel
II—IV versuchen
diese Entwicklung auf dem Gebiet der irrationalistischen
Philosophie im engeren Sinne klarzulegen. Das oben angedeutete
Programm: die Entwicklungslinie von Schelling bis Hitler gelangt
hier zur Darstellung. Damit kann aber die Aufgabe noch nicht als
gelöst betrachtet werden. Erstens sinrl wir noch verpflichtet,
wenigstens an einem wichtigen Beispiel zu zeigen, wie der
Irrationalismus als reaktionäre Haupttendenz der Epoche die
gesamte bürgerliche Philosophie sich unterzuordnen vermag. Dies
wird im fünften Kapitel am imperialistischen Neuhegelianismus
ausführlich dargelegt, auf die wichtigsten Wegbereiter wird nur
kurz hingewiesen. Zweitens stellt das sechste Kapitel dieselbe
Entwicklung, die philosophisch bereits analysiert wurde, auf dem
Gebiet der deutschen Soziologie dar. Wir glauben, daß die
Klarheit und Übersichtlichkeit des Gesamtzusammenhanges dadurch,
daß ein so wichtiges Moment gesondert und nicht in die
Philosophie aufgelöst und zerstreut behandelt wird, nur gewinnen
kann. Und endlich werden drittens die historischen Vorläufer der
Rassentheorie ebenfalls gesondert im siebten Kapitel
dargestellt. Die zentrale Bedeutung, die ein so mittelmäßiger
Eklektiker wie H. St. Chamberlain im deutschen Faschismus
erlangte, kann nur so ins rechte Licht gerückt werden: er ist
es, der den philosophischen Irrationalismus der
imperialistischen Periode, die Lebensphilosophie, mit der
Rassentheorie und mit den Ergebnissen des sozialen Darwinismus
„synthetisiert". So wird er zum unmittelbaren Vorläufer von
Hitler und Rosenberg, zum philosophischen „Klassiker" des
Nationalsozialismus. Es ist klar, daß die zusammenfassende
Behandlung der Hitlerzeit gerade in diesem Zusammenhang richtig
zur Geltung gelangen kann, wobei natürlich die Ergebnisse des
vierten und sechsten Kapitels stets mit in Betracht gezogen
werden müssen. Selbstverständlich hat diese Darstellungsweise
manchen Nachteil; Simmel ist z. B. ein einflußreicher Soziologe
und wird doch wesentlich bei der imperialistischen
Lebensphilosophie analysiert; zwischen Rickert und Max Weber,
zwischen Dilthey und Freyer, zwischen Heidegger und C. Schmitt
usw. bestehen intime Zusammenhänge, sie müssen aber trotzdem
räumlich abgetrennt voneinander behandelt werden. Dies sind
unvermeidliche Darstellungsmängel, auf welche schon hier
hingewiesen werden muß. Wir hoffen jedoch, daß die
Übersichtlichkeit der Hauptlinie die negativen Momente
überwiegen wird.
Auf historische Vorarbeiten kann sich unsere Arbeit kaum
stützen. Eine marxistische Geschichte der Philosophie gibt es
noch nicht, und die bürgerlichen Darstellungen sind vom
Standpunkt unserer Fragestellungen aus völlig unbrauchbar. Das
ist natürlich kein Zufall. Die bürgerlichen Historiker der
deutschen Philosophie ignorieren oder verkümmern die Rolle von
Marx und die des Marxismus. Deshalb können sie weder zur großen
Krise der deutschen Philosophie in den dreißiger, vierziger
Jahren, noch zu ihrer späteren Niedergangsphase auch nur
annähernd, auch nur in bezug auf die Tatsachen richtig Stellung
nehmen. Nach den Hegelianern ist die deutsche Philosophie mit
Hegel abgeschlossen; nach den Neukantianern hat sie in Kant
ihren Gipfelpunkt erreicht, und die Verwirrung, die seine
Nachfolger stifteten, konnte erst mit der Rückkehr zu ihm in
Ordnung gebracht werden. Eduard v. Hartmann versucht eine
„Synthese" zwischen Hegel und dem Irrationalismus (des späten
Schelling und Schopenhauers) zustande zu bringen usw. Jedenfalls
liegt die entscheidende Krise der deutschen Philosophie, die
Auflösung des Hegelianismus, für die bürgerlichen Historiker
außerhalb der Geschichte der Philosophie. Die
Philosophiehistoriker der imperialistischen Periode schaffen —
wesentlich auf der Grundlage der Bejahung des Irrationalismus —
einerseits eine Harmonie zwischen Hegel und der Romantik,
andererseits eine zwischen Kant und Hegel, wodurch alle
wichtigen Richtungskämpfe gedanklich aus der Welt geschafft
werden und eine einheitliche und unproblematische,
widerspruchslose Entwicklungslinie zum — bejahten —
Irrationalismus der imperialistischen Periode gezogen wird. Der
einzige, auf anderen Gebieten sehr verdienstvolle, marxistische
Historiker, Franz Mehring, kennt einerseits, mit Ausnahme Kants,
die klassische deutsche Philosophie zu wenig und erkennt
andererseits nicht genügend die spezifischen Züge der
imperialistischen Periode, um für unse're Fragen richtunggebend
sein zu können.
Das einzige neuere Buch, in welchem wenigstens ein Anlauf
dazu genommen wird, auf die Problematik der deutschen
philosophischen Entwicklung einzugehen, ist das kenntnisreiche
Werk K. Löwiths „Von Hegel zu Nietzsche". Darin wird zum
erstenmal in der deutschen bürgerlichen Philosophiegeschichte
der Versuch unternommen, die Auflösung des Hegelianismus, die
Philosophie des jungen Marx in die Entwicklung organisch
einzufügen. Aber schon daraus, daß Löwith diese Entwicklung —
und zwar nicht im entlarvenden Sinn — in Nietzsche gipfeln läßt,
wird klar, daß er die wirklichen Probleme der behandelten
Periode nicht sieht und, wo er auf sie stößt, sie resolut auf
den Kopf stellt. Da er die Hauptrichtung bloß in einem Weg von
Hegel weg erblickt, geraten bei ihm die rechten und linken
Kritiker Hegels, insbesondere Kierkegaard und Marx, auf die
gleiche Ebene, ihre Entgegengesetztheit in allen Fragen
erscheint als bloße Verschiedenheit der Thematik, bei einer
wesentlich verwandten Grundrichtung. Daß Löwith bei einer
solchen Einstellung zwischen den Hegelianern der Auflösungszeit
(Rüge, Bauer), Feuerbach und Marx auch nur Nuancen innerhalb
einer ähnlichen Tendenz und keine qualitativen Gegensätze
erblickt, versteht sich von selbst. Da sein Buch in der neueren
bürgerlichen Geschichtsschreibung der Philosophie eine fast
alleinstehende Position an Stoffkenntnis einnimmt, führen wir
einen längeren entscheidenden Passus an, damit der Leser selbst
beurteilen kann, wie diese Methode zur Gleichsetzung von Marx
und Kierkegaard und damit zu ähnlichen Folgerungen führt, wie
sie einige „linke" Präfaschisten gezogen haben (z. B. H.Fischer:
„Marx und Nietzsche als Entdecker und Kritiker der Dekadenz").
Löwith sagt: „Kurz vor der Revolution von
1848 haben Marx und Kierkegaard dem Willen zu
einer Entscheidung eine Sprache verliehen, deren Worte auch
jetzt noch ihren Anspruch erheben: Marx im 'Kommunistischen
Manifest' (1847) und Kierkegaard in einer
.Literarischen Anmeldung' (1846). Das
eine Manifest schließt .Proletarier aller Länder vereinigt
Euch!' und das andere damit, daß jeder für sich an seiner
eigenen Rettung arbeiten solle, dagegen sei die Prophetie über
den Fortgang der Welt höchstens als Scherz erträglich. Dieser
Gegensatz bedeutet aber geschichtlich betrachtet nur zwei
Seiten einer gemeinsamen Destruktion der bürgerlich-christlichen
Welt. Zur Revolution der bürgerlich-kapitalistischen Welt
hat sich Marx auf die Masse des Proletariats gestützt, während
Kierkegaard in seinem Kampf gegen die büigttMch-christliche
Welt alles auf den Einzelnen setzt. Dem entspricht, daß für
Marx die bürgerliche Gesellschaft eine Gesellschaft von
»vereinzelten Einzelnen' ist, in welcher der Mensch seinem
.Gattungswesen' entfremdet ist, und für Kierkegaard die
Christenheit ein massenhaft verbreitetes Christentum, in dem
niemand ein Nachfolger Christi ist. Weil aber Hegel diese
existierenden Widersprüche im Wesen vermittelt hat, die
bürgerliche Gesellschaft mit dem Staat und den Staat mit dem
Christentum, zielt die Entscheidung von Marx wie von Kierkegaard
auf die Hervorhebung des Unterschieds und des Widerspruchs in
eben jenen Vermittlungen. Marx richtet sich auf die
Selbstentfremdung, die für den Menschen der Kapitalismus ist,
und Kierkegaard auf diejenige, die für den Christen die
Christenheit ist."
Also auch hier: eine Nacht, in der alle Kühe
schwarz sind. Die marxistische Geschichtsschreibung kann mit
solchen Vorarbeiten in Bewältigung dieses Stoffes nichts
anfangen.
Endlich muß hier noch die Frage aufgeworfen
werden, warum unsere Darstellung — mit wenigen Einschaltungen,
wie Kierkegaard und Gobi-neau — sich auf den deutschen
Irrationalismus beschränkt. Die besonderen Bedingungen, die
Deutschland zu einem vorzugsweise geeigneten Boden für den
Irrationalismus gemacht haben, versuchen wir im ersten Kapitel
zu skizzieren. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß der
Irrationalismus eine internationale Erscheinung ist, und zwar
sowohl in seinem Kampf gegen den bürgerlichen
Fortschrittsbegriff als auch im Kampf gegen den des Sozialismus.
Und es unterliegt keinem Zweifel, daß in beiden Perioden
wichtige Vertreter der gesellschaftlichen und politischen
Reaktion in den verschiedensten Ländern aufgetreten sind. So
schon während der Französischen Revolution in England Burke, so
später in Frankreich Bonald, De Maistre und andere. Allerdings
bekämpfen diese die Ideologie der Französischen Revolution,
ohne eine derart spezifische und neue philosophische Methode für
diese Zwecke auszubilden, wie dies in Deutschland geschehen ist.
Es fehlen zwar auch solche Versuche nicht; man denke etwa an
Maine de Biran. Es ist aber unzweifelhaft, daß auch dieser weit
davon entfernt war, derartige internationale Dauerwirkungen
hervorzubringen wie Schelling oder Schopenhauer, und er hat auch
bei w-eitem nicht so entschieden und prinzipiell die Grundlagen
des neuen Irrationalismus herausgearbeitet wie diese. Dies hängt
wieder damit zusammen, daß Maine de Biran im Gegensatz zum
dezidierten Reaktionärtum der deutschen Romantiker ein Ideologe
des juste milieu war. Der imperialistische Aufschwung des
Irrationalismus zeigt besonders kraß die führende Rolle
Deutschlands auf diesem Gebiet. Natürlich ist hier in erster
Linie Nietzsche gemeint, der zum inhaltlichen und
methodologischen Vorbild der irrationalistischen philosophischen
Reaktion von den USA bis zum zaristischen Rußland wurde, und mit
dessen Einfluß sich kein einziger Ideologe der Reaktion auch nur
annähernd messen konnte und kann. Aber auch später bleibt
Spengler international vorbildlich für die irrationalistischen
geschichtsphilosophischen Konzeptionen bis zu Toynbee; Heidegger
ist das Modell für den französischen Existentialismus, wirkt
schon lange vorher entscheidend auf Ortega y Gasset ein,
besitzt in tiefer und gefährlicher Weise einen Einfluß auf das
bürgerliche Denken in Amerika usw. usw.
Die bestimmenden Ursachen dieses Unterschiedes
könnten natürlich nur auf der Grundlage der konkreten Geschichte
aller einzelnen Länder herausgearbeitet werden. Erst eine
solche historische Betrachtung würde die spezifischen Tendenzen
klarlegen, die in Deutschland ihre „klassische", konsequent bis
ans Ende gehende Form erhielten, während sie in den anderen
Ländern zumeist auf halbem Weg stehengeblieben sind. Natürlich
gibt es den Fall Mussolini, mit seinen philosophischen Quellen
aus James, Pareto, Sorel und Bergson; aber selbst hier geht die
internationale Wirkung lange nicht so stark in die Breite und
Tiefe wie schon in der Vorbereitungszeit des faschistischen
Deutschland und erst recht unter Hitler. So können wir überall
das Auftreten sämtlicher Motive des Irrationalismus beobachten;
insofern ist dieser tatsächlich eine internationale Erscheinung,
besonders in der imperialistischen Periode. Jedoch nur äußerst
selten, vereinzelt, episodisch werden daraus alle Konsequenzen
gezogen, wird der Irrationalismus zu einer derart allgemein
herrschenden Richtung wie in Deutschland; insofern bleibt die
Hegemonie der deutschen Entwicklung bestehen. (Über die
gegenwärtige Lage werden wir im Nachwort sprechen.)
Man kann diese Tendenz schon vor dem ersten
Weltkrieg wahrnehmen. Ebenso wie in Deutschland erlangt der
Irrationalismus hochentwickelte Formen in fast allen führenden
Ländern der imperialistischen Periode. So im Pragmatismus der
angelsächsischen Länder, so mit Boutroux, Bergson usw. in
Frankreich, so mit Croce in Italien. Diese Formen zeigen — bei
tiefer Verwandtschaft in den letzten gedanklichen Grundlagen —
eine äußerst bunte Verschiedenheit; diese wird primär bestimmt
durch die Art, Höhe und Schärfe des Klassenkampfes im
betreffenden Land, daneben durch das überkommene philosophische
Erbe, durch die unmittelbare gedankliche Gegnerschaft. In
unseren ausführüchen Analysen der einzelnen Etappen der
deutschen Entwicklung leiten wir diese, wie hier bereits
angedeutet, aus den konkreten historischen Umständen ab. Ohne
ein solches Aufdecken der realen
gesellschaftlich-geschichtlichen Grundlagen ist keine
wissenschaftliche Analyse möglich. Dies gilt natürlich auch für
die folgenden Betrachtungen. Sie erheben deshalb keinen
Augenblick den Anspruch, auch nur die Skizze einer
wissenschafüichen Bestimmung von Philosophien oder Richtungen zu
sein. Sie deuten bloß bestimmte allgemeinste Züge als aus der —
allgemeinen — Gleichheit der imperialistischen Ökonomie
entsprungen an; freilich bei verschiedener Entwicklungsstufe
der einzelnen Länder, bei der ungleichmäßigen Entwicklung im
Imperialismus, welche trotz dieser Gleichheit der Grundlagen
zugleich konkrete Verschiedenheiten hervorbringt.
Wir können hier natürlich diese unsere
Auffassung nur an einigen flüchtig skizzierten Beispielen
illustrieren. Die ähnlichen, von der imperialistischen Ökonomie
als ähnlich determinierten, ideologischen Bedürfnisse bringen
unter verschiedenen konkreten gesellschaftlichen Umständen sehr
verschiedene, ja, oberflächlich betrachtet, entgegengesetzt
scheinende Abarten des Irrationalismus hervor. Man denke etwa
an Croce und an W.James und den Pragmatismus. Beide stehen, was
die unmittelbaren philosophischen Vorgänger betrifft, im Kampf
gegen bestimmte Hegeische Traditionen. Daß dies in der
imperialistischen Zeit möglich ist, darin spiegelt sich ein
Unterschied zwischen der deutschen und der sonstigen westlichen
philosophischen Entwicklung. Die Revolution von 1848 beendet für
Deutschland die Auflösung des Hegehanismus; der Irrationalist
Schopenhauer wird zum führenden Philosophen des
nachrevolutionären Deutschland, der Vorbereitungszeit der
Bismarckschen Reichsgründung. In den angelsächsischen Ländern
und in Italien spielt dagegen die Hegelsche Philosophie auch in
dieser Zeit eine führende Rolle, ja sie erhält sogar einen
gesteigerten Einfluß. Das beruht darauf, daß der bürgerliche
Fortschrittsgedanke hier noch nicht, wie in Deutschland, in
eine offene Krise gerät; die Krise bleibt hier latent und
versteckt, der Fortschrittsbegriff wird bloß, den Ergebnissen
von 1848 entsprechend, liberal verflacht und verwässert.
Philosophisch hat dies zur Folge, daß die Hegeische Dialektik
ihren Charakter als „Algebra der Revolution" (Herzen)
vollständig verliert, daß Hegel immer stärker an Kant und den
Kantianismus angenähert wird. Darum kann ein solcher
Hegehanismus, besonders in den angelsächsischen Ländem,
eine Parallelerscheinung zur vordringenden Soziologie sein, die
ebenfalls einen liberalen Evolutionismus predigt wie vor allem
die Herbert Spencers. Es sei hier nur beiläufig darauf
hingewiesen, daß in den Überresten des deutschen Hegelianismus
ein ähnlicher Prozeß der Rückentwick-lung zu Kant vor sich geht,
nur spielt er bei dem allgemeinen Zurückdrängen der ganzen
Richtung keine so wichtige Rolle wie im Westen. Es genügt, wenn
wir auf die Entwicklung von Rosenkranz und Vischer hinweisen;
der letztere spielt insofern eine Pionierrolle für die
Philosophie des Imperialismus, als seine Wendung zu Kant bereits
dessen irrationalistische Interpretation mit einbegreift.
Croce steht keineswegs unmittelbar unter dem Einfluß
Vischers, seine Beziehung zu Hegel (und zu dem von ihm
„entdeckten" und propagierten Vico) bewegt sich aber auf einer
ähnlichen Linie der Irrationalisierung. Er berührt sich also
sehr eng mit dem später auftretenden deutschen Hegelianismus
der imperialistischen Periode, nur mit dem sehr wichtigen
Unterschied, daß dieser die angeblich erneuerte Hegeische
Philosophie als Sammelideologie für eine zu vereinigende
Reaktion (den Nationalsozialismus mitinbegriffen) auffaßt,
während Croce bei einem — freilich reichlich reaktionären —
Liberalismus der imperialistischen Periode stehenbleibt und den
Faschismus philosophisch ablehnt. (Der andere führende
italienische Hegelianer, Gentile, wird allerdings zeitweilig
zum Ideologen der „Konsolidierungsperiode" des Faschismus.) Wenn
Croce das „Lebendige" vom „Toten" in Hegel trennt, so ist das
erstere eben ein liberal gemäßigter Irrationalismus, das
letztere: Dialektik und Objektivität. Beide Tendenzen haben zum
Hauptinhalt: die Abwehr gegen den Marxismus. Darin ist
philosophisch entscheidend: die radikale Subjektivierung der
Geschichte, die radikale Entfernung jeder Gesetzmäßigkeit aus
ihr. „Ein historisches Gesetz, ein historischer Begriff sind",
sagt Croce, „eine wahrhafte contradictio in adjecto."
Geschichte, führt Croce anderswo aus, ist stets eine Geschichte
der Gegenwart. Hier ist nicht nur die enge Berührung mit der
Windelband-Rickert-Richtung in Deutschland, mit der beginnenden
Irrationalisierung der Geschichte bemerkenswert, sondern
zugleich die Art, wie Croce eine reale dialektische
Fragestellung, nämlich daß die Erkenntnis der Gegenwart (der
bisher höchsten Stufe einer Entwicklungsreihe) den Schlüssel zu
der Erkenntnis der weniger entfalteten Stufen der Vergangenheit
bietet, in einen irrationalistischen Subjektivismus auflöst.
Geschichte wird zur Kunst, und zwar natürlich zu einer Kunst im
Sinne Croces, in welcher sich eine rein formalistisch aufgefaßte
Vollendung mit der Intuition als angeblich alleinigem Organ der
Produktivität und der adäquaten Rezeptivität paart. Die Vernunft
ist aus allen Gebieten der gesellschaftlichen Tätigkeit des
Menschen verbannt, mit Ausnahme eines — im System
untergeordneten — Gebiets der ökonomischen Praxis und eines — im
Sinne des Systems ebenfalls untergeordneten, von der
eigentlichen Wirklichkeit unabhängig gedachten — Reservats der
Logik und der Naturwissenschaften. (Hier ist ebenfalls die
Parallele zu Windelband-Rickert sichtbar.) Mit einem Wort: Croce
schafft ein „System" des Irrationalismus für den bürgerlich
dekadenten Gebrauch des Parasitismus der imperialistischen
Periode. Für die äußerste Reaktion reicht dieser Irrationalismus
schon vor dem ersten Weltkrieg nicht aus; man denke an die
Rechtsopposition gegen Croce seitens Papini usw. Es ist aber —
als Gegensatz zu Deutschland — bemerkenswert, daß dieser
liberalreaktionäre Irrationalismus Croces sich bis heute als
eine der führenden Ideologien Italiens konservieren konnte.
Dem philosophischen Wesen nach ist der Pragmatismus, von
dessen Vertretern wir hier nur den hervorragendsten, W. James,
kurz behandeln werden, weitaus radikaler irrationalistisch,
ohne deshalb in seinen Folgerungen entschieden weiter zu gehen
als Croce. Nur ist das Publikum, dem James einen
irrationalistischen Weltanschauungsersatz zu bieten hat, völlig
anderer Art. Freilich, wenn man den unmittelbaren,
philosophiegeschichtlichen Hintergrund nimmt, die unmittelbaren
Vorgänger, an die James polemisch anknüpft, so scheint die Lage
gewisse Ähnlichkeiten aufzuweisen. Denn in beiden Fällen handelt
es sich um sogenannte Hegelianer, die in Wahrheit offene oder
verkappte subjektive Ideaüsten, Kantianer sind. Das Verhalten zu
diesen Vorgängern ist jedoch bei beiden bereits völlig
ent-gegengesetz't. Während Croce die Hegeischen (und Vicoschen)
Traditionen Itaüens angeblich fortsetzt, sie in Wirklichkeit in
einen Irrationalismus überleitet, steht James in offenem Kampf
gegen diese Traditionen der angelsächsischen Länder.
Diese offene Polemik zeigt eine sehr weitgehende
Verwandtschaft mit der europäischen Entwicklung. Wie Mach und
Avenarius scheinbar ihre Hauptangriffe gegen den veralteten
Idealismus richten, tatsächlich jedoch mit wirklicher
Entschiedenheit bloß den philosophischen Materialismus
bekämpfen, so auch James. Und er steht ihnen auch darin recht
nahe, daß diese Vereinigung des wirklichen Kampfes gegen den
Materialismus mit den Scheinattacken gegen den Idealismus sich
ein Verhalten anmaßt, als ob diese „neue" Philosophie sich
endlich über den falschen Gegensatz von Materiaüsmus und
Idealismus erheben würde, als ob mit ihr ein „dritter Weg" in
der Philosophie entdeckt worden wäre. Diese Verwandtschaft
betrifft so gut wie alle wesentlichen Fragen der Philosophie,
muß also die Grundlage der Einschätzung des Pragmatismus bilden.
Die Unterschiede sind jedoch, gerade von unserem Standpunkt,
mindestens ebenso wichtig. Vor allem deshalb, weil der
Irrationalismus, der im Machismus implizite enthalten ist und
erst allmählich entschieden hervortritt, bei James bereits in
voller Entfaltung explizite erscheint. Dies kommt schon darin
zum Ausdruck, daß Mach und Avenarius vor allem eine
erkenntnistheoretische Begründung der exakten
Naturwissenschaften erstreben und dabei vorgeben in
Weltanschauungsfragen völlig neutral zu sein, während James
gerade mit dem Anspruch auftritt, die Weltanschauungsfragen mit
Hilfe seiner neuen Philosophie unmittelbar beantworten zu
können. Er wendet sich deshalb sofort nicht an verhältnismäßig
enge Gelehrtenkreise, sondern erstrebt, die
Weltanschauungsbedürfnisse des Alltags, des
Durchschnittsmenschen zu befriedigen. Es ist scheinbar nur ein
terminologischer Unterschied, wenn die Machisten die
„Denkökonomie" als erkenntnistheoretisches Kriterium der
Wahrheit aufstellen, während James Wahrheit und Nützlichkeit
(für das jeweilige Individuum) einander einfach gleichsetzt.
Einerseits dehnt damit James die Geltung der machistischen
Erkenntnistheorie auf das ganze Leben aus, gibt ihr einen
entschiedenen lebensphilosophischen Akzent, andererseits gibt
er ihr eine allgemeinere, über die Technik der „Denkökonomie"
hinausgehende Geltung.
Auch hier ist das grundlegende Verhalten des Irrationalismus
der Dialektik gegenüber deutlich sichtbar. Es ist eine
fundamentale These des dialektischen Materialismus, daß die
Praxis das Kriterium der theoretischen Wahrheit bildet. Die
Richtigkeit oder Unrichtigkeit der gedanklichen Widerspiegelung
der von unserem Bewußtsein unabhängig existierenden objektiven
Wirklichkeit, oder besser: der Grad unserer Annäherung an sie,
bewahrheitet sich erst in der Praxis, durch die Praxis. James,
der die Schranken, die Hilflosigkeit des metaphysischen
Idealismus klar sieht, der wiederholt auf diese Schranken
hinweist (daß etwa der Idealismus die Welt „als vollendet und
fertig von Ewigkeit her" auffaßt, während der Pragmatismus sie
im Werden zu ergreifen versucht), entfernt sowohl aus der
Theorie wie aus der Praxis jede Beziehung zur objektiven
Wirklichkeit und verwandelt dadurch die Dialektik in einen
subjektivistischen Irrationalismus. James gibt dies auch offen
zu, indem er damit die Weltanschauungsbedürfnisse des
amerikanischen „man in the street" zu befriedigen unternimmt.
Im alltäglichen Geschäftsleben muß — bei Strafe des Bankerotts —
die Wirklichkeit genau beobachtet werden (unbekümmert darum, daß
ihre objektive Wahrheit, ihre Unabhängigkeit vom Bewußtsein
erkenntnistheoretisch geleugnet wird), auf allen anderen
Gebieten herrscht jedoch die irrationalistische Willkür ganz
unbeschränkt. James sagt: „Die praktische Welt der Geschäfte ist
ihrerseits in hohem Maße rational für den Politiker, den
Militär, für den vom Geschäftsgeist beherrschten Mann . . . Aber
sie ist irrational für das sittliche und künstlerische
Temperament."
Hier tritt eine sehr wichtige Bestimmung des Irrationalismus
klar hervor: eine seiner wichtigsten sozialen Aufgaben für die
reaktionäre Bourgeoisie besteht nämlich darin, den Menschen
einen „Komfort" auf dem Gebiet der Weltanschauung zu bieten, die
Illusion einer vollen Freiheit, die Illusion der persönlichen
Selbständigkeit, der moralischen und intellektuellen
Höherwertigkeit — bei einem Verhalten, das sie in ihren
wirklichen Handlungen ununterbrochen mit der reaktionären
Bourgeoisie verknüpft, sie ihr bedingungslos dienstbar macht.
Wir werden in späteren ausführlichen Analysen sehen können, wie
ein solcher „Komfort" auch dem „erhabensten" Asketismus der
irrationalistischen Philosophie, etwa bei Schopenhauer oder
Kierkegaard, zugrunde liegt. James spricht diesen Gedanken mit
dem naiven Zynismus des erfolgreichen, selbstbewußten
amerikanischen Geschäftsmanns aus, er erfüllt die
Weltanschauungsbedürfnisse des Typus Babbitt. Auch dieser will,
wie Sinclair Lewis ausgezeichnet zeigt, sein Recht auf eine
höchst persönliche Intuition gesichert sehen, auch er erfährt in
der Praxis, daß Wahrheit und Nützlichkeit in der Lebensführung
eines echten Amerikaners gleichbedeutende Begriffe sind. Die
Bewußtheit und der Zynismus von James stehen natürlich
gedanklich etwas höher als die des Sinclair Lewisschen Babbitt.
James lehnt z. B. den Idealismus ab, vergißt aber nicht, ihm
insofern eine pragmatistische Reverenz zu erweisen, als er für
die alltägliche Lebensführung nützlich ist, da er den
philosophischen Komfort erhöht; James sagt vom Absoluten des
Idealismus: „Es gewährleistet moralische Ferien. Dies tut auch
jede religiöse Anschauung." Dieser Komfort wäre aber
intellektuell wenig wirksam, wenn er nicht eine scharfe
Ablehnung des Materialismus, eine angebliche Widerlegung der
wissenschaftlich fundierten Weltanschauung enthalten würde.
James macht sich auch diese Aufgabe zynisch bequem. Er führt —
konsequent-pragma-tistisch — kein einziges sachliches Argument
gegen den Materialismus an; er weist nur darauf hin, daß dieser
als Prinzip der Welterklärung keineswegs „nützlicher" ist als
der Glaube an Gott. „Nennen wir", führt er aus, „die Ursache der
Welt Materie, so nehmen wir ihr keinen einzigen ihrer
Bestandteile, und wir vermehren ihren Reichtum nicht, wenn wir
ihre Ursache Gott nennen . .. Der Gott hat, wenn er da ist,
ebensoviel geleistet, wie die Atome leisten können, und hat
ebensoviel Dank verdient wie die Atome und nicht mehr." So kann
Babbitt ruhig an Gott, an den Gott welcher Religion oder Sekte
auch immer, glauben, er verstößt nicht gegen die Anforderungen,
die die Wissenschaft an einen up to date gentleman stellt.
Bei James tritt der Gedanke des Mythenschaffens nirgends mit
jener klaren Inhaltlichkeit hervor wie etwa bei Nietzsche, der
in seiner Erkenntnistheorie und Ethik viele pragmatistische
Züge zeigt, er schafft aber eine «kenntnistheoretische
Grundlegung und sogar ein moralisches Gebot da-ur, daß jeder
Babbitt auf allen Gebieten des Lebens für seinen persönlichen
Gebrauch jene Mythen schaffe oder annehme, die ihm gerade
nützlich scheinen; der Pragmatismus gibt ihm dazu das nötige
intellektuelle gute Gewissen. Eben in seiner Inhaltslosigkeit
und Flachheit ist deshalb der Pragmatismus jenes Warenhaus der
Weltanschauungen, das für das Vorkriegsamerika mit seiner
Perspektive der unbeschränkten Prosperität und Sekurität
notwendig war.
Es versteht sich freilich von selbst, daß, soweit der
Pragmatismus in anderen Ländern unter den Bedingungen einer
verscbärfteren und ausgebildeteren Form des Klassenkampfes
wirksam wurde, seine bloß impliziten Momente rasch zu expliziten
werden mußten. Das wird am deutlichsten bei Bergson. Damit soll
natürlich keineswegs eine direkte Wirkung des Pragmatismus auf
Bergson behauptet werden; es handelt sirh hier, im Gegenteil,
ebenfalls um parallele Tendenzen, wobei die gegenseitige
Hochschätzung von Bergson und James diese Parallelität auch
noch von der subjektiven Seite unterstreicht. Das Gemeinsame bei
beiden ist die Ablehnung der objektiven Wirklichkeit und ihrer
rationellen Erkennbarkeit, die Reduktion der Erkenntnis auf bloß
technische Nützlichkeit, der Appell an ein intuitives Erfassen
der dem Wesen nach als irrationalistisch dekretierten wahren
Wirklichkeit. Bei dieser gemeinsamen Grundtendenz zeigen sich
jedoch nicht unwesentliche Unterschiede der Akzente und
Proportionen, deren Ursachen in der Verschiedenheit der
Gesellschaften zu suchen sind, in denen beide gewirkt haben, und
dementsprechend in der Verschiedenheit der gedanklichen
Traditionen, an die sie, bejahend oder verneinend, anknüpften.
Bergson entwickelt einerseits den modernen Agnostizismus
weitaus kühner und entschiedener als James zu einem offenen
Verkünden von Mythen weiter, andererseits ist, wenigstens
während seiner international ausschlaggebenden Wirksamkeit,
seine Philosophie viel ausschließlicher auf die Kritik der
naturwissenschaftlichen Anschauungen, auf die Destruktion ihrer
Berechtigung, objektive Wahrheiten auszusprechen, auf das
weltanschauliche Ersetzen der Naturwissenschiften durch
biologische Mythen gerichtet als auf Probleme des
gesellschaftlichen Lebens. Erst sehr spät erscheint sein Buch
über Ethik und Religion und erreicht bei weitem nicht mehr die
allgemeine Wirkung seiner früheren biologischen Mythen. Die
Bergsonsche Intuition richtet sich nach außen als Tendenz, die
Objektivität und Wahrheit der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis zu zerstören; sie richtet sich nach innen als
Introspektion des vereinsamten, vom gesellschaftlichen Leben
abgetrennten parasitischen Individuums der imperialistischen
Periode. (Es ist kein Zufall, daß die größte literarische
Nachwirkung Bergsons bei Proust erscheint.)
Hier ist der Gegensatz nicht nur zu James, sondern
insbesondere zu Bergsons deutschen Zeitgenossen und Verehrern
handgreiflich faßbar. Diltheys ebenfalls intuitive „geniale
Anschauung", Simmeis und Gundolfs
Intuition, die „Wesensschau" Schelers usw. sind von vornherein
gesellschaftlich gerichtet, von Nietzsche und Spengler gar
nicht zu reden; die Abkehr von der Objektivität und Rationalität
erscheint hier sofort und unmittelbar als entschiedene
Stellungnahme gegen den gesellschaftlichen Fortschritt. Dies ist
bei Bergson nur vermittelt der Fall, und so stark sein
ethisch-religiöses Spätwerk reaktionär und mystisch eingestellt
ist, es bleibt in dieser Richtung weit hinter dem deutschen
Irrationalismus der Zeit seines Erscheinens zurück. Das bedeutet
natürlich nicht, daß Bergsons Wirkung nicht auch in Frankreich
in diese Richtung gehen wütde; über Sorel werden wir gleich
etwas ausführlicher sprechen. Aber auch anderswo ist, von Peguys
Wendung zur katholischen Reaktion bis zu den Anfängen des
heutigen ideologischen Agenten de Gaulies, R. Aron, diese
Wirkung überall spürbar.
Die Hauptattacke Bergsons ist jedoch gegen die Objektivität
und Wissenschaftlichkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis
gerichtet. Die abstrakte und schroffe Gegenüberstellung von
Rationalität und irrationalistischer Intuition erreicht bei ihm
auf erkenntnistheoretischem Gebiet ihren Gipfelpunkt im
Vorkriegsimperialismus. Was bei Mach noch rein
erkenntnistheoretisch war, was bei James zu einer allgemeinen
Grundlegung subjektiver individueller Mythen erwuchs, erscheint
bei Bergson als zusammenhängendes mythisch-irrationelles
Weltbild, das dem der Naturwissenschaften, deren Anspruch auf
objektive Erkenntnis der Wirklichkeit Bergson ebenso schroff
ablehnt wie Mach oder James, denen er, wie diese, nur eine
technizistische Nützlichkeit zubilligt, ein bewegtes und
farbiges metaphysisches Tableau gegenüberstellt: der leblosen,
toten raumartig-erstarrten Welt eine Welt der Bewegung, des
Lebens, der Zeit, der Dauer. Der bei Mach bloß agnostizistische
Appell an die subjektive Unmittelbarkeit der Wahrnehmung
erwächst bei Bergson zu einer Weltanschauung auf der Grundlage
der radikal irrationalistischen Intuition.
Auch hier ist der Grundcharakter des modernen Irrationalismus
leicht ablesbar. Dem Scheitern der metaphysisch-mechanischen
Behandlungs-weise an der Dialektik der Wirklichkeit, der Ursache
der allgemeinen Krise der Naturwissenschaften in der
imperialistischen Periode, stellt Bergson nicht die Erkenntnis
der wirklichen dialektischen Bewegung und Gesetzlichkeit
gegenüber; dies kann nur der dialektische Materialismus tun. Im
Gegenteil, Bergsons Leistung liegt im Erfinden eines Weltbildes,
das hinter dem verlockenden Schein einer lebendigen Bewegtheit
gerade die konser-Ia!1Ve' die reaktionäre Statik
wiederherstellt. Um diese Lage nur an einem chlusselproblem zu
illustrieren: Bergson bekämpft das Mechanische, das ote an den
Evolutionslehren vom Typus Spencers, zugleich jedoch lehnt «in
der Biologie die Vererbbarkeit der erworbenen Eigenschaften ab.
Also gerade in der Frage, in der eine dialektische
Weiterbildung Darwins notwendig und möglich geworden ist
(Mitschurin und Lyssenko haben dieses Problem auf der Grundlage
des dialektischen Materialismus weitergeführt), nimmt Bergson
Stellung gegen die wirkliche Entwicklungslehre. Damit fügt sich
seine Philosophie vor allem in jene internationale Bewegung zur
Destruktion der Objektivität der Naturwissenschaften ein, die
von Mach und Avenarius begonnen, in der imperialistischen
Periode sehr wichtige Vertreter auch in Frankreich gefunden
hat; es genügt auf Poincare' und Duhem hinzuweisen.
Die weltanschauüche Bedeutung dieser Tendenzen ist in
Frankreich, wo die Traditionen der Aufklärung (und mit ihr die
von Materialismus und Atheismus) viel tiefer wurzeln als in
Deutschland, eine besonders große. Wie bereits gezeigt, geht
aber Bergson im Schaffen dezidiert irrationalistischer Mythen
weit über diese Richtung hinaus, richtet er seine Angriffe
weltanschaulich gegen Objektivität und Rationaütät, gegen die
Herrschaft der Vernunft (ebenfalls eine altfranzösische
Tradition), kämpft er für ein irrationalistisches Weltbild.
Damit gibt er jenen Kritikern des kapitalistischen Lebens von
rechts, von der Seite der Reaktion, die schon jahrzehntelang
wirksam waren, ein philosophisches Fundament, den Schein einer
Übereinstimmung mit den neuesten Ergebnissen der
Naturwissenschaften. Während die meisten bisherigen
reaktionären Ideologen in Frankreich diese Attacke zumeist im
Namen von Royalismus und Ultramontanismus führten und damit in
ihrer Wirksamkeit auf von vornherein entschieden reaktionäre
Kreise beschränkt waren, wendet sich die Bergsonsche Philosophie
auch an jene Intelligenz, die mit der kapitalistisch korrupten
Entwicklung der dritten Republik unzufrieden war, die ihren Weg
auch nach links in der Richtung zum Sozialismus zu suchen
begann. Wie jeder wichtige irrationalistische Lebensphilosoph
„vertieft" Bergson dieses Problem dahingehend, daß es sich um
den allgemein weltanschaulichen Gegensatz des Toten und des
Lebendigen handle, wobei diese Kreise ohne ausdrückliche
Hinweise Bergsons leicht verstanden haben, daß unter dem Begriff
des Toten die kapitalistische Demokratie zu verstehen sei, daß
ihre Opposition gegen diese in Bergson eine philosophische
Stütze erhielt. (Wie sich dies konkret auswirkt, werden wir an
Sorel zu illustrieren versuchen.)
In dieser Hinsicht übt Bergson in Frankreich zur Krisenzeit
am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts
(Dreyfus-Affäre usw.) eine ähnliche Wirkung aus wie Nietzsche in
Deutschland zur Zeit der Aufhebung des Sozialistengesetzes. Der
Unterschied liegt wieder darin, daß die irrationalistische
Lebensphilosophie Nietzsches ein offener Aufruf zur reaktionären
antidemokratischen, antisozialistischen imperialistischen
Aktivität war, während diese Ziele bei Bergson nicht offen
ausgesprochen, nur allgemein weltanschaulich verkündet, sogar
neutralistisch verhüllt wurden. Diese scheinbare politische
Neutralität Bergsons wirkt aber nicht nur verwirrend und
irreführend auf die sich in einer ideologischen Krise
befindliche Intelligenz, sondern verwirrt und führt irre gerade
in reaktionärer Richtung. (Diese Wirkung Bergsons kann man am
besten an" Peguys Entwicklung studieren.) Der von den
Hitler-Faschisten ermordete kommunistische Widerstandskämpfer
G. Politzer charakterisiert die reaktionäre Wesensart der
Bergsonschen Abstraktheit sehr richtig: „Sich mit dem ganzen
Leben zu verschmelzen, mit dem ganzen Leben zu vibrieren,
bedeutet, kalt und gleichgültig zu bleiben angesichts des
Lebens: die echten Emotionen gehen im Milieu der universellen
Sensibilität unter. Ein Pogrom spielt sich ebenso in der Dauer
(dur£e) ab wie eine Revolution: indem man die Momente der Dauer
in ihrem individuellen Kolorit zu erfassen sucht, indem man die
Dynamik der Verwirrung ihrer Momente bewundert, vergißt man
genau das, daß man es auf der einen Seite mit einem Pogrom, auf
der anderen Seite mit einer Revolution zu tun hat." Hier ist
ganz deutlich sichtbar, was diesen bedeutendsten Vertreter der
westeuropäischen Vernunftfeindlichkeit mit der modernen
deutschen Zentralgestalt dieser Richtung, mit Nietzsche,
verbindet, und zugleich, wie weit jener hinter diesem — infolge
der verschiedenen Entwicklung der beiden Länder — notwendig an
Konkretheit und Entschiedenheit im Ausbau des
reaktionär-irrationalistischen Weltbildes zurückbleibt.
Dieser Unterschied zeigt sich auch im Verhältnis zu den
philosophischen Traditionen. Während in Deutschland bereits der
späte Schelling die Attacke gegen den von Descartes geschaffenen
Rationalismus einleitet, welcher Angriff dann, wie wir an seiner
Stelle sehen werden, in der Hitlerzeit seine höchste Form, die
der Ablehnung der gesamten progressiven bürgerlichen
Philosophien, der Kanonisierung aller ausgesprochenen
Reaktionäre erhält, bewegen sich Bergson und der Bergsonismus
auf der Linie einer zumeist unpolemischen Uminterpretation der
Philosophen des Fortschritts. Freilich kritisiert Bergson die
Positivisten, auch Kant, freilich geht er auf franzosische
Mystiker wie Madame Guyon zurück; von einer entschiedenen Absage
an die großen französischen Traditionen ist aber bei ihm und
seinen Anhängern keine Rede. Auch im Laufe der späteren
Entwicklung nicht; der dem Existentialismus sehr nahestehende
J.Wahl versucht, den inneren Zusammenhang Bergsons mit Descartes
noch so zu retten, daß er mit dessen cogito ein Bergsonsches in
Parallele stellt: „Je dure dont je suis." Wir haben es hier mit
der genauen Parallele zu jenen Deutschen zu tun, die wie Simmel
Kant, wie Dilthey Hegel zu Irrationalisten uminterpretieren
wollen.
lese Stufe wird in Frankreich auch von der existentialistischen
Schule nicht überschritten; auch diese betont ihre
kartesianische „Orthodoxie".
Die Konkretisierung dessen, wie weit Bergson im Ausbau des
Irrationalismus geht, soll nun keineswegs besagen, daß es in
Frankreich keine militante ideologische Reaktion gegeben hätte.
Im Gegenteil. Die ganze imperialistische Periode ist von ihr
erfüllt (man denke an Bourget, Barres, Maurras usw.). Nur ist in
ihr der philosophische Irrationalismus bei weitem nicht in jenem
Grade herrschend wie in Deutschland. In der Soziologe ist
dagegen der offen reaktionäre Angriff noch schärfer als auf
deutschem Gebiet. Die verspätete Entwicklung des deutschen
Kapitalismus, die Herstellung der nationalen Einheit in der
reaktionär-junkerlichen Bismarckschen Form haben sogar zur
Folge, daß die Soziologie als typische Wissenschaft der
apologetischen Periode der Bourgeoisie sich in Deutschland nur
schwer, nach Überwindung starker Hemmungen seitens der Ideologie
der feudalen Überreste, durchsetzen konnte. Und es wird an
seiner Stelle darauf hingewiesen werden, daß die deutsche
Soziologie in ihrer Kritik der Demokratie vielfach die
Ergebnisse des Westens aufarbeitet und den spezifisch deutschen
Zielsetzungen entsprechend weiterbildet.
Wir können hier natürlich die westliche Soziologie nicht
einmal andeutend behandeln. Sie bildet weiter aus, was die
Begründer dieser neuen bürgerlichen Wissenschaft erfunden haben:
die sorgfältige Loslösung der gesellschaftlichen Phänomene von
ihrer ökonomischen Basis, das Verweisen der ökonomischen
Probleme in eine andere, von der Soziologie völlig abgetrennte
Wissenschaft. Schon damit wird ein apologetischer Zweck
erreicht. Die Entökonomisierung der Soziologie ist zugleich ein
Enthistorisieren: die — apologetisch verzerrt dargestellten —
Bestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft können nunmehr
als „ewige" Kategorien einer jeden Gesellschaftlichkeit
überhaupt behandelt werden. Und daß eine solche Methodologie den
Zweck verfolgt, die Unmöglichkeit des Sozialismus, einer jeden
Revolution direkt oder indirekt zu beweisen, bedarf ebenfalls
keines Kommentars. Aus der fast unübersichtlichen thematischen
Fülle der westlichen Soziologie seien hier nur zwei für die
philosophische Entwicklung besonders wichtige Motive
hervorgehoben. So entsteht eine eigene Wissenschaft, die
„Psychologie der Massen". Ihr hervorragender Vertreter Le Bon
stellt, kurz zusammengefaßt, die Psychologie der Masse als die
des bloß Instinktiven, Barbarischen der Vernünftigkeit, der
Zivilisiert-heit des Denkens der Einzelnen gegenüber. Je mehr
Einfluß also die Massen auf das öffentliche Leben gewinnen, als
desto gefährdeter müssen die Ergebnisse der Kulturentwicklung
der Menschheit erscheinen. Wird hier zur Abwehr gegen Demokratie
und Sozialismus im Namen der Wissenschaft aufgerufen, so stimmt
ein anderer führender Soziologe der imperialistischen Periode,
Pareto, in einen Trostgesang im Namen derselben Soziologie ein.
Wenn, wieder in kürzester Zusammenfassung, die Geschichte
aller gesellschaftlichen Wandlungen nur das Ablösen der einen,
alten Elite" durch eine neue ist, so sind wieder die „ewigen"
Fundamente der kapitalistischen Gesellschaft soziologisch
gerettet, so kann von einem grundlegend neuen Typus der
Gesellschaft, von der sozialistischen, keine Rede sein. Der
Deutsche R. Michels, ein späterer Anhänger Mussolinis, hat auch
diese Prinzipien auf die Arbeiterbewegung angewandt und die
Tatsache der Entstehung einer Arbeiterbürokratie unter den
Bedingungen des Imperialismus, von denen als Bedingungen er
natürlich schweigt, dazu benutzt, die Verbürgerüchung einer
jeden Arbeiterbewegung als soziologisch gesetzmäßig
nachzuweisen.
Eine besondere Stellung in der westlichen Philosophie und
Soziologie nimmt G. Sorel ein. Lenin hat ihn gelegentlich „den
bekannten Konfusionsrat" genannt. Mit vollem Recht. Denn es
mischen sich bei ihm die einander schroffst widersprechenden
Voraussetzungen und Folgerungen. In seinen gedanklichen
Überzeugungen ist Sorel ein rein bürgerlicher Denker, ein
typischer kleinbürgerlicher Intellektueller. Er akzeptiert
sowohl ökonomisch wie philosophisch die Marxrevision
Bernsteins. Er lehnt mit Bernstein die innere Dialektik der
ökonomischen Entwicklung, insbesondere die des Kapitalismus, als
notwendig zur proletarischen Revolution führend ab;
dementsprechend verwirft er auch, wieder Bernstein folgend, die
Dialektik als philosophische Methode. Diese wird bei ihm durch
den Pragmatismus von James und vor allem durch die Bergsonsche
Intuition ersetzt. Er übernimmt aus der bürgerlichen Soziologie
seiner Zeit den Gedanken von der Vernunftwidrigkeit der Bewegung
der Massen und ebenfalls die Elitekonzeption Paretos. Er
betrachtet den Fortschritt als eine typisch bürgerliche
Illusion, wobei er sich meistens die Argumentationen der
Ideologen der Reaktion zu eigen macht.
Aus allen diesen bürgerlich-idealistisch reaktionären
Voraussetzungen wird nun bei Sorel mit einem echt
irrationalistischen gedanklichen salto mortale eine Theorie der
„reinen" proletarischen Revolution entwickelt, der Mythos vom
Generalstreik, der Mythos von der proletarischen Anwendung der
Gewalt. Das ist das typische Bild des kleinbürgerlichen
Rebellentums: Sorel haßt und verachtet die Kultur der
Bourgeoisie, kann sich jedoch an keinem einzigen konkreten Punkt
von ihrem, sein ganzes Denken bestimmenden Einfluß gedanklich
loslösen. Wenn also sein Haß UQd seine Verachtung nach Ausdruck
ringen, so kann das Resultat nur ein irrationalistischer Sprung
ins total Unbekannte, ins reine Nichts sein. Das, was Sorel
proletarisch nennt, ist nichts weiter als eine abstrakte
Verneinung aller Bürgerlichkeit ohne irgendeinen konkreten
Inhalt. Denn sobald er zu en anfängt, denkt er in bürgerlichen
Inhalten, in bürgerlichen Formen. ie Bergsonsche Intuition, der
Irrationalismus der duree reelle erhält hieralso den Akzent
einer Utopie der vollendeten Verzweiflung. Gerade in der
Konzeption des Sorelschen Mythos kommt diese abstrakte
Inhaltlosigkeit klar zum Ausdruck; Sorel lehnt ja jede Politik
von vornherein ab, ist den realen konkreten Zielen und Mitteln
der einzelnen Streiks gegenüber völlig gleichgültig: die
irrationalistische Intuition, der von ihr geschaffene
inhaltslose Mythos steht ganz abseits von der realen
gesellschaftlichen Wirklichkeit, ist nichts weiter als ein
ekstatischer Sprung ins Nichts.
Gerade darin steckt aber der Grund seiner faszinierenden
Wirkung auf eine bestimmte Schicht der Intelligenz im
Imperialismus; gerade deshalb kann dieser Irrationaüsmus die
Unzufriedenheit mit der kapitalistischen Gesellschaft von jedem
wirklichen Kampf gegen sie pathetisch wegsteigern. War auch der
Royalismus bei Sorel selbst nur eine Episode, so ist es schon
mehr als etwas Episodisches, wenn er sich in der großen
revolutionären Krise am Ende des ersten Weltkrieges simultan für
Lenin, Mussolini und Ebert begeistern konnte. Die gleichgültige
Richtungslosigkeit, die Politzer Bergson vorwirft, erscheint bei
Sorel formell als pathetische Aktivität, jedoch ohne ihren
Charakter als Richtungslosigkeit überwinden zu können. Und es
ist sicher weit mehr als ein Zufall, daß Sorels so völlig
inhaltsentleerte Theorie des Mythos für Mussolini, wenigstens
zeitweiüg, wichtig wurde. Natürüch hat sich damit die
spontan-irrationalistische Konfusion Sorels in eine bewußte
Demagogie verwandelt. Die Verwandlung konnte aber — und dies ist
das Wichtige — ohne irgendeinen wesentlichen Umbau von Inhalt
und Methode vollzogen werden. Der Mythos von Sorel ist so
ausschließlich gefühlsbetont, so gehaltlos, daß er ohne Mühe in
den demagogisch verwendeten Mythos des Faschismus übergehen
konnte. Wenn Mussolini sagt: „Wir haben unseren Mythos
geschaffen. Der Mythos ist ein Glaube, eine Passion. Es ist
nicht notwendig, daß er eine Wirklichkeit sei. Er ist durch die
Tatsache real, daß er ein Ansporn ist, ein Glaube, daß er Mut
bedeutet", so ist dies der reine Sorel, und die
Erkenntnistheorie des Pragmatismus und der Bergsonschen
Intuition ist darin zum Vehikel der Ideologie des Faschismus
geworden.
Freilich eines Faschismus, der bei allen seinen Greueln nie
die Weltbedeutung jenes Schreckens erreichte, die der
Hitlerismus für die ganze Welt hatte. (Es ist z. B.
charakteristisch, daß der Horthy-Faschismus in Ungarn, der in
sehr nahen politischen Beziehungen zum italienischen stand,
seine Ideologie doch aus dem damals noch vorfaschistischen
Deutschland holte.) Freilich ist auch hier der ideologische
Zusammenhang Mussolinis mit Bergson, James und Sorel viel
magerer und formeller als der zwischen Hitler und dem deutschen
Irrationalismus. Mag man aber alle diese Vorbehalte machen, so
beleuchtet doch schon diese einzige Tatsache das, was wir hier
und später immer wieder beweisen wollen: es gibt keine
„unschuldige" philosophische Stellungnahme. Ob die Ethik und
Geschichtsphilosophie bei Bergson selbst nicht bis zu
faschistischen Konsequenzen führt, ist neben der Tatsache, daß
Mussolini aus seiner Philosophie ohne Fälschungen eine Ideologie
des Faschismus herausentwickeln konnte, in bezug auf die
Verantwortung vor der Menschheit völlig irrelevant; es kommt
ebensowenig in Betracht, wie es keine Entlastung für Spengler
oder Stefan George als ideologischer Vorläufer Hitlers bedeutet,
daß der verwirklichte „Nationalsozialismus" ihrem persönlichen
Geschmack nicht ganz entsprach. Die bloße Tatsache der hier
angedeuteten Zusammenhänge muß ein gewichtiges discite moniti
(lernt, die ihr gewarnt seid) für jeden ehrlichen
Intellektuellen des Westens sein. Sie zeigt, daß die Möglichkeit
einer faschistischen, einer aggressiv reaktionären Ideologie in
jeder philosophischen Regung des Irrationalismus sachlich
enthalten ist. Wann, wo und wie aus einer solchen — unschuldig
scheinenden — Möglichkeit eine fürchterliche faschistische
Wirklichkeit wird: das entscheidet sich nicht philosophisch,
nicht auf dem Gebiet der Philosophie. Aber die Einsicht in
diesen Zusammenhang sollte die. Verantwortlichkeit der Denkenden
nicht abstumpfen, sondern steigern. Es wäre ein gefährlicher
Selbstbetrug, eine pure Heuchelei, sich in Unschuld die Hände zu
waschen und — im Namen von Croce oder James — auf die
Entwicklung des deutschen Irrationalismus verachtungsvoll
herabzublicken.
Und endlich: unsere Betrachtungen haben, so hoffen wir,
gezeigt, daß trotz der geistigen Verbindung
Bergson-Sorel-Mussolini die führende Rolle des deutschen
Irrationalismus unvermindert bestehen bleibt. Das Deutschland
des 19. und 20. Jahrhunderts bleibt das „klassische" Land des
Irrationalismus, der Boden, wo dieser sich am vielseitigsten
und umfassendsten entfaltet hat und darum in der lehrreichsten
Weise studiert werden kann, so wie Marx den Kapitalismus in
England untersucht hat.
Wir glauben: diese Tatsache gehört zu den schmachvollsten
Seiten der deutschen Geschichte. Sie muß eben deshalb eingehend
studiert werden, damit die Deutschen sie radikal überwinden und
ihr Fortleben oder ihre Wiederkehr energisch verhindern können.
Das Volk von Dürer und Thomas Münzer, von Goethe und Karl Marx
hat so viel Großes in seiner Vergangenheit, hat so große
Perspektiven für seine Zukunft, daß es keinen Grund hat, vor
einer schonungslosen Abrechnung mit einer gefährlichen
Vergangenheit und ihrem schädlichen, gefahrdrohenden Erbe
zurückzuschrecken. In diesem doppelten — deutschen wie
internationalen — Sinn will dieses Buch eine Warnung, eine Lehre
für jeden ehrlichen Intellektuellen aussprechen.
Budapest, November 1952
Editorische Hinweise
Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft,
Berlin DDR, 3. Auflage 1984, S.5-29, OCR-scan
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