Die Experimente der sozialistischen Marktwirtschaften
II. Ordnungstheoretische Charakterisierung der sozialistischen Marktwirtschaften
von H. Hamel

12-2013

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1. Dezentrale Planung der Wirtschaftsprozesse

Die ordnungspolitische Grundentscheidung für das System der soziali­stischen Marktwirtschaft wurde in Jugoslawien, in der CSSR und in Ungarn mit der Transformation des Systems zentraler Planung in ein System dezentraler Planung der Wirtschaftsprozesse vollzogen. Diese Transformation bedeutet ordnungstheoretisch, daß - im Rahmen der beiden alternativen Möglichkeiten, ein ökonomisch rationales Wirt­schaftssystem zu begründen (1) - das eine Grundsystem durch das an-dere abgelöst worden ist. Die Lenkung wirtschaftlicher Gesamtprozesse vermittels zentraler güterwirtschaftlicher Planbilanzen, in denen die politische Führung nach ihren je eigenen Wertvorstellungen darüber entscheidet, welchen Zielen der Daseinsgestaltung der volkswirtschaft­liche Apparat dienen soll, ist ersetzt worden durch die Lenkung der Gesamtprozesse nach Maßgabe einzelwirtschaftlicher Rationalitätskri­terien, die bezogen auf die Unternehmungen in den realisierten Syste­men betrieblicher Ergebnisrechnung und bezogen auf die Haushaltun­gen in den erwarteten Nutzenwirkungen der verfügbaren Einkommen bestehen. Hiernach soll also in den Betrieben und Haushaltungen (ein­schließlich der staatlichen Organe) entschieden werden, welche Ziele der Daseinsgestaltung mit Hilfe des volkswirtschaftlichen Apparates ver­wirklicht werden sollen - allerdings: auf der Grundlage der staatlich geplanten Ordnung, des wirtschaftspolitisch geformten Bedingungssy­stems und prozeßpolitischer Steuerungsmethoden.

2. Vom Markt bestimmte Leistungsanreize und Kontrollen

Mit der Änderung des Planungssystems mußte zugleich ein neues Sy­stem der Leistungsanreize sowie ein entsprechendes System der Kon­trollen von Leistungen und Interessen realisiert werden. Das entsprach der Forderung Siks, »den Charakter und die Art der Aufstellung der Volkswirtschaftspläne zu ändern, die Selbständigkeit der Unterneh­men bei konkreter Festlegung aller Seiten der Produktionsentwicklung wesentlich zu erhöhen und mittels der tatsächlichen Ausnutzung der Ware-Geld- und der Marktbeziehungen das ökonomische Interesse und den Druck in den Unternehmen auf die Optimierung ihrer Produktion zu schaffen«.(2)

Die betrieblichen Leistungsanreize bestehen nicht mehr in der Erfül­lung und Übererfüllung zentral auferlegter Pläne und in den hiermit verbundenen Prämien, sondern in den auf dem Markt erzielten Erlö­sen und den hieraus sich ergebenden betrieblichen Einkommen oder Ge­winnen; diese sollen als »Hauptrichtungsweiser und Maßstab der wirt­schaftlichen Tätigkeit der sozialistischen staatlichen Unternehmen«(3) fungieren. Aufgrund der gesellschaftlichen Bewertung und Kontrolle betrieblicher Gesamtleistungen durch den Markt soll das Interesse der Betriebe darauf gerichtet sein, »Initiativen zu ergreifen, Innovationen zu verwirklichen, Märkte zu schaffen und sich ihnen anzupassen, Ver­träge zu schließen, ihre Konsequenzen zu tragen, sich an Weltwirt­schaftstendenzen zu orientieren, ihnen zuvorzukommen, zu Akteuren am Weltmarkt zu werden, den in den Menschen schlummernden Qua­litäten zum Durchbruch zu verhelfen«. Die Unternehmen sollen keine Befehlsempfänger mehr sein, sondern »selbständig handelnde, selbstän­dig entscheidende Sozialkörper, Partner und teilweise Gleichgewichts­träger (im Sinne des >countervailing power<) des Staatsapparates«.(4)

Mit diesem neuen betrieblichen Anreizsystem traten zugleich an die Stelle der bürokratischen Kontrollen von Leistungen und Interessen vorwiegend Kontrollen durch den Markt, d. h. durch die Interessen der Vertragspartner (Nachfrager) und der Mitanbieter. Damit der Markt »die Funktion der gesellschaftlichen Bewertung und Kontrolle«(5) aus­üben kann, wurden die Marktbeziehungen zwischen den Unternehmen weitgehend liberalisiert. Die Unternehmer können nun ihre Lieferanten und Abnehmer frei wählen; sie können über den Groß- und Einzelhan­del oder direkt an die Verbraucher liefern. Die Preise sollen »nicht mehr als bloße Verrechnungsgrößen, sondern als echte Knappheitsmesser fungieren«(6) und sich durch das Zusammenwirken von Produktions­kosten, Werturteilen der Märkte und staatlichen Präferenzen bilden; nur so könnten sie ihre Funktion erfüllen, »Produzenten und Verbrau­cher in ihren ökonomischen Beschlüssen richtig zu orientieren und an­zuspornen, d. h. die vernünftige Nutzung der wirtschaftlichen Kraft­quellen, die Anpassung der Produktion an die Nachfrage, die rasche Entwicklung der Technik, die Verbreitung moderner Erzeugnisse, die Bildung einer ökonomischen Verbrauchsstruktur und das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zu fördern«.(7)

Der hierfür erforderliche Wettbewerb auf den Märkten war jedoch - vor allem in der ersten Phase nach der Transformation - am schwie­rigsten zu realisieren. Einmal versuchten die noch vorhandenen Mittel­instanzen (in Jugoslawien auch die Gemeinden) die Selbständigkeit der Unternehmen zu untergraben, den Wettbewerb zwischen ihnen zu be­hindern und die vorhandenen Verzerrungen der Wirtschaftsstruktur zu zementieren;(8) zum anderen entstanden aufgrund des geringen Güter­angebots vielfach »Verkäufermärkte«, deren monopolistische Wirkun­gen durch die (noch im administrativen System verfügte) starke Spe­zialisierung und Konzentration der Unternehmen noch erhöht wur­den.(9) Da die Konzentration jedoch bis zu einem gewissen Grad durch die moderne Produktionsweise bedingt und in kleinen Ländern zu­gunsten der internationalen Konkurrenzfähigkeit notwendig ist, hofft man auf die erforderlichen ökonomischen Impulse durch den Weltmarkt. Allerdings unterlag gerade der Außenhandelsverkehr zunächst noch zahlreichen Vorschriften und Reglementierungen (10), die jedoch nach und nach vermindert werden sollen.

3. Zentrale Planung der Entwicklung und der Steuerungsmethoden

Allen sozialistischen Marktwirtschaften gemeinsam ist vor allem, daß mit der ordnungspolitischen Formung und prozeßpolitischen Steuerung bestimmte wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele (Wachstum, Vertei­lung des Volkseinkommens u. a.) verwirklicht werden sollen. Das ord­nungspolitisch geformte Bedingungssystem des betrieblichen Geschehens und die prozeßpolitischen Steuerungsmethoden sollen bewirken, da mit dem betrieblichen Erfolgsstreben zugleich die zentral bestimmte' Ziele der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung realisiert werden. Da entscheidende Charakteristikum der sozialistischen Marktwirtschafte war nach Meinung vor allem der tschechoslowakischen Reformpoliti-ker die »Synthese von Plan und Markt«.(11) In diesem Sinne galt auch in Ungarn als Hauptkriterium des neuen Wirtschaftsmechanismus »di-nahtlose Verbindung der planmäßigen zentralen Lenkung der Volks Wirtschaft mit der aktiven Rolle des Marktes auf der Basis der soziali­stischen Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln«.(12)

Welche Art von Planung war hiermit gemeint? Auf jeden Fall »eine vollkommen andere Planung als die bisher praktizierte«.(13) Vielmehr handelt es sich um langfristige »makroökonomische« Pläne, in denen einmal die »grundlegenden Proportionen« zur Entwicklung der Volks­wirtschaft und zum anderen »die am besten geeigneten Formen der Wirtschaftspolitik« festgelegt werden sollen.(14)

Zu den grundlegenden Proportionen gehören die Proportionen der Produktion, die Aufteilung des Nationaleinkommens in Akkumula­tion und Konsumtion sowie die Proportion zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Verbrauch. Diese Proportionen, die aus langfristigen Zielprojektionen (15-20 Jahre) und aus der »Analyse der grundle­genden Entwicklungstendenzen sowohl der gesellschaftlichen Bedürf­nisse (Lebensniveau, Lebensweise u. ä.) als auch der Produktionsfakto­ren (technische Änderungen, Rohstoff- und Energiequellen, Population usw.)«(15) ermittelt werden, bestimmen die einzelnen Entwicklungszie­le der Fünfjahrpläne: das Wachstum der Gesamtproduktion, die Grundstruktur des Marktes und der Produktion, die technische Ent­wicklung und ihre Auswirkung auf die Struktur der Produktion, mit welchem Umfang an Investitionen und Zuwachs an Arbeitskräften in den einzelnen Wirtschaftszweigen zu rechnen ist, wie sich die Geldein­kommen der Bevölkerung entwickeln sollen und welche Einnahmen der Staat benötigt, um die vorgesehenen öffentlichen Aufgaben finanzieren zu können. Diese Ziele der makroökonomischen Entwicklung werden jedoch nicht über untergeordnete Planungsorgane bis in die Betriebe aufgeschlüsselt; sie sollen vielmehr den Betrieben eine »grundlegende Orientierung« über die von den Zentralorganen vorgesehene langfristige Entwicklung der Volkswirtschaft vermitteln und Informationen für die betrieblichen Planentscheidungen liefern.(16)

Nach Kozusnik besteht »der Unterschied, der für die Rolle des Volks­wirtschaftsplans im alten und neuen Lenkungsmodell kennzeichnend ist, ... nicht einmal so sehr in dem vom Plan behandelten Fragenbe­reich als vielmehr im Lösungsweg und insbesondere in den Instrumen­ten, die zur Realisierung der Pläne eingesetzt werden«.(17) Demgemäß umfasse der Plan neben dem unverbindlichen Zielprogramm für die Entwicklung der Volkswirtschaft »ein verbindliches Programm für die Wirtschaftspolitik der zentralen Lenkungsorgane.« Mit diesem Pro­gramm für den Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente gelte es, zielbewußt solche ökonomischen Bedingungen zu schaffen, »durch die die Betriebe aufgrund ihrer eigenen Interessen veranlaßt werden, Entschei­dungen zu fällen, die sich in Einklang mit den Grundzielen des Volks­wirtschaftsplans befinden«.(18) So sollen die wirtschaftspolitischen In­strumente der Finanzpolitik (Investitions- und Strukturpolitik), der Steuerpolitik, der Kredit- und Zinspolitik, der Lohn- und Preispolitik sowie der Außenhandelspolitik von den Zentralorganen jeweils so ge­staltet werden, »daß die auf ihren eigenen Vorteil bedachten Unterneh­men stets zugleich auch im Interesse der ganzen Gesellschaft entschei­den«. Die neue, sehr wichtige Aufgabe der Zentralorgane bestehe so­mit darin, »beständig die Harmonie der gesellschaftlichen und der Gruppeninteressen durch elastische Anwendung der ökonomischen In­strumente wiederherzustellen«.(19)

»Plan« und »Markt« sollen sich also wechselseitig informieren und korrigieren und so die nötigen Kriterien für die unternehmerischen wie auch für die wirtschaftspolitischen Entscheidungen liefern. Dabei sollen sich die Unternehmen an die vom Markt signalisierten Daten­änderungen anpassen, während mit Hilfe der Wirtschaftspolitik diese vom Markt ausgelösten Reaktionen nach gesamtwirtschaftlichen Ziel­vorstellungen gesteuert werden. Aus dieser Überlegung resultiert die »Synthese von Plan und Markt«, die insoweit als eine Synthese voll zentraler Planung der Entwicklung, prozeßpolitischer Steuerung und dezentraler Planung der Wirtschaftsprozesse (die die Koordination durch den Markt einschließt) zu verstehen ist.(20) In dieser Synthese bil­det »ein Netz von Marktbeziehungen die objektive Grundlage des ganzen Lenkungssystems der sozialistischen Planwirtschaft«.(21) Die zen­trale Planung der volkswirtschaftlichen Entwicklung setzt also ein System dezentraler Planung der Prozesse, das aus einzelwirtschaftlichen Plä­nen hervorgeht, voraus. »Sie ist also grundsätzlich, sachlich und tat-; sächlich etwas wesentlich anderes als die zentrale administrative Pla-: nung der Wirtschaftsprozesse im alten System.«(22)

Anmerkungen

1) Vgl. Hensel, Einführung; ders., Verhältnis
2) Sik, System S. 27
3) Beschluß des ZK der USAP S. 14
4) Vajda, Planung S. 113
5) Beschluß des ZK der USAP S. 14
6)  Lakos, zit. nach Vajna, Reform S. 97
7) Beschluß des ZK der USAP S. 10
8) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 52
9) Vgl. ebenda S. 109 ff.
10) Vgl. ebenda S. 120 ff.
11) Sik, System S. 27
12) Csapo, zit. nach Vajna, Reform S. 53; ebenda S. 108 f.
13) Sik, Planung S. 193
14) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 32
15) Sik, System S. 29
16) Vgl. Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 33. Entsprechendes gilt auch für Jugo­slawien und Ungarn; vgl. Klemenciü, Rezeption S. 158 f.; Hamel, Ungarn S. 198 f.
17) Kozusnik, Entwicklung S. 34
18) Kozusnik, Entwicklung S. 35
19)Beschluß des ZK der KPC, in: Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 175.
20) Dies entsprach auch den Vorstellungen in der DDR 1969/70: »Die zentrale Planung wird sich stärker auf die Grundfragen der gesellschaftlichen und ökonomischen Ent­wicklung konzentrieren, während gleichzeitig den Kombinaten und den Betrieben di« volle Verantwortung für die Planung und Leitung ihres Reproduktionsprozesses über­tragen wird.« (Nick: Gesellschaft S. 201. Eig. Hervorhebung - H. H.). Allerdings verwarf Nick die hieraus gefolgerte »Synthese von Plan und Markt« als revisionistisch. Vgl. auch unten S. 202
21) Kozusnik, Entwicklung S. 32 (eig. Hervorhebung - H. H.)
22) Hensel u. Mitarb., Marktwirtschaft S. 37

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Ludwig Bress, Karl Paul Hensel u. a.,Wirtschaftssysteme des Sozialismus im Experiment : Plan oder Markt. - Frankfurt am Main, 1972, S.178-182, davon S.170-177

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