In
Marokko nimmt die Gewalt gegen MigrantInnen zu,
berichten seit dem Vorjahr Flüchtlingsorganisationen
und Hilfsorganisationen. Besonders subsaharische
Flüchtlinge, die hier hoffen, im Land Arbeit zu finden
oder aber im Transit eine Chance suchen, um nach
Europa zu gelangen, erdulden Misshandlungen und
rassistische Ausgrenzung. Insgesamt, so schätzt die
Plattform für Identifizierung und Zusammenarbeit mit
Undokumentierten Migranten PICUM, leben zwischen 25000
und 45000 Sans-Papiers in Marokko.
Während im Juni
das Abkommen über die "Mobilitätspartnerschaft" zwischen Marokko
und der EU unterzeichnet wurde, lancierten die
Flüchtlingsorganisationen GADEM – Antirassistische Gruppe zur
Begleitung und Verteidigung der Ausländer und Migranten – sowie
ALECMA, AMDH und FMAS eine "Kampagne Nr. 9": "Stoppt die Gewalt
gegen die Migranten in Marokko an den Grenzen". Diese
Selbstorganisationen mit Nähe zu den migrantischen
Lebensbedingungen konnten nur appellieren. Der Vertrag zwischen
den neun EU-Regierungen und Marokko jedoch geht auf jahrelange
Verhandlungen zurück. Nicht von den jüngeren Ereignissen
diktiert, sieht er Visa-Erleichterungen für registrierte, legale
EinwohnerInnen Marokkos unter bestimmten Umständen und bei
Kontrolle der Migration vor.
Aber deutliche
Worte gegenüber der EU gab es hinreichend- auch von den Ärzten
ohne Grenzen. Sie berichteten in einem umfangreichen Dokument im
März 2013 von den zunehmenden Gewaltakten und unmenschlicher
Behandlung in Marokko, und schließlich gab im September der
Nationale Rat für Menschenrechte CNDH seinen Bericht "Ausländer
und Menschenrechte in Marokko: Für eine radikal erneuerte Asyl-
und Einwanderungspolitik" heraus. Und der CNDH hat einen
gewissen politischen Status im Land. So drang das Thema auch ins
Blickfeld der marokkanischen Regierung. König Mohammed VI
befasste sich dann mit der Flüchtlingspolitik des Landes, und
sein Versprechen, "mehr Einwanderer zu regularisieren und zu
integrieren", ging durch die Landespresse. Er äußerte aber auch,
dass "nicht jeder, der hierherkommt", darauf hoffen könne.
Dennoch: Seit September kommt eine
"globale, humane
Einwanderungspolitik" auch in den Reden des Ministers für
Auslandsangelegenheiten Yussuf Amrani und des Ministers für
Beschäftigung und Berufsentwicklung Abdelwahad Souhail dauernd
zu Gehör. Offenbar geht es ihnen vorwiegend um Migration zu
beruflichen Zwecken folgend der "Mobilitätspartnerschaft", doch
auch soziale Programme für Familien und Flüchtlinge versprach
Souhail. Abzuwarten ist, wie viel davon wirklich stützend sein
wird für die Versorgung von Sans-Papiers. Die EU hingegen
antwortete auf den CNDH-Bericht festgelegt und kühl. Die
"Mobilitätspartnerschaft" wird als Ausweg für alle Missstände
dargestellt, der Abschottungskurs beibehalten.
Von "Verschärfter
Repression gegen Migranten in Marokko- eine Gewalt, die man
überwunden glaubte"- schrieben GADEM und der Rat der
Subsahara-MigrantInnen CMSM in einem Bericht vom September 2012.
In den Augenzeugenberichten geht es um gewalttätige Handlungen
gegen Geflüchtete, die am Grenzzaun der spanischen Enklave
Melilla zurückgedrängt wurden. Etwa im August 2012 wurden die
Betroffenen von der Guardia Civil gestoppt und an Händen und
Füßen gefesselt dem marokkanischen Militär übergeben. "Letztere
führten sie in eine verlassene Ecke, schlugen sie und
durchsuchten sie." Handies, Schmuck, Geld und Schuhe wurden
ihnen abgenommen. Nach einer polizeilichen Registrierung wurden
sie zur algerischen Grenze gefahren. "Dabei ein 14-15-jähriger
und zahlreiche Verletzte, denen man nicht erlaubte, das
Krankenhaus aufzusuchen." Bei solchen "blind und kollektiv
getätigten Rückschiebungen durch Spanien" werden eventuelle
Asylanträge verweigert. Im Zuge dieser Maßnahmen, schreiben
GADEM und CMSM, habe der Vorsitzende der Volkspartei von Melilla
Juan José Imbroda "die marokkanischen Autoritäten dazu
beglückwünscht, dass ' sie funktioniert hätten, wie noch nicht
zuvor auf diesem Terrain.' Besorgnis erregen auch die
brutalisierten Razzien, mit denen die Behausungen von
Geflüchteten von Polizei heimgesucht werden, besonders bei
Tanger an der Nordküste, bei Nador vor Melilla und in Oujda in
Nähe zur algerischen Grenze. Die Kontrolleinheiten tauchen auf,
"stellen Fragen und nehmen Leute mit". Es gebe "keine
individuellen Erkundungen, nicht mal ein einfaches Gespräch. '
Man will hier keine Schwarzen mehr', ist die einzige
Begründung," so GADEM und CMSM.
Von anderen
Razzien im Juli 2013 schreibt GADEM dieses Jahr. Im Wald in der
Nähe von Nador wurden Flüchtlinge aufgestört und ein junger Mann
habe dabei "unmenschliche Stock-Bastonnaden" erlitten. Bei einer
weiteren Razzia im Viertel Boukhalef in Tanger am 24. Juli wurde
außerdem ein Mann getötet. Als ein Großaufgebot von
Sicherheitskräften in den frühen Morgenstunden die BewohnerInnen
weckte, indem man die Türen eintrat, wurde nicht einmal nach
Papieren gefragt. Man drängte die Menschen direkt in den Bus für
die Abschiebung. Dabei wurde ein Mann aus dem Fenster des Busses
gestoßen und kam zu Tode.
Von
den Razzien sowie Rückdrängungen am Grenzzaun von Melilla
berichteten auch Ärzte ohne Grenzen in Marokko (MSF) im März
2013, die ihre Arbeit in den Krankenstationen in Rabat, Nador
und Oujda regelmäßig dokumentieren. Auch Misshandlungen durch
andere Gruppen, wie Menschenhändlern und Einzeltätern aus der
Bevölkerung, zählen zur täglichen Gefahr. Innerhalb von sechs
Monaten in 2012 stieg die Zahl der Verwundungen als Folge
direkter Gewaltakte von 4 Prozent auf 23 Prozent, vermerkt das
Dokument "Gewalt, Verwundbarkeit und Migration: Blockiert an den
Toren Europas", das sich auf den Zeitabschnitt von Ende 2011 bis
März 2013 bezieht. In dieser Zeit fanden einige tausend
Geflüchtete in die Krankenstationen von MSF. Ausgeschlagene
Zähne, Kopf- und Rückgratverletzungen und Traumatisierungen hält
MSF als einige Folgen von Misshandlungen fest. Mit Fotos sind
Verstümmelungen von Opfern dokumentiert. "Die täglichen Razzien
bewirken, dass die Mehrzahl der Migranten immer in Angst vor
Verhaftung und Abschiebung leben." Schlafstörungen und
Gesundheitsbeeinträchtigungen seien deshalb normal für die
Betroffenen, die in Verstecken in den Wäldern zurückgezogen
leben. Schläge wurden oft bei Razzien angewendet, die Habe der
Betroffenen verbrannt. Oft brachten die Sicherheitskräfte auch
Schwerverletzte oder Schwangere an die Grenze. Illegal ist es
aber nach marokkanischem Gesetz, Schwerverletzte, Minderjährige
und Schwangere abzuschieben. "In 2012 wurden mehr als 6000
Menschen abgeschoben. Nach den Angaben bei MSF wurden mindestens
93 Frauen, davon 18 Schwangere, 45 Minderjährige, 35 Kinder
abgeschoben" sowie "mehr als 500 Personen, die eine medizinische
Maßnahme infolge Verwundungen mit Gewalteinfluß nötig hatten".
Von
unmenschlicher Behandlung bei Melilla berichtet im MSF-Dokument
z. B. Mohamed, 26 Jahre: Er gehörte zu einer Gruppe
Geflüchteter, die von den Sicherheitskräften aufgegriffen und
einem Schlägertrupp zugeführt wurden. "Sie traten mit Stiefeln
ins Gesicht und schlugen uns überall... Sie verabreichten mir
elektrische Schläge im Rücken." MSF hält fest, dass Gewalt
–abgesehen von Banden in der Bevölkerung und von algerischer
Polizei - sowohl von den marokkanischen Militärs wie, mit
geringerer Fallzahl, von der Guardia Civil ausging. Letztere
verwende bei Melilla auch Gummigeschosse und elektronische
Teazer. Zwei Augenverluste infolge von Gummigeschossen
dokumentierten MSF im Bericht. Und MSF prangern eine "extreme
Gewalt" bei den Grenzkontrollen bei Melilla an als Folge der
bilateralen Sicherheitspolitik mit Spanien: "Die fundamentalen
Menschenrechtsverletzungen der subsaharischen Migranten" und
"erniedrigende Behandlungen" seien "die direkten Folgen der '
neuen Ära ' der spanischen und marokkanischen Beziehungen und
einer 'exzellenten' Sicherheitszusammenarbeit in 2012".
Ohne Einzelheiten
zu dokumentieren, assistiert der Rat für Menschenrechte CNDH in
seinem diesjährigen Bericht den Aufrufen, die Mißhandlungen zu
stoppen. Er erinnert daran, dass Marokko ein Land der Ein- und
Auswanderung sei "seit der ersten Welle im ersten Weltkrieg",
und dass dies auch gut sei. Und fordert, dass zivile und
öffentliche Akteure des Landes dem gerecht werden. Vorsichtig
wird formuliert: Der CNDH wolle " das Prinzip der marokkanischen
Autoritäten, Einreise und Aufenthalt der Ausländer zu
kontrollieren, nicht strittig machen", aber "die öffentlichen
Behörden könnten sich nicht Verfassungs-Gegebenheiten über
Menschenrechte und die Rechte von Ausländern entziehen".
Gleichzeitig fordert der CNDH mehr Integration von Einreisenden
sowie auch, sich bei den Kontrollen von Ausländern an die
Konvention über Kinderrechte, die Konvention gegen Folter u.v.
a. zu halten. Dabei adressiert man an "die öffentlichen
Kräfte...und die Partnerländer von Marokko." Und das wäre ein
Angelpunkt für Europa, trotz der hochdiplomatischen Sprache des
Papiers: Seit der neuen "Mobilitätspartnerschaft" gibt es nicht
nur den bilateralen Vertrag, sondern neun EU-Regierungen haben
für ihr Interesse an "gesteuerter Migration" den Vertrag mit
Marokko erlangt. Sie könnten sich auch verantwortlich fühlen,
hier dem Appell Folge zu leisten.
Der
EU-Botschafter in Marokko Rupert Joy "begrüßte das günstige
Klima, mit dem der Bericht über Menschenrechte in Marokko
aufgenommen wurde" (Marokkanische Presseagentur MAP). Und
befand, dass die "Mobilitätspartnerschaft" in die richtige
Richtung weise, denn es gehe ja gemeinsam gegen die "illegale
Migration". Auch wolle die EU noch ein Begleitprogramm auf den
Weg bringen, "inspiriert vom Bericht des CNDH". Bei dieser
herablassenden Reaktion zeigte sich Joy blind gegen einen
Zusammenhang von Abriegelung der europäischen Außengrenze und
vermehrten sozialen Spannungen und Gewalt. Und der
augenblickliche Notstand, die faktische Verwundbarkeit der
Papierlosen, fiel dabei unter den Tisch.
So gibt es also
von Brüssel Schweigen zu den alarmierenden Berichten, die seit
einem Jahr von den oben genannten Organisationen, Schlag auf
Schlag, geliefert wurden. Dieses Thema wird den Vereinten
Nationen zur Besprechung überlassen, und auch als innenpolitisch
marokkanisches Problem hingestellt. Die neue
"Mobilitätspartnerschaft" kann Änderungen für Gruppen der
Bevölkerung bringen – mehr Kurzzeitvisa für marokkanische
EinwohnerInnen und Berufsaufenthalte in Europa können damit
eingeräumt werden, unter dem Anspruch der kontrollierten
Rückführungen mit Zusicherung der marokkanischen Regierung. Doch
Sans-Papiers auf dem Transitweg, die nicht legalisiert und mit
ihren Asylanträgen gehört werden, und Willkürhandlungen von
Sicherheitskräften ausgesetzt sind, bleiben in Gefahr.
Hingegen forderte
das Netzwerk "Migreurop" im August: Die EU-Innenkommissarin
Cecilia Malmström und die EU-Außenminister müßten "unmittelbar
handeln, um die polizeilichen Ausschreitungen gegen Migranten in
Marokko sofort zu beenden". Doch die Missstände sind noch nicht
mal in die Presse der bürgerlichen Mitte durchgedrungen, z. B.
hierzulande: Wer etwa bei der "Süddeutschen", dem "Spiegel" und
anderen großen Zeitungen unter Stichwort "Marokko" und
"Menschenrechtsrat" oder "Ärzte ohne Grenzen" suchte, fand noch
Mitte Oktober nichts von den oben erwähnten Berichten, die die
marokkanische Presse aufstörten. Tangiert sieht sich die
auflagenstarke deutsche Presse vielmehr von Bewegungen direkt am
Grenzzaun: Von dem vermeinten "Ansturm", von
"Flüchtlingsströmen" bei Melilla. Das Desinteresse daran, wie
die Asylsuchenden am Zaun misshandelt werden oder vor der
Außengrenze ums Überleben kämpfen, kann aber
Abschottungsdiskurse weiterhin stützen.
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.
|