Subsahara-Flüchtlinge in Marokko: Verwundbar in der Grauzone
Gewalt bei Grenzkontrollen verschärfte sich, und zugleich zeigt sich die EU desinteressiert gegenüber Appellen


von
Birgit v. Criegern

12-2013

trend
onlinezeitung

In Marokko nimmt die Gewalt gegen MigrantInnen zu, berichten seit dem Vorjahr Flüchtlingsorganisationen und Hilfsorganisationen. Besonders subsaharische Flüchtlinge, die hier hoffen, im Land Arbeit zu finden oder aber im Transit eine Chance suchen, um nach Europa zu gelangen, erdulden Misshandlungen und rassistische Ausgrenzung. Insgesamt, so schätzt die Plattform für Identifizierung und Zusammenarbeit mit Undokumentierten Migranten PICUM, leben zwischen 25000 und 45000 Sans-Papiers in Marokko.

Während im Juni das Abkommen über die "Mobilitätspartnerschaft" zwischen Marokko und der EU unterzeichnet wurde, lancierten die Flüchtlingsorganisationen GADEM – Antirassistische Gruppe zur Begleitung und Verteidigung der Ausländer und Migranten – sowie ALECMA, AMDH und FMAS eine "Kampagne Nr. 9": "Stoppt die Gewalt gegen die Migranten in Marokko an den Grenzen". Diese Selbstorganisationen mit Nähe zu den migrantischen Lebensbedingungen konnten nur appellieren. Der Vertrag zwischen den neun EU-Regierungen und Marokko jedoch geht auf jahrelange Verhandlungen zurück. Nicht von den jüngeren Ereignissen diktiert, sieht er Visa-Erleichterungen für registrierte, legale EinwohnerInnen Marokkos unter bestimmten Umständen und bei Kontrolle der Migration vor.

Aber deutliche Worte gegenüber der EU gab es hinreichend- auch von den Ärzten ohne Grenzen. Sie berichteten in einem umfangreichen Dokument im März 2013 von den zunehmenden Gewaltakten und unmenschlicher Behandlung in Marokko, und schließlich gab im September der Nationale Rat für Menschenrechte CNDH seinen Bericht "Ausländer und Menschenrechte in Marokko: Für eine radikal erneuerte Asyl- und Einwanderungspolitik" heraus. Und der CNDH hat einen gewissen politischen Status im Land. So drang das Thema auch ins Blickfeld der marokkanischen Regierung. König Mohammed VI befasste sich dann mit der Flüchtlingspolitik des Landes, und sein Versprechen, "mehr Einwanderer zu regularisieren und zu integrieren", ging durch die Landespresse. Er äußerte aber auch, dass "nicht jeder, der hierherkommt", darauf hoffen könne. Dennoch: Seit September kommt eine

"globale, humane Einwanderungspolitik" auch in den Reden des Ministers für Auslandsangelegenheiten Yussuf Amrani und des Ministers für Beschäftigung und Berufsentwicklung Abdelwahad Souhail dauernd zu Gehör. Offenbar geht es ihnen vorwiegend um Migration zu beruflichen Zwecken folgend der "Mobilitätspartnerschaft", doch auch soziale Programme für Familien und Flüchtlinge versprach Souhail. Abzuwarten ist, wie viel davon wirklich stützend sein wird für die Versorgung von Sans-Papiers. Die EU hingegen antwortete auf den CNDH-Bericht festgelegt und kühl. Die "Mobilitätspartnerschaft" wird als Ausweg für alle Missstände dargestellt, der Abschottungskurs beibehalten.

Von "Verschärfter Repression gegen Migranten in Marokko- eine Gewalt, die man überwunden glaubte"- schrieben GADEM und der Rat der Subsahara-MigrantInnen CMSM in einem Bericht vom September 2012. In den Augenzeugenberichten geht es um gewalttätige Handlungen gegen Geflüchtete, die am Grenzzaun der spanischen Enklave Melilla zurückgedrängt wurden. Etwa im August 2012 wurden die Betroffenen von der Guardia Civil gestoppt und an Händen und Füßen gefesselt dem marokkanischen Militär übergeben. "Letztere führten sie in eine verlassene Ecke, schlugen sie und durchsuchten sie." Handies, Schmuck, Geld und Schuhe wurden ihnen abgenommen. Nach einer polizeilichen Registrierung wurden sie zur algerischen Grenze gefahren. "Dabei ein 14-15-jähriger und zahlreiche Verletzte, denen man nicht erlaubte, das Krankenhaus aufzusuchen." Bei solchen "blind und kollektiv getätigten Rückschiebungen durch Spanien" werden eventuelle Asylanträge verweigert. Im Zuge dieser Maßnahmen, schreiben GADEM und CMSM, habe der Vorsitzende der Volkspartei von Melilla Juan José Imbroda "die marokkanischen Autoritäten dazu beglückwünscht, dass ' sie funktioniert hätten, wie noch nicht zuvor auf diesem Terrain.' Besorgnis erregen auch die brutalisierten Razzien, mit denen die Behausungen von Geflüchteten von Polizei heimgesucht werden, besonders bei Tanger an der Nordküste, bei Nador vor Melilla und in Oujda in Nähe zur algerischen Grenze. Die Kontrolleinheiten tauchen auf, "stellen Fragen und nehmen Leute mit". Es gebe "keine individuellen Erkundungen, nicht mal ein einfaches Gespräch. ' Man will hier keine Schwarzen mehr', ist die einzige Begründung," so GADEM und CMSM.

Von anderen Razzien im Juli 2013 schreibt GADEM dieses Jahr. Im Wald in der Nähe von Nador wurden Flüchtlinge aufgestört und ein junger Mann habe dabei "unmenschliche Stock-Bastonnaden" erlitten. Bei einer weiteren Razzia im Viertel Boukhalef in Tanger am 24. Juli wurde außerdem ein Mann getötet. Als ein Großaufgebot von Sicherheitskräften in den frühen Morgenstunden die BewohnerInnen weckte, indem man die Türen eintrat, wurde nicht einmal nach Papieren gefragt. Man drängte die Menschen direkt in den Bus für die Abschiebung. Dabei wurde ein Mann aus dem Fenster des Busses gestoßen und kam zu Tode.

Von den Razzien sowie Rückdrängungen am Grenzzaun von Melilla berichteten auch Ärzte ohne Grenzen in Marokko (MSF) im März 2013, die ihre Arbeit in den Krankenstationen in Rabat, Nador und Oujda regelmäßig dokumentieren. Auch Misshandlungen durch andere Gruppen, wie Menschenhändlern und Einzeltätern aus der Bevölkerung, zählen zur täglichen Gefahr. Innerhalb von sechs Monaten in 2012 stieg die Zahl der Verwundungen als Folge direkter Gewaltakte von 4 Prozent auf 23 Prozent, vermerkt das Dokument "Gewalt, Verwundbarkeit und Migration: Blockiert an den Toren Europas", das sich auf den Zeitabschnitt von Ende 2011 bis März 2013 bezieht. In dieser Zeit fanden einige tausend Geflüchtete in die Krankenstationen von MSF. Ausgeschlagene Zähne, Kopf- und Rückgratverletzungen und Traumatisierungen hält MSF als einige Folgen von Misshandlungen fest. Mit Fotos sind Verstümmelungen von Opfern dokumentiert. "Die täglichen Razzien bewirken, dass die Mehrzahl der Migranten immer in Angst vor Verhaftung und Abschiebung leben." Schlafstörungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen seien deshalb normal für die Betroffenen, die in Verstecken in den Wäldern zurückgezogen leben. Schläge wurden oft bei Razzien angewendet, die Habe der Betroffenen verbrannt. Oft brachten die Sicherheitskräfte auch Schwerverletzte oder Schwangere an die Grenze. Illegal ist es aber nach marokkanischem Gesetz, Schwerverletzte, Minderjährige und Schwangere abzuschieben. "In 2012 wurden mehr als 6000 Menschen abgeschoben. Nach den Angaben bei MSF wurden mindestens 93 Frauen, davon 18 Schwangere, 45 Minderjährige, 35 Kinder abgeschoben" sowie "mehr als 500 Personen, die eine medizinische Maßnahme infolge Verwundungen mit Gewalteinfluß nötig hatten".

Von unmenschlicher Behandlung bei Melilla berichtet im MSF-Dokument z. B. Mohamed, 26 Jahre: Er gehörte zu einer Gruppe Geflüchteter, die von den Sicherheitskräften aufgegriffen und einem Schlägertrupp zugeführt wurden. "Sie traten mit Stiefeln ins Gesicht und schlugen uns überall... Sie verabreichten mir elektrische Schläge im Rücken." MSF hält fest, dass Gewalt –abgesehen von Banden in der Bevölkerung und von algerischer Polizei - sowohl von den marokkanischen Militärs wie, mit geringerer Fallzahl, von der Guardia Civil ausging. Letztere verwende bei Melilla auch Gummigeschosse und elektronische Teazer. Zwei Augenverluste infolge von Gummigeschossen dokumentierten MSF im Bericht. Und MSF prangern eine "extreme Gewalt" bei den Grenzkontrollen bei Melilla an als Folge der bilateralen Sicherheitspolitik mit Spanien: "Die fundamentalen Menschenrechtsverletzungen der subsaharischen Migranten" und "erniedrigende Behandlungen" seien "die direkten Folgen der ' neuen Ära ' der spanischen und marokkanischen Beziehungen und einer 'exzellenten' Sicherheitszusammenarbeit in 2012".

Ohne Einzelheiten zu dokumentieren, assistiert der Rat für Menschenrechte CNDH in seinem diesjährigen Bericht den Aufrufen, die Mißhandlungen zu stoppen. Er erinnert daran, dass Marokko ein Land der Ein- und Auswanderung sei "seit der ersten Welle im ersten Weltkrieg", und dass dies auch gut sei. Und fordert, dass zivile und öffentliche Akteure des Landes dem gerecht werden. Vorsichtig wird formuliert: Der CNDH wolle " das Prinzip der marokkanischen Autoritäten, Einreise und Aufenthalt der Ausländer zu kontrollieren, nicht strittig machen", aber "die öffentlichen Behörden könnten sich nicht Verfassungs-Gegebenheiten über Menschenrechte und die Rechte von Ausländern entziehen". Gleichzeitig fordert der CNDH mehr Integration von Einreisenden sowie auch, sich bei den Kontrollen von Ausländern an die Konvention über Kinderrechte, die Konvention gegen Folter u.v. a. zu halten. Dabei adressiert man an "die öffentlichen Kräfte...und die Partnerländer von Marokko." Und das wäre ein Angelpunkt für Europa, trotz der hochdiplomatischen Sprache des Papiers: Seit der neuen "Mobilitätspartnerschaft" gibt es nicht nur den bilateralen Vertrag, sondern neun EU-Regierungen haben für ihr Interesse an "gesteuerter Migration" den Vertrag mit Marokko erlangt. Sie könnten sich auch verantwortlich fühlen, hier dem Appell Folge zu leisten.

Der EU-Botschafter in Marokko Rupert Joy "begrüßte das günstige Klima, mit dem der Bericht über Menschenrechte in Marokko aufgenommen wurde" (Marokkanische Presseagentur MAP). Und befand, dass die "Mobilitätspartnerschaft" in die richtige Richtung weise, denn es gehe ja gemeinsam gegen die "illegale Migration". Auch wolle die EU noch ein Begleitprogramm auf den Weg bringen, "inspiriert vom Bericht des CNDH". Bei dieser herablassenden Reaktion zeigte sich Joy blind gegen einen Zusammenhang von Abriegelung der europäischen Außengrenze und vermehrten sozialen Spannungen und Gewalt. Und der augenblickliche Notstand, die faktische Verwundbarkeit der Papierlosen, fiel dabei unter den Tisch.

So gibt es also von Brüssel Schweigen zu den alarmierenden Berichten, die seit einem Jahr von den oben genannten Organisationen, Schlag auf Schlag, geliefert wurden. Dieses Thema wird den Vereinten Nationen zur Besprechung überlassen, und auch als innenpolitisch marokkanisches Problem hingestellt. Die neue "Mobilitätspartnerschaft" kann Änderungen für Gruppen der Bevölkerung bringen – mehr Kurzzeitvisa für marokkanische EinwohnerInnen und Berufsaufenthalte in Europa können damit eingeräumt werden, unter dem Anspruch der kontrollierten Rückführungen mit Zusicherung der marokkanischen Regierung. Doch Sans-Papiers auf dem Transitweg, die nicht legalisiert und mit ihren Asylanträgen gehört werden, und Willkürhandlungen von Sicherheitskräften ausgesetzt sind, bleiben in Gefahr.

Hingegen forderte das Netzwerk "Migreurop" im August: Die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und die EU-Außenminister müßten "unmittelbar handeln, um die polizeilichen Ausschreitungen gegen Migranten in Marokko sofort zu beenden". Doch die Missstände sind noch nicht mal in die Presse der bürgerlichen Mitte durchgedrungen, z. B. hierzulande: Wer etwa bei der "Süddeutschen", dem "Spiegel" und anderen großen Zeitungen unter Stichwort "Marokko" und "Menschenrechtsrat" oder "Ärzte ohne Grenzen" suchte, fand noch Mitte Oktober nichts von den oben erwähnten Berichten, die die marokkanische Presse aufstörten. Tangiert sieht sich die auflagenstarke deutsche Presse vielmehr von Bewegungen direkt am Grenzzaun: Von dem vermeinten "Ansturm", von "Flüchtlingsströmen" bei Melilla. Das Desinteresse daran, wie die Asylsuchenden am Zaun misshandelt werden oder vor der Außengrenze ums Überleben kämpfen, kann aber Abschottungsdiskurse weiterhin stützen.

Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.