Wir entwickeln uns zu einer Gesellschaft von Pillenschluckern.“
Buchvorstellung Allen Frances : NORMAL: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen

von Anne Seeck

12-2013

trend
onlinezeitung

Im Mai 2013 ist der neue DSM-V (der Diagnosekatalog der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie) erschienen. Das Buch „Normal“ warnt vor dem DSM- V, der Pharmaindustrie und der Inflation psychiatrischer Diagnosen. Kaum Erwähnung findet allerdings das Leiden jener Psychiatriebetroffener, die schwer krank sind und trotzdem unbehandelt bleiben, obdachlos sind oder im riesigen US-Gefängniskomplex landen.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Normalität im Belagerungszustand, Modediagnosen können gesundheitsschädlich sein und Rückkehr zur Normalität. Im 1. Teil versucht Frances zu definieren, was „normal“ sei, er geht in die Geschichte zurück und warnt vor einer diagnostischen Inflation. Im 2. Teil beschreibt er die Modekrankheiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im 3. Teil gibt er Tipps, wie man die diagnostische Inflation eindämmen kann, er appelliert an den Konsumenten und beschreibt Fallbeispiele, in denen falsche Diagnosen aufgestellt wurden bzw. Alltagserfolge der Psychiatrie erzielt wurden.

Allen Frances stellt nicht seinen Berufsstand insgesamt in Frage, wie es die Antipsychiatrie tut. Für diese ist die Definitionsschwäche von psychischen Störungen Beweis, dass psychische Störungen insgesamt Mythen seien. Für Frances sind das Theoretiker im Elfenbeinturm, denn die Betroffenen hätten mit der schmerzlichen Realität zu kämpfen.

So schreibt Frances über folgende Erkrankung: „Schizophrenie ist zwar keine eigenständige Krankheitseinheit (wie beispielsweise ein Gehirntumor oder ein Schlaganfall), aber sie erzeugt ein tiefgehendes und anhaltendes „dis-ease“, ein Un-Behagen im wahrsten Sinn, nämlich Leiden und Behinderung. Sie hat ein klar erkennbares Symptommuster, kann verlässlich diagnostiziert werden, zeigt eine genetische Disposition, lässt sich mittels bildgebender Verfahren im Gehirn nachweisen, hat einen vorhersagbaren Verlauf und reagiert auf spezifische Behandlung. Schizophrenie ist sehr real und keine psychiatrische Erfindung für die Erkrankten und ihre Angehörigen.“ (Frances, S.47)

Allerdings spricht auch Frances nicht von einer Krankheit. Schizophrenie sei ein nützliches Konstrukt. Sie sei eine Beschreibung einer bestimmten Konstellation psychiatrischer Probleme.

DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)

DSM-1 (veröffentlicht 1952) und DSM-2 (veröffentlicht 1968) blieben noch ungelesen und ungenutzt. Anfang der Siebzigerjahre trat dann eine Wende ein, die nächsten DSM`s führten zur Inflation von Diagnosen. Allen Frances war an der Entwicklung der psychiatrischen Standardwerke DSM- III (veröffentlicht 1980, DSM-III-R erschien 1987) und DSM- IV (veröffentlicht 1994) maßgeblich beteiligt. Ihre Änderungen hätten falschen Epidemien (Autismus, ADHS und bipolare Störung) Vorschub geleistet. Nach der Veröffentlichung des DSM-IV kam heraus, dass 56 Prozent ihrer Experten eine finanzielle Verbindung mit der Pharmaindustrie unterhielten. Vor dem DSM- V warnt er. Ihm sei klargeworden, dass die Pharmaindustrie gewonnen hätte. Die USA sei das einzige Land der Welt, in dem direkt an den Verbraucher gerichtete Arzneimittelwerbung erlaubt sei.

Er schreibt: „Weil es bestimmt, wo die Normalität aufhört und die psychische Erkrankung beginnt, hat das DSM enorme gesellschaftliche Bedeutung erlangt. Es entscheidet über alle möglichen wichtigen Dinge des Alltags, was gewaltige Auswirkungen auf das Leben von Menschen hat- zum Beispiel ist es der Maßstab dafür, wer als gesund und wer als krank gilt, welche Behandlung Erkrankten angeboten wird und wer dafür bezahlt, wer eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhält, wer besondere Betreuung für psychisch Kranke benötigt, sei es in schulischer, berufsbildender oder sonstiger Hinsicht; wer für eine Stelle infrage kommt, ein Kind adoptieren, ein Flugzeug steuern kann und wer bei Abschluss einer Lebensversicherung in welche Risikogruppe fällt; es bestimmt aber auch, ob ein Mörder ein Verbrecher oder ein psychisch Kranker ist, welcher Schadensersatz vor Gericht zuerkannt werden soll und noch viel, viel mehr.“ (Frances, S.11)

Jungle World zum DSM: http://jungle-world.com/artikel/2013/18/47611.html

Die Gefahr: Medikamenten- Überdosierung

„Die Pathologisierung oder Krankheitserfindung ist die hohe Kunst, psychiatrische Krankheiten zu verkaufen, weil sie der effizienteste Absatzmarkt für lukrative Psychopharmaka sind. Besonders leicht manipulierbar ist der Markt in den Vereinigten Staaten: Sie sind das einzige Land der Welt, in dem Pharmaunternehmen die Freiheit haben, direkt beim Patienten für verschreibungspflichtige Medikamente zu werben.“ (Frances, S.58f.)

„Die diagnostische Inflation hat dafür gesorgt, dass ein absurd hoher Anteil unserer Bevölkerung heutzutage auf Antidepressiva, Neuroleptika, Anxiolytika, auf Schlaf- und Schmerzmittel angewiesen ist(...) Jeder fünfte erwachsene US- Bürger nimmt mindestens ein Medikament wegen eines psychiatrischen Leidens ein; im Jahr 2010 nahmen 11 Prozent aller Erwachsenen und 21 Prozent der Frauen in den USA ein Antidepressivum; fast 4 Prozent unserer Kinder bekamen eine Stimulans, 4 Prozent der Teenager ein Antidepressivum; einem Viertel der Insassen von Pflegeheimen wurden Neuroleptika verabreicht.“(Frances, S.14)

Insbesondere wundert ihn die Inflation von Neuroleptika. Er fragt: „Ist es nicht paradox, dass Medikamente, zu deren möglichen Nebenwirkungen Fettsucht, Diabetes, Herz- Kreislauf- Erkrankungen und eine verkürzte Lebensdauer gehören, in den USA heute einen Jahresumsatz von 18 Milliarden Dollar erzielen?“ (Frances, S.141) Dabei sei der Schizophreniemarkt nur begrenzt.

Der Gewinner: Die Pharmaindustrie

Einkommenssteigerungen würden die Pharmariesen erzielen, in dem sie erstens die Laufzeit ihrer patentgeschützten Monopolstellung auf das Doppelte verlängern und zweitens neue Märkte erschließen. Die Preisgestaltung stehe in keinem Verhältnis zu realen Kosten und Wert, sondern spiegelt die Monopolstellung des Herstellers auf dem Markt und seine Macht über die Politik. Effizient seien sie nicht in der Forschung, sondern im Marketing und in der Lobbyarbeit. „Mit 60 Milliarden Dollar Jahresbudget kann man natürlich viel Werbung machen und Politiker kaufen. In den letzten Jahrzehnten haben die Arzneimittelhersteller durch unzulässige Einflussnahme auf die Entscheidungen von Ärzten, Patienten, Wissenschaftlern, Fachzeitschriften, Berufsverbänden, Verbraucherschutzgruppen, Apothekern, Krankenkassen, Politikern, Bürokraten und Verwaltungsbeamten wirkungsvoll das Medizingeschäft an sich gerissen. Und der beste Weg, Psychopharmaka zu verkaufen, führt nun einmal über den Verkauf psychiatrischer Leiden. Pharmaunternehmen beherrschen vielfältige Methoden: Sie werben im Fernsehen und in den Printmedien, sie vereinnahmen zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte (…), finanzieren Berufsverbände, Fachzeitschriften, Konsumentenschutzgruppen, sie dringen ins Internet und in die Plattformen sozialer Netzwerke ein, rekrutieren Prominente als Schleichwerber.“ (Frances, S.145f.)

Als der Markt für Erwachsene gesättigt war, vermarkteten sie ihre Produkte für Kinder und schleusten ihre Psychopharmaka in die Alters- und Pflegeheime. Beide Gruppen sind die Verletztlichsten.

Die Geschichte

Im Mittelalter war die Behandlung psychisch Kranker ein „Holocaust“, ein beschämendes Kapitel der Kirchengeschichte, so Frances. Später wurden die Betroffenen in Anstalten abgeladen. Erst Pinel befreite die psychisch Kranken von ihren Ketten, damit endete das dunkle Zeitalter, meint Frances??? Pinel schuf den Beruf des Psychiaters in der westlichen Welt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden nur sechs psychische Störungen aufgeführt. (Heute sind es fast zweihundert.)

Modekrankheiten der Vergangenheit:

  • Besessenheit (früher, heute, immer)

  • Tanzwut (ca.1300 bis 1700)

  • Vampirhysterie (ca.1720 bis 1770)

  • Selbstmordwelle infolge des „Werther-Fiebers“ (1774 bis in Gegenwart)

  • Neurasthenie (Ende des 19., Anfang des 20.Jh.)

  • Hysterie/Konversionsstörung (Ende des 19., Anfang des 20.Jh.)

  • Multiple Persönlichkeitsstörung (Wende zum 20.Jh., immer wieder sporadisch)

  • Hexenjagden: Sexueller Missbrauch in Kitas (ca.1980 bis 2000)

Modekrankheiten der Gegenwart

  • ADHS

  • Bipolare Störung in der Kindheit

  • Autismus/Asberger

  • Bipolar-II-Störung

  • Schüchternheit als soziale Phobie

  • Traurigkeit als „Schwere Depression“

  • Posttraumatische Belastungsstörung

  • Sexuelle Störungen

Modekrankheiten der Zukunft

Nach der Einführung des DSM-V seien folgende Modekrankheiten zu befürchten:

  • aus Wutanfällen bei Kindern wird DMDD (Disruptive Mood Dysregulation Disorder)

  • aus normaler Altersvergesslichkeit wird MNCD (Mild Neurocognitive Disorder)

  • aus Völlerei wird BES (Binge-Eating-Störung)

  • ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) bei Erwachsenen

  • aus normaler Trauer wird eine „schwere Depression“

  • aus Leidenschaften werden Abhängigkeiten (substanzlose Süchte wie Internetsucht, Konsumsucht, Arbeitssucht, Sexsucht, Golfsucht, Joggingsüchte, Hausputzsucht, Sportschausucht usw.usf.) Das sind jetzt alles „Verhaltenssüchte“.

  • aus krankheitsbedingten Sorgen wird CSSD (Complex Somatic Symptom Disorder)

Diese Vorschläge wurden im letzten Moment aus dem DSM-V gestrichen:

  • Psychoserisikosyndrom und „attenuiertes Psychosesyndrom“

  • aus Traurigkeit und Besorgtheit bei Problemen des Alltags sollte „Angst und depressive Störung, gemischt“ werden

  • Hebephilie (Objekt der Begierde pubertierende Jugendliche)

  • Hypersexualität

Einige Vorschläge zur Eindämmung der diagnostischen Inflation:

Zerschlagung der Marketingmaschine, u.a. weltweit keine direkte oder indirekte Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente im Fernsehen, in Zeitschriften, im Internet usw.

Zähmung der Ärzte, des DSM; Stufendiagnostik;

Die Hoffnung setzt er in die Berufsverbände, die Verbraucherorganisationen und die Presse (investigativer Journalismus) Und es müsse ein besserer Herausgeber für das DSM gefunden werden.

Den Konsumenten empfiehlt er u.a.:

„ Der Schlüssel zur psychiatrischen Diagnose ist also die Selbstauskunft, und dafür braucht es sorgfältige und beharrliche Selbstbeobachtung.“ (Frances, S.318) Z.B. ein Tagebuch führen.

  • Bewegung

  • Genug schlafen

  • Konsum von Alkohol und anderen Substanzen reduzieren

  • Probleme analysieren, Lösungen finden und Stressabbau

Gegner fragen sich, warum Frances so lange schwieg

(…) Er wird just in dem Augenblick vom Saulus zum Paulus, wo seine Tantiemen für ein DSM-IV-Begleitbuch in Höhe von 10.000 Dollar pro Jahr versiegen. Über diese Einkünfte schweigt Frances sich in seinem Buch ebenso aus wie über Details zu seinen Verbindungen zur pharmazeutischen Industrie. Zwei Nachfragen lässt er offen. Er könne nicht einmal einen Computer bedienen und habe keine Unterlagen mehr.

Am Ende kann Allen Frances sich an den Namen keiner einzigen Pharmafirma erinnern, von der er die ganzen Jahre Honorare kassierte. Vielleicht liegt es daran, dass der Psychiater selbst von der Hyperinflation der Diagnosen eingeholt worden ist. Die normale Altersvergesslichkeit wird im neuen DSM als "leichte kognitive Störung" geführt.“ (Spiegel Online 12.4.2013)

Burnout, Kapitalismus und Armut vieler Psychiatriebetroffener gibt es nicht?

Während er auf der Pharmaindustrie herumhackt, zu Recht, hat er keinen Blick für die kapitalistische Gesellschaft. Verwunderlich, dass Frances das Wort Burnout nicht in den Mund nimmt. Die Entgrenzung der Arbeit, Streß in der Arbeitswelt und ständige Erreichbarkeit können psychische Folgen haben. So schreibt die faz: „Dass Anonymisierung und Flexibilisierung, Beschleunigung und zeitliche Entgrenzung, maschineller und globaler Konkurrenzdruck psychische Nebenwirkungen haben könnten - reine Erfindung der Pharmaindustrie!“ (FAZ 12.5.2013)

Die Verlierer: Die wirklich Kranken

Dieses Thema schneidet er gelegentlich an, ohne es aber ausführlich darzustellen. Für die wirklich Kranken stehe viel zu wenig Geld zur Verfügung. Schwer depressive Patienten würden nicht behandelt, zahlreiche Schizophrene landen im Gefängnis. (Und auf der Straße, Anm.) Während aus Menschen, die normal und gesund seien, Patienten gemacht werden, würden die wirklich Kranken häufig ignoriert.

Die ZEIT schreibt: „Dabei geht es ihm vor allem anderen um die Rettung der Psychiatrie, und das muss man hartnäckig betonen, weil Frances im Namen der Leidenden argumentiert, die allzu oft keine ärztliche Hilfe bekommen(...)Eine Frage der Mittelverteilung: Frances nennt die Zahl von einem Drittel der schwer depressiven Patienten, die nicht behandelt werden, er beklagt die hohe Zahl der Schizophrenen, die statt beim Arzt im Gefängnis landen; und ebenso gut ließe sich der Mangel an Therapieplätzen für Kinder anführen, die durch Missbrauch und Gewalt traumatisiert sind.“ (ZEIT Online 18.4.2013)

Der Spiegel schreibt bereits im Jahre 1998: „In den USA werden viele psychisch Kranke nicht in Kliniken behandelt, sondern von der Straße weg verhaftet und in Gefängnissen verwahrt - Opfer eines heillosen Drehtürsystems. (…) "Wir sind wieder da gelandet, wo wir vor 150 Jahren schon einmal waren", klagt Fuller Torrey, Psychiater am National Institute of Mental Health in Maryland. Wie damals werden die Gefängnisse in den USA als Aufbewahrungsanstalten für psychisch Kranke mißbraucht, die Leidenden so kriminalisiert. Doch nie hatte das Problem solche Ausmaße angenommen. Denn niemals wurden in den Vereinigten Staaten so viele Menschen eingesperrt wie heute. Die Gefängnisse des Landes bersten beinahe - und mit dem wachsenden Zustrom neuer Insassen kommen auch immer mehr Kranke: Von den insgesamt 1,8 Millionen Häftlingen in den USA leiden 200 000 an einer schweren psychischen Störung(...) "Hier geht es vielen Kranken noch besser als anderswo", sagt Richard Kushi, Direktor der psychiatrischen Abteilung in Twin Towers. Die Alternative für die meisten der inhaftierten Patienten bleibt nur die Straße. Dort gibt es keine Medikamente und keine Ärzte, nur Dreck und Wut und Kälte. (...) Mindestens ein Drittel der Obdachlosen in den USA, so die Schätzung von Ärzten und Streetworkern, leidet unter manischer Depression oder Schizophrenie. Auf der Straße ist es leicht, im Wahnsinn zu wohnen. Unter den Brücken ist es schwer, den Stimmen von innen zu entfliehen. Es gibt keine Möglichkeit, den Druck im Kopf auch nur für kurze Zeit loszuwerden. (...)Von 560 000 Psychiatrie-Betten in den USA im Jahre 1955 sind heute (das war 1998) weniger als 70 000 übrig. Gemeindeeinrichtungen und Ambulanzen für Krisenfälle sollten die Entlassenen auffangen; die Regierung ließ massenhaft Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter ausbilden.

Doch in den Gemeindeeinrichtungen beschäftigte man sich lieber mit den leichteren Fällen, und die Psychiater ließen sich bevorzugt in Vierteln und Städtchen nieder, in denen sich betuchte Kundschaft auf ihre Couch legte. So blieben die meisten psychisch Kranken vor der Tür. Ungefähr die Hälfte von ihnen warf zudem die neuen Medikamente in den Gully. Von 3,5 Millionen Menschen, die in den Vereinigten Staaten als manisch-depressiv oder schizophren diagnostiziert worden sind, werden 1,4 Millionen nicht behandelt.“ (Spiegel Online 51/1998)

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8448431.html

„Mittlerweile sind in den US-Gefängnissen drei Mal mehr psychisch Kranke untergebracht als in psychiatrischen Einrichtungen.“, so Spiegel-Online am 22.10.2003.

http://www.spiegel.de/panorama/us-gefaengnisse-grausame-haftbedingungen-fuer-geistig-behinderte-a-270799.html

Auszug aus einem Interview mit Kyrylo Tkachenko, Autor: Der Fall Mumia Abu-Jamal. Rassismus, strafender Staat und die US-Gefängnisindustrie, Unrast Verlag 2012.

„Du hast vorher vom "strafenden Staat" gesprochen. Was verstehst du denn darunter?

Das sind alle strafenden Mittel zur Regulierung der Armut. Dazu gehört Polizei, Justiz und Gefängnisse. Das ist das, was im Fall der USA allmählich den Sozialstaat abgelöst hat. Früher hat man Armut mit sozialen Maßnahmen reguliert, heute mit Mitteln des strafenden Staates.

Was sind denn solche konkrete Maßnahmen? Wo ersetzt der strafende den Sozialstaat?

Ganz einfach: Entweder du schaffst ein Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose oder du sperrst sie ein. Arbeitslosengeld oder Gefängnis. Entweder behandelst du die armen psychisch Kranken in Kliniken oder im Knast. Entweder bekommen die Armen medizinische Hilfe durch Sozialprogramme oder im Knast. Warum ich davon rede? Es gibt da zwar unterschiedliche Schätzungen, aber circa 15 Prozent der Inhaftierten sind psychisch Kranke, die außerhalb des Gefängnisses keine medizinische Hilfe bekommen würde. Mit den Obdachlosen das gleiche - entweder man baut Obdachlosenheime oder man steckt sie in den Knast. Im Winter rettet die Polizei die Leute vor dem Erfrieren, indem sie sie einsperrt.“

Gelegentlich gibt es in den USA Amokläufe. Kein Wunder bei ungefähr 270 Millionen Waffen in den USA und der Nichtbehandlung vieler Psychiatriebetroffener.

Naomi Wolf schreibt: „Doch bewertet die US-Berichterstattung nach einem Amoklauf selten die Auswirkungen des amerikanischen Gesundheitssystems, das sich viele nicht leisten können, insbesondere Menschen mit psychischen Problemen. Deshalb sieht man in vielen US-Städten auf der Straße häufig Menschen mit schweren psychischen Krankheiten, die Selbstgespräche führen und sich auf andere Weise ausleben, manchmal gewalttätig. Dieser Anblick bietet sich in Ländern mit funktionierenden Gesundheitssystemen für psychisch Kranke wesentlich seltener.

Viele psychische Krankheiten, wie Schizophrenie und bipolare Störungen, können auditive Halluzinationen verursachen, die dem Patienten "befehlen", Gewalttaten zu tun. Mit Medizin sind solche psychotischen Symptome in den Griff zu bekommen. Doch wird für die richtige Diagnose und Behandlung Geld benötigt, und die Finanzierung wird gekürzt.“ (Welt 3.8.2012)

http://www.welt.de/debatte/die-welt-in-worten/article108455357/Das-Massaker-Grauen-ist-fast-zur-Routine-geworden.html

Nichts von dem Leiden vieler armer Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in den USA findet sich in dem Buch von Allen Frances.

Im Epilog schreibt Frances abschließend: „(...)die internationalen Pharmariesen scheinen eine Parallelwelt geplant zu haben, um ihrerseits eine Monokultur zu erzeugen: eine menschliche Monokultur. Unterstützt von einer übereifrigen Psychiatrie, werden alle Unterschiede zwischen Menschen zu einem 'chemischen Ungleichgewicht' eingeebnet, das mit einer praktischen Pille behandelt werden muss(...)Wir sollten Unterschiede nicht pathologisieren und wegzutherapieren versuchen, indem wir die modernen Äquivalente von Huxleys Droge Soma nehmen. Das grausamste Paradox psychiatrischer Behandlung ist, dass sie Menschen verweigert wird, die sie am meisten brauchen, während diejenigen, die sie bekommen, oft keine brauchen.(...)

Meine zwei Ziele, die Rettung der Normalität und die Rettung der Psychiatrie, sind in Wahrheit ein einziges. Die Normalität retten wir nur, indem wir die Psychiatrie retten, und die Psychiatrie retten wir nur, indem wir sie in ihre Schranken weisen.(Frances, S.386ff.)

Interview des Focus mit Allen Frances: http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/persoenlichkeit/tid-30968/interview-mit-psychiater-allen-frances-eine-diagnose-ist-wie-eine-ehe_aid_974126.html

Allen Frances
NORMAL
Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen

Dumont Köln 2013


Hardcover 22,00 €