Die Spur
der Schüsse u.a. auf die linksliberale französische
Tageszeitung ,Libération’ führte zu einem ehemaliger
Anhänger der Pariser Autonomen. Dessen
Durchknall-Aktion steht auch im Zusammenhang mit
verrückten Konzeptionen einer randständigen
politischen ,Szene’.
„Zum
Glück ist es kein Araber, sonst würden wir wieder unser Fett
abkriegen!“ So lautete zu Anfang der dritten Novemberwoche d.J.
die Reaktion vieler Migranten, aber auch antirassistisch
eingestellter Französinnen und Franzosen, als die Suchmeldung
nach dem Amokläufer vom Montag, den 18. November 13 bekannt
gegeben wurde. Der Schütze, der einen 23jährigen Fotographen in
der Redaktion von Libération lebensgefährlich
verletzt hatte und am selben Vormittag von außen auf das Gebäude
einer Bank – der Société Générale – im Geschäftsviertel La
Défense feuerte, wurde im Fahndungsaufruf als „Europäer, circa
vierzigjährig“ beschrieben. Es klang nach einem psychisch
kranken Attentäter oder einem einsamen „Werwolf“, aber
mitnichten nach einem islamistischen Anschlag. Im aktuell stark
rassistisch aufgeladenen Klima in Frankreich wurde dies von
vielen als Erleichterung erlebt, glaubte man doch, deswegen
nicht mit einer zusätzlichen Welle übler Äußerungen konfrontiert
zu werden.
Drei
Tage später folgte dann ein Anflug von Enttäuschung: Doch ein
arabischsprachiger Name. Am Donnerstag früh (21. November 13)
ging der Name des festgenommenen Amokschützen über die
Bildschirme: Abdelhakim Dekhar. Der in Lothringen geborene,
48jährige Sohn eines aus Algerien stammenden Stahlarbeiters war
durch den Vergleich seines DNA-Materials mit den Spuren an den
Tatorten zweifelsfrei überführt worden. Er wird ferner dafür
verantwortlich gemacht, am Freitag, den 15. November 13 kurz vor
sieben Uhr früh einen Chefredakteur des Fernsehsenders BFM TV
mit vorgehaltener Waffe bedroht zu haben. Damals nahm Dekhar
allerdings noch, nach wenigen Sekunden, die Munition aus dem
Lauf und ließ sie zu Boden fallen - jedoch mit den Worten:
„Das nächste Mal verfehle ich Euch nicht!“ Das
Wochenende über blieb Dekhar daraufhin verschwunden, bevor er am
Montag darauf bei Libération und vor dem
Bankenhochhaus der Société Générale wieder in Aktion trat. Ihm
wird ferner auch zur Last gelegt, am selben Tag einen Rentner in
Les Puteaux, unweit des Geschäftsviertels La Défense, mit der
Waffe bedroht zu haben. Der Amokläufer verlangte von ihm, im
Auto mitgenommen und auf den Champs-Elysées abgesetzt zu werden.
Dort verschwand er, zunächst spurlos, in der Menschenmenge.
Doch
am Donnerstag, den 21. November war es dann vorbei. Am Vorband
hatten Polizeibeamte ihn gegen 19 Uhr in halbkomatösem Zustand
in einem Auto, welches in einer Garage in einem Pariser Vorort
abgestellt worden, aufgefunden. Dekhar hatte größere
Mengen an Schlafmitteln und Medikamenten geschluckt. Allem
Anschein nach handelte es sich um einen Suizidversuch.
Den
entscheidenden Hinweis hatten die Ermittler von einem 32jährigen
Bekannten Abdelhakim Dekhars erhalten, der ihn seit zwanzig
Jahren mehr oder weniger vage kannte und ihn in den Tagen zuvor
beherbergt hatte. Ihm gegenüber hatte Dekhar am Montag, den 18.
November erklärt: „Heute habe ich eine Dummheit begangen.
Hoffentlich ist die Polizei mir nicht auf der Spur.“ Und
er war seinem Gastgeber verdächtig erschienen. Auf dessen
Computer wurden auch zwei inhaltlich wirre Abschiedsbriefe
gefunden, die Dekhar dort getippt hatte. Zwei ähnliche Schreiben
sind inzwischen auch in einem Hotelzimmer aufgetaucht, das der
48jährige am vorvergangenen Wochenende belegt hatte. Dort
tauchten ferner auch ein Koffer mit persönlichen Gegenständen
und einem Ausweis Dekhars auf.
Nun ist Dekhar zwar
arabischer oder arabisch-berberischer Herkunft, aber beileibe
kein Islamist. Dagegen spricht auch, dass er in seinen letzten
Tagen in Freiheit sturzbetrunken aus einem Hotel im 1. Pariser
Bezirk hinausgeworfen wurde, wo er für eine Nacht abgestiegen
war.
Seine
wirren politischen Auslassungen, die sich in den insgesamt vier
gefundenen Abschiedsbriefen widerspiegeln, zeugen eher von
unverdauten Versatzstücken einer linksradikalen Ideologie oder
jedenfalls eines linksrevolutionär klingenden Sprachduktus.
Wiederholt fällt darin das Wort vom „Faschismus“
oder ist von einem „faschistischen Komplott“ die
Rede, gegen das Dekhar anscheinend zu kämpfen glaubt. Darin
spielen dem Verfasser der Briefe zufolge die
„Journal-Nutten“ (journa-putes, womit er
Journalisten und Journalistinnen meint) eine Rolle. Auch empört
er sich über das Einpferchen von Menschen in Hochhaussiedlungen
in den Pariser Trabantenstädten, was an & für sich
nachvollziehbar wäre - würde Dekhar nicht wörtlich hinzufügen,
es handele sich um einen „genozidalen“ Vorgang.
Aus einer nachvollziehbaren Kritik wird dadurch eine gründlich
irre Behauptung. Manches von dem, was er schreibt, klingt
paranoid – anderes wie ein Stück aus dem Tollhaus oder aus der
Rubrik GAU, für „gröbster anzunehmender Unfug“. So behauptet er:
„Der Markt ist von seinem Wesen her faschistisch.“
(Sic!) Alles in allem kann man festhalten, dass Dekhar von der
Gesellschaft und der Kritik an ihr nicht viel verstanden hat,
aber eine Menge kräftig klingender Begriffe benutzt, die
irgendwie sozialkritisch erscheinen.
Für
die französische Polizei und Justiz war Abelhamid Dekhar kein
Unbekannter. Er war im Oktober 1994 im Zusammenhang mit der
„Rey-Maupin-Affäre“ festgenommen worden. Es ging dabei um eine
Schießerei,
die fünf Menschen das Leben kostet: einen Taxifahrer, drei
Polizisten und den Tatbeteiligten Audry Maupin. Die 19jährige
Florence Rey und ihr 22jähriger Freund, Maupin, hatten damals
einen Abstellplatz für Autos an der Grenze zwischen Paris und
der Vorstadt Pantin überfallen. Die Polizei deponiert dort die
Autos, die aufgrund von Parkverstößen oder Verkehrsdelikten
abgeschleppt worden sind und kostenpflichtig ausgelöst werden
müssen. Der irre Plan der beiden jungen Leute bestand darin, die
dort ihren Dienst verrichtenden Polizisten zu überfallen, um
ihnen ihre Waffen abzunehmen und sie bei späteren Banküberfällen
zu benutzen. Das Jagdgewehr, das die beiden mit sich führten,
hatte zuvor Abdelhakim Dekhar gekauft, unter Vorlage seines
Personalausweises. Deswegen wurde er wegen Beihilfe verhaftet,
saß vier Jahre in Untersuchungshaft und wurde 1998 zu einer
vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die durch die U-Haft
abgegolten war. Daraufhin verschwand er für anderthalb
Jahrzehnte nach London, wo ein Bruder und eine Schwester lebten,
arbeitete dort in einem Restaurant und führte zwei gescheiterte
Ehen.
Die Affäre, die damals
vorübergehend die Debatte um eine Wiedereinführung der – 1981
abgeschafften – Todesstrafe aufflammen ließ, hatten einen im
weiteren Sinne politischen Hintergrund. Denn Rey und Maupin
zählten zur autonomen Szene. Zum besseren Verständnis muss man
jedoch darauf hinweisen, dass dieser Begriff in Frankreich eine
völlig andere Realität bezeichnet als in vielen Nachbarländern.
In Italien waren die Autonomen in den 1970er Jahre Teil einer
linken Massenbewegung mit sehr realer Verankerung in der
Arbeiterschaft. In Westdeutschland waren sie zehn Jahre später
zumindest die stärkste Kraft auf der radikalen Linken, bevor
sich die autonome Bewegung in den Neunzigern sehr stark
auszudifferenzieren begann. Dagegen ist das gleichnamige
Spektrum in Frankreich ein hochgradig marginales Milieu, weil es
andere Kräfte auf der radikalen Linken gibt, die einen
vergleichbaren gesellschaftlichen Platz bereits besetzen:
libertäre Kommunisten, Trotzkistinnen oder organisierte
Anarchokommunisten. Was als Autonome im engeren Sinne bezeichnet
wird, ist ein in hohem Maße gewaltaffines Spektrum, das stark
von Polizeispitzeln und Psychopathen durchsetzt ist und von
Individuen, die am Rande der gewöhnlichen Kriminalität stehen.
Florence Rey hat ihre Haftstrafe seit 2009 abgesessen: Sie war
zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden und musste davon
fünfzehn absitzen, bevor sie wegen „außerordentlich guter
Führung“ frei kam. Im Jahr 2010 spielte als Schauspielerin in
einem Film von Jacques Ricard mit. Zu Anfang der vorletzten
Novemberwoche Woche ließ sie über ihren Anwalt, den prominenten
Menschenrechtler Henri Leclerc, mitteilen, sie sei ungehalten
über das häufige Auftauchen ihres Fotos in den Zeitungen der
letzten Tage: Sie habe „ihre Schuld an die Gesellschaft
bezahlt“ und jeglichen Kontakt zu Dekhar abgebrochen.
Sie bedauere, dass „diese finstere Persönlichkeit nicht
ihrerseits alle Lehren aus den schrecklichen Ereignissen vom
Oktober 1994 gezogen hat, sondern sich dazu entschied, erneut in
schwerwiegende kriminelle Aktionen einzutauchen“.
Editorische Hinweise
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