Tunesien
Depressiver dritter Jahrestag des Revolutionsbeginns und neuer Premierminister

von Bernard Schmid

12-2013

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Imperialismus live: Europäische Union und USA wählen Tunesien einen feinen neuen Premierminister aus

Tunesien bleibt im Gespräch: Im März 2015 wird dort das nächste Weltsozialforum (WSF) stattfinden, in Fortsetzung des letzten, das im März 2013 ebenfalls in der tunesischen Hauptstadt zusammen kam. Ihm wird dann im Herbst 2016 ein weiteres WSF im kanadischen Québec folgen. So beschlossen es soeben die Delegierten aus aller Welt, die vom 16. bis 18. Dezember 13 im marokkanischen Casablanca zur Vorbereitung der künftigen Weltsozialforen zusammentrafen.

Diese Nachricht ist bedeutend, aber ansonsten treffen in und um Tunesien augenblicklich eher wenig positive Meldungen ein. Sieht man von der Information ab, dass der tunesische Rapsänger ’Ala Yacoub alias „Weld El 15“ soeben - am 19. Dezember – aus dem Gefängnis entlassen wurde. Zuvor war er wegen „Polizistenbeleidigung“ zu vier Monaten Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt worden, doch das Berufungsgericht hob das Urteil am 19.12.13 auf und verhängte stattdessen einen Freispruch. Rund um die bedrohte Meinungsfreiheit von Künstler/inne/n Blogger/inne/n und anderen Bürger/inne/n war es in den letzten Monaten in und um Tunesien immer wieder zu Protestmobilisierungen gekommen.

Trister dritter Jahrestag

Am Dienstag dieser Woche, den 17. Dezember 2013 jährte sich zum dritten Mal die Selbstverbrennung des jungen Arbeitslosen Mohammed Bou‘azizi in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid. Er starb am 04. Januar 2011, noch nicht 26jährig, in einem Krankenhaus in Tunis. Nach seinem Tod erlangte er internationale Berühmtheit, inzwischen trägt etwa auch ein Platz in Paris seinen Namen.

Diese sozial motivierte Verzweiflungstat gab im Dezember 2010 den Anstoß für eine zunächst örtliche und alsbald überregionale Revolte, deren Ausmaße zunächst noch nicht absehbar waren. Ende Dezember erreichte sie auch die Hauptstadt Tunis. Am 14. Januar 2011 musste Präsident Zine el-Abidine Ben Ali, nach 23 Jahren an der Macht, einen unfreiwilligen Abgang hinlegen. Deswegen hätte dieser dritte Jahrestag (trotz der Trauer über den Toten, der am Ausgang stand) im Prinzip ein Feier- und Freudentag sein müssen. In Wirklichkeit beschrieben quasi alle Beobachter/innen den Jahrestag in Tunesien mehr oder minder einmütig als „traurig“ (vgl. http://magharebia.com ), trostlos-griesgrämig (morose) oder mit ähnlichen Vokabeln. Andere Quellen sprechen von „Enttäuschung“ oder „geringem Enthusiasmus“ (vgl. u.a. http://www.assawra.info und http://www.assawra.info ). Nur relativ wenige Menschen kamen zu den Gedenkkundgebungen und -demonstrationen, handele es sich um jene der progressiven Kräfte oder auch jene der Islamisten, die ihrerseits die aus der Revolution erwachsende politische Legitimität zu usurpieren (besetzen) versuchen.

In Sidi Bouzid kamen vielleicht 1.000 Menschen zu mehreren Kundgebungen des progressiven und gewerkschaftlichen Lagers. Bei der regierenden Islamistenpartei En-Nahdha kamen nur 300 Personen. Ansonsten gingen auch unangenehme Zeitgenossen auf die Straße, um zu versuchen, das Gedenken für sich und ihre politisch-ideologischen Zwecke zu vereinnahmen. Dazu zählten in Sidi Bouzid etwa die militanten Salafisten der Gruppe Ansar Al-Schari’a sowie die radikal-islamistische Partei Hizb ut-Tahrir („Befreiungspartei“, eine transnationale Organisation von Kalifats-Anhängern). Letztgenannte Partei zählt in den letzten Wochen und Monaten anscheinend zu den Gewinnern der politischen Schwierigkeiten, in denen die Regierungsislamisten, aber auch die Salafisten stecken (vgl. http://www.webdo.tn/ ). Beide Kräften protestierten vor allem gegen das Anti-Terror-Gesetz und die regierungsoffizielle Einstufung von Ansar Al-Schari’a als „terroristisch“ seit September 2013.

Den Hintergrund dazu, dass im Allgemeinen wenig Begeisterung für diesen dritten Jahrestag zu herrschen schien, bildet natürlich der Gang der politischen Ereignisse, wie er sich seit den Tagen des Aufbruchs im Dezember 2010/Januar 2011 abgespielt hat.

Ein erster Rückblick

Nach einigen Monaten provisorischer Regierung fanden am 23. Oktober 2011 die ersten wirklich freien und pluralistischen Wahlen in Tunesien seit der Unabhängigkeit statt, und gab den Abgeordneten der „Verfassungsgebenden Nationalversammlung“ (ANC) theoretisch ein einjähriges Mandat, um einen neuen Verfassungstext auszuarbeiten. Seit Dezember 2011 amtierte – bis Mitte Dezember 2013 – eine Regierung, die auf einer Dreiparteienkoalition basierte, in welcher die islamistische Partei En-Nahdha die führende Kraft darstellte. Die Mitglieder des als „Troika“ bezeichneten Regierungsbündnisses schienen sich jedoch in ihren Positionen einzurichten und auf längere Zeit festsetzen zu wollen.

Seit dem Wochenende des 14./15. Dezember 13 verfügt Tunesien nun allerdings über einen neuen Übergangs-Regierungschef, wenngleich dessen Kabinett noch nicht steht: Mit über zwei Monaten Verspätung gegenüber dem ursprünglich vorgesehenen Kalender mündete der „Nationale Dialog“ in einen Kabinettswechsel. Doch der Reihe nach.

Wirtschafts„modell“ unangetastet

Europäische Union, IWF und andere internationale Akteure waren seit dem Beginn der Umbrüche von 2011 vor allem darauf bedacht, dass das bestehende Wirtschaftsmodell – basiert auf Anbindung an den EU-Markt, Dominanz der von Europa abhängigen Zulieferindustrie sowie des Tourismussektors, Auslandsverschuldung und „Öffnung der Märkte“ – nur nicht in Frage gestellt werden dürfe. Der G20-Gipfel vom 26. und 27. Mai 2011 in der Normandie lancierte dazu die „Partnerschaftsinitiative von Deauville“, mittels derer die Länder Nordafrikas wie Tunesien und Ägypten weiterhin in das genannte Wirtschaftsmodell eingebunden werden sollten, während ihnen gleichzeitig „Hilfe und Unterstützung aller Art“ zugesagt wurde.


Dass es zu einem Bruch mit dieser Politik komme, darüber brauchten die führenden Mächte in den letzten drei Jahren nicht ernsthaft besorgt zu sein. Auf wirtschaftlicher Ebene blieb die Umwälzung von vornherein aus, während in Tunesien der Druck von Inflation und Arbeitslosigkeit zugenommen hat – da viele (auch einheimische) Unternehmer ihre Investitionen nach Marokko verlagerten, um das Land für das „Chaos“ in Gestalt der politischen und sozialen Aufbruchstimmung zu bestrafen. Und auf der Ebene der politischen Beziehungen blieben Europäische Union und USA auch in den Augen von Islamisten wie der tunesischen Partei En-Nahdha unumgängliche „Partner“.

Als am Samstag, den 14. Dezember 2013 in Tunesien der Chef der Übergangsregierung ausgewechselt wurde, standen diese beiden Machtblöcke unübersehbar im Hintergrund. Die Pariser Abendzeitung Le Monde (vgl. http://www.lemonde.fr) schrieb daraufhin explizit, der neue Premierminister Mehdi Jom‘aa sei „unter dem Druck von EU und USA“ ausgewählt worden: „Beunruhigt über die endlosen Verhandlungen“, welche seit dem Sommer 2013 zur Umbildung der Regierung liefen, „hatten sich die wichtigsten Botschafter der EU und jener der USA Anfang Dezember in Tunis versammelt. Gemeinsam einigten sie sich darauf, die Kandidatur von Industrieminister Mehdi Jom‘aa (auf den Posten des Regierungschefs) zu fördern, dessen Name bis dahin für den Posten nie gefallen war.“ Die Personalie ist vielsagend: Der 51jährige Jom‘aa hatte in jüngerer Vergangenheit u.a. eine Filiale des französischen Erdölkonzerns TOTAL geführt, das im Flugzeugsektor tätige Unternehmen Hutchinson, das u.a. für EADS, Airbus und Eurocopter arbeitet.

Gut, OK, fügen wir noch hinzu: Sowohl die EU-Botschafterin in Tunis, Laura Baeza – seit September 2012 im Amt, vgl. http://www.econostrum.info -, als auch der US-amerikanische Vertreter Jacob Walles dementierten beide energisch jegliche „Einmischung“ in die innenpolitischen Angelegenheiten Tunesiens (vgl. http://www.kapitalis.com/und http://www.mosaiquefm.net sowie http://www.kapitalis.com). Nein nicht, nicht doch! Wer käme denn auf eine solche Idee, wer möchte denn an so etwas Böses zu denken! A propos, der US-Botschafter in Tunis, Jacob Walles, trifft sich ausgesprochen regelmäßig mit führenden tunesischen Politikern. Um nichts anbrennen zu lassen, bleibt er in quasi ständigem Kontakt sowohl mit dem Chef der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha, Rached Ghannouchi, als auch mit jenem der stärkten Oppositionspartei (Nidaa Tounès), dem früheren Übergangspremierminister Béjid Caid Essebsi oder „BCE“. Zuletzt traf er mit allen beiden am 16. Dezember 13 zusammen. (Vgl. http://www.businessnews.com und http://www.businessnews.com.tn/) Die US-Administration verfolgt also das Tun & Lassen der tunesischen Spitzenpolitiker schon sehr genau, zumindest

Und die Arbeiterbewegung?

Als Gegenmacht zum aufrechterhaltenen „Wirtschaftsmodell“ könnte die Arbeiterbewegung auftreten. In Ägypten etwa war seit den letzten Amtsjahren des früheren Präsidenten Hosni Mubarak, besonders seit 2007, eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung entstanden(1). Sie wurde durch den Umbruch von 2011 erheblich gestärkt. Seit dem Machtwechsel vom Juli 2013 versuchen die neuen Machthaber bislang noch, sie einzubinden: Der amtierende Arbeitsminister, Kamel Abu Aita, kommt aus den unabhängigen Gewerkschaften.

Gleichzeitig kommt es, trotz der scheinbaren Stärke der aus dem Militär kommenden Machthaber, auch weiterhin zu sozialen Kämpfen. Am 14. Dezember 2013 endete der Streik im Eisen- und Stahlwerk des Eisen- und Stahlfabrikanten HADISOLB im Kairoer Vorort Helwan am 19. Tag des Arbeitskampfs mit einem weitgehenden Erfolg. Die Arbeiter des 13.000 Beschäftigte zählenden Werks hatten u.a. einen Abgang der bisherigen Direktion, die ihnen verhasst war, sowie die rückwirkende Auszahlung von sechzehn Monaten Gewinnbeteiligung gefordert. Theoretisch werden die abhängig Beschäftigten in dem Unternehmen am Jahresgewinn beteiligt, doch dieser faktische Lohnzuschlag war in den letzten ein bis anderthalb Jahren in Wirklichkeit nicht an sie ausgeschüttet worden. Bei diesen beiden Forderungen hat die Direktion nachgegeben. Über andere Forderungen der Streikenden, darunter eine Wiedereinstellung von kürzlich Entlassenen sowie eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, wurde bei Redaktionsschluss noch verhandelt.

In Tunesien agiert der Gewerkschaftsdachverband UGTT, dem seit der Unabhängigkeit 1956 eine starke Rolle zukommt und der oft „auf Augenhöhe“ mit den jeweils Regierenden verhandelte, de facto wie eine Gewerkschaftsorganisation und eine Arbeiterpartei, eine politische Interessenvertretung der Lohnabhängigen in Einem. Dies wurde in der Vergangenheit durch die organisatorische Schwäche der (parteiförmigen) Linken und ihre Verfolgung noch begünstigt. In dieser doppelten Eigenschaft trat die UGTT den ganzen Sommer und Herbst 2013 hindurch als einer der Vermittler – neben dem Arbeitgeberverband UTICA und der Anwaltskammer von Tunis – bei den All-Parteien-Verhandlungen um eine Regierungsumbildung auf. Die UGTT bildete sogar ihren wichtigsten Schrittmacher. Gleichzeitig rief die UGTT, unter anderem auch um den Druck für einen Abgang der bis dahin amtierenden Regierung zu erhöhen, ab dem Frühherbst 2013 zu einer Reihe von Streikbewegungen auf regionaler oder Branchenebene auf; manche Arbeitskämpfe wurden angekündigt und dann wieder vertagt. Im Oktober 2013 wurde eine Zunahme von Streiks um +71 % gegenüber dem September verzeichnet. Allerdings auch ihr Rückgang um -18 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum 2012 (vgl. http://www.businessnews.com. ), weil die depressive wirtschaftliche Situation im Allgemeinen eher zu einer Zu- als einer Abnahme örtlich geführter Kämpfe beitrug.

Nachdem die Verhandlungen des so genannten „Nationalen Dialogs“ um eine Regierungsumbildung am 14. Dezember d.J. zu einem ersten Durchbruch bei der Bildung eines neuen Kabinetts führten, kann die UGTT von einem politischen Erfolg sprechen - neben ihr allerdings auch En-Nahdha als zweite Hauptverhandlungspartei. Jedoch ist die UGTT gegenüber der neuen Regierung, welche, wie oben angeführt, vom Wunschkandidaten von EU und USA angeführt werden wird, zu konstruktivem Auftreten verpflichtet. Hat sie doch maßgeblich zu ihrer Ernennung beigetragen bzw. dazu, dass diese möglich wurde. Die tunesische Internetpublikation Nawaat sieht deswegen am 16. Dezember die UGTT strategisch, trotz gegenteiligen Eindrucks, eher geschwächt. (Vgl. http://nawaat.org/ )

Bürgerrechtssituation

Eine der wichtigsten Errungenschaften jener Ereignisse seit dem Winter 2010/11, die politische Veränderungen in Teilen Nordafrikas hervorgebracht haben, ist zweifellos der Rückgang der Angst. Der Angst vor willkürlichen Verhaftungen, spurlosem „Verschwinden“, vor Folterverhören, und vor allem vor dem bleiernen Schweigen rund um solche Ereignisse. Diese Angst, mit der mehrere Generationen aufgewachsen waren, gibt es in der alten Form nicht mehr. Vor allem in Teilen der Jugend ist die Erinnerung daran wie weggeblasen: Debattiert man mit jüngeren Leuten in Tunesien, kommt es vor, dass alle durcheinander reden und niemand eine Redeleitung oder –liste akzeptieren möchte – weil man so lange eine unhinterfragbare „Autorität“ hatte hinnehmen müssen.

Das bedeutet nun nicht, dass kein Autoritarismus in Staat und Gesellschaft mehr existieren würde. Der tunesische und ägyptische Polizeiapparat etwa ist keineswegs von den alten Elementen „gesäubert“ worden, die in Korruption, Amtsmissbrauch und Misshandlungen verwickelt waren. Der Apparat war lediglich einige Monate lang in die Defensive gedrängt worden, und seine Beamten zeigten sich vorübergehend kaum auf öffentlichen Plätzen. Diese Zeit ist längst vorüber. Ab August 2011 wurden schon wieder der erste Tote am Rande einer Demonstration (offiziell fiel er von einem Balkon) und erste Folterfälle publik. Die von der islamistischen Partei En-Nahdha geführte Regierung entschied sich nicht dafür, Folterpolizisten und in Machtmissbrauch verwickelte Beamte zu entlassen - sondern stellte einfach zusätzlich mehrere Tausend junge Polizisten ein, die den eigenen politischen Ideen der neuen Machthaber näher zu stehen schienen. Ende 2012 wurde die Zahl der neueingestellten Polizisten mit 6.500 beziffert (vgl. http://www.lexpress.fr/ ). Allerdings beschloss die Regierung auch seit 2011, Beamte vorzugsweise in ihren Herkunftsregionen einzusetzen, während das alte Regime unter Ben Ali das Gegenteil praktiziert hatte, um jegliche Ansätze zu einer Solidarisierung mit der Bevölkerung im Keim zu ersticken. Dies könnte, manchmal und unter Umständen, repressive Exzesse hemmen.

Die Probleme mit einer autoritären, an ihre Allmacht oder jedenfalls ihre eigene Straflosigkeit glaubenden Polizei sind seitdem eher verschoben als beseitigt worden. Anders als früher finden unzählige, größere und auch kleinere, Demonstrationen weitgehend unbehelligt statt. Allerdings werden bereits seit zwei Jahren aus Tunis und mehr noch aus der tunesischen „Provinz“ wiederholt Fälle vermeldet, wonach Polizisten sich etwa aus eigener Machtvollkommenheit als Sitten- und „Tugendwächter“ aufspielten. Beispielsweise, um junge Paare zu kontrollieren oder junge Frauen, die aus ihrer Sicht zu „aufreizend“ gekleidet waren, ihre Personalien festzustellen oder sie auf die Wache mitzunehmen.

Auf einer anderen Ebene steht die relative Passivität, die jedenfalls in den Augen vieler BürgerInnen – und der KritikerInnen – die Polizei gegenüber Machtdemonstrationen der Salafisten und anderer „radikaler Islamisten“ auf Straßen und öffentlichen Plätzen an den Tag legt. Deren Anhänger gehen oft rabiat z.Bsp. gegen Orte, an denen Alkoholverkauf stattfindet, vor. Dies bedeutet nicht immer, dass die Polizisten deren „Komplizen“ seien. Allerdings trifft es zu, dass Teile der Regierungspartei En-Nahdha aus politisch-ideologischen Gründen ein gewisses Näheverhältnis zu diesen außerinstitutionellen islamistischen Strömungen pflegen, oder jedenfalls kein zu hartes Vorgehen gegen ihre Aktivisten wünschen. Hinzu kommt, dass die Salafisten mitunter auch bereit sind, erhebliche Risiken für ihre eigene körperliche Integrität in kauf zu nehmen. Da in ihren Demonstrationen neben ideologisch gefestigten Kadern oft auch zornige junge Arbeitslose und Marginalisierte mitlaufen, fürchtet die Einsatzleitung bei harten Auseinandersetzungen mitunter Solidarisierungseffekte. Die Mischung aus diesen unterschiedlichen Elementen und Motiven sorgt jedoch dafür, dass bei einem Teil der Gesellschaft der Eindruck entstanden ist, eine generelle „Unsicherheit“ habe die zwar belastende, aber eben auch Sicherheit garantierende Atmosphäre unter dem alten Regime abgelöst.

Seitdem sich im Landesinneren Tunesiens, vor allem an dem Djebel Chaambi genannten Bergmassiv im Umland von Kasserine – in der Nähe der algerischen Grenze - terroristische Aktivitäten von Djihadisten häufen, kam es unterdessen auch wiederholt zu Unruhe innerhalb des Polizeiapparats. Im Oktober 2013 wurden etwa der damalige Premierminister Ali La’arayredh, Staatspräsident Moncef Marzouki und Parlamentspräsident Mustapha Ben Jaafar – als Vertreter der drei regierenden Koalitionsparteien En-Nahdha, CPR und Ettakatol - Staatspräsident Moncef Marzouki durch Polizisten von einer Trauerfeier für zwei gefallene Kollegen vertrieben. Diese Szene spielte sich am 18. Oktober in Guebellat, rund siebzig Kilometer entfernt von Tunis, ab. Zuvor waren dort die beiden Gendarmeriebeamten durch Jihadisten getötet worden, während die staatlichen Sicherheitskräfte am Djebel Chaambi bereits 15 Tote zu beklagen hatten.

Teile der Opposition, vor allem bei der stärksten Oppositionspartei Nidaa Tounès („Appell Tunesiens“) – die einige liberale Sektoren der Bourgeoisie umfasst, aber auch Funktionären und Nutznießern des alten Regimes eine politische Wiederbetätigung erlaubte, im Namen einer „Hauptsache gegen die Islamisten“ ausgerichteten Allianz – nutzen dies unterdessen, um eine regelrechte Unsicherheits- und Terrorhysterie zu schüren. Ihnen zufolge ist der Staat in seinem Kern bedroht und müssen die derzeit Regierenden entweder wegen Inkompetenz oder wegen Komplizenschaft mit den Terroristen geschasst und abgelöst werden. Auch wenn wesentliche Teile der Opposition die Bürgerrechte verteidigen, etwa auch gegen Prozesse unter den aktuellen Machtinhabern, die gegen die Meinungsfreiheit gerichtet sind.

Dies ist vor allem dort der Fall, wo es um behauptete Verstöße gegen Sitte und Moral geht: Der Rapmusiker „Weld El 15“ wurde am 05. Dezember 2013 wegen Polizistenbeleidigung in einem Lied zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt (doch inzwischen wurde die Strafe aufgehoben, vgl. oben). Der Blogger Jabeur Mejri wurde 2012 wegen „Verunglimpfung des Islam“ für siebeneinhalb Jahre (!) in Haft gesteckt, und Staatspräsident Moncef Marzouki verweigerte es, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen. In der liberalen und linken Opposition gibt es eine Solidarität mit denjenigen, die von solcherlei Repression betroffen sind. Aber daneben gibt es auch eine bedeutende Fraktion der parlamentarischen Opposition – falls am nächsten Sonntag in Tunesien Wahlen stattfänden, wäre Nidaa Tounès wohl der Hauptgewinner -, die die Regierung wegen eines angeblichen flagranten Mangels an Law & Order attackieren.

Fußnote

1) Zur Arbeiterbewegung in Ägypten und Nachbarländern kann man mit Gewinn das deutschsprachige Buch von Peyman Javaher-Haghighi, Hassan Azad und Hamid Reza Noshadi lesen: „Arabellion“, 2013 beim Unrast Verlag erschienen. Unrecht haben die drei Autoren lediglich, was den tunesischen Gewerkschaftsverband UGTT betrifft, den sie mit den früheren Staatsgewerkschaften in Ägypten in eine Reihe stellen. Hauptgegenstand ihres Buchs sind allerdings auch Ägypten, Libyen und Syrien (und nicht direkt Tunesien). Ansonsten haben sie den bedeutenden Verdienst, stark auf sozio-ökonomische Konflikte in den betreffenden Ländern zu achten, der bei anderen BeobachterInnen oft viel zu kurz kommt. Die ägyptische unabhängige Gewerkschaftsbewegung wird in ihrem Buch etwa ausführlich behandelt. Es sei hiermit ausdrücklich empfohlen.  

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.