Streit um Wirtschaftspolitik
Deutschland und Frankreich ringen um machtpolitische Positionen in der EU

von Bernard Schmid

12-2013

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Bangui ist eine Reise wert. Vor wenigen Tagen wurde, zumindest von französischer Regierungsseite, über die eventuelle Entsendung von britischen und deutschen Bodentruppen in die Zentralafrikanische Republik (ZAR) spekuliert; vgl. http://www.lefigaro.fr Allerdings befinden sich diese, offiziell auf dem Tisch liegenden Hypothesen in einem Überlegungsstadium, das – glimpflich ausgedrückt - nicht weit genug herangereift erscheint, um als nahe an der Realität bezeichnet zu werden. Der französische Minister für EU-Angelegenheiten, Thierry Repentin, behauptete jedenfalls am 18. Dezember 13, in London und Berlin „überlege“ man diesbezüglich.

In Wirklichkeit dürfte es dabei allerdings wohl überwiegend um politische, symbolische und auch finanzielle „Solidarität“ gehen. Konkret würde Frankreichs Staatsspitze gerne ungefähr so wie bisher weitermachen, aber dabei unter einen breiteren europäischen Mantel kriechen. „Frankreich möchte ein europäisches Label für eine Intervention in der Zentralafrikanischen Republik“, titelt eine französische Wirtschaftzeitung dazu, nach einer EU-Ministerkonferenz zur „Verteidigungs“politik am 19. Dezember 13 in Brüssel (vgl. http://www.lesechos.fr/e). François Hollande rief u.a. zu finanzieller Solidarität der übrigen EU-Staaten mit Frankreich anlässlich seiner Intervention in der ZAR auf (vgl. http://maliactu.net), erntete jedoch von seinen Verbündeten innerhalb der Union dabei erst einmal nur „wenig Begeisterung“ (vgl. http://www.lemonde.fr )

Ansonsten ist, wie französische Zeitungen unisono in diesen Tagen schreiben, in aller Regel aus Berliner Regierungssicht „die Ukraine näher als die Zentralafrikanische Republik“...

Angela Merkel in Paris

Auch Paris ist immer eine Reise wert. Dies dachten sich offensichtlich die neu-alte Bundeskanzerlin Angela Merkel und ihr frischgebackener Auenminister Frank-Walter Steinmeier, die ihren ersten Auslandsbesuch am 18. Dezember 2013 in der französischen Hauptstadt absolvierten.

Praktischerweise fiel der Antrittsbesuch auf den Vorabend des EU-Gipfels vom 19. Dezember in Brüssel, in dessen Vorfeld Merkel und Hollande also ihre Positionen abstimmten. Bei dem Gipfel ging es u.a. um die geplante Bankenunion – eine Einigung dazu fiel noch in der Nacht unter den Finanzministern – sowie um „Verteidigungs-“/Militärpolitik, siehe oben.

Was die Bankenunion betrifft, so einigte man sich im Kern auf die Ansiedlung einer Bankenaufsicht bei der Europäischen Zentralbank (EZB), die darüber entscheiden soll, wann eine angeschlagene Bank gerettet werden soll und wann nicht. Zahlen soll erst die Aktionäre der Bank, dann ihre Einleger – vor allem Grokunden -, und in einem dritten Schritt sollen öffentliche Gelder bereit gestellt werden. Besonders, wenn die Kreditanstalt als systemrelevant gilt. Dies in etwa das Schema, das bei der akuten spanischen Bankenkrise im Jahr 2012 zur Anwendung kam.

Die Berliner Politik hatte bis dahin für einen Verbund aus einzelstaatlichen Banken, eher als für eine zentralisierte Kompetenz, plädiert. Dieses formale Zugeständnis ist aber auch quasi das einzige, das die deutsche Bundesregierung machte. Denn ansonsten kommt die Bankenunion vorwiegend „zu deutschen Konditionen“, wie die konservative französische Tageszeitung Le Figaro und die KP-nahe Tageszeitung L’Humanité – in diesem Punkt ausnahmsweise einmal einig – beide schreiben. Denn festzuschreiben gilt: Es bleibt im Wesentlichen beim Subsidiaritätsprinzip, wonach jedes Mitgliedsland seine (in dem Falle finanziellen) Probleme zunächst selbst in den Griff bekommen soll.

Das bedeutet: Der Mitgliedsstaat, beim dem eine marode Bank sich angeschlagen zeigt, soll notfalls – nach den Aktionären und den Einlegern – mit öffentlichen Geldern zur Seite stehen, um die Bank am Absaufen zu hindern. Aber dafür stehen zunächst ausschlielich nationale, einzelstaatliche Mittel zur Verfügung. Erst danach sollen in einem zweiten Schritt Gelder beim Europäischen Rettungsfonds ESM ausgeliehen werden können – wie ein Darlehen. Ein automatisches Anzapfen des ESM, das auch andere Mitgliedsländer von vornherein mit in die( Solidarität genommen hätte, soll es dagegen nicht geben. Vor allem aber kam das Anliegen nicht durch, die Banken dazu zu zwingen, für den Krisenfall in ihrem Sektor vorzusorgen und in einem Fonds gemeinsam Rücklagen zu bilden – als würde man sie einer Versicherungspflicht unterwerfen. Zwar soll es einen Rettungs- bzw. „Lösungsfonds“ geben, in den die Banken in diesem Sinne einzahlen werden. Aber erst ab dem Jahr... 2025 soll er wirksam tätig werden können. Bis dahin soll er schrittweise aufgefüllt werden, bis auf circa 55 oder 60 Milliarden Euro. Das ist, gemessen an den bei der Bankenkrise von 2008 zu ihrer „Rettung“ aufgebrachten Hunderten von Milliarden Euro oder Dollar, nur als geringfügig zu bezeichnen. (Zu der Bankenunion demnächst aus gegebenem Anlass Ausführlicheres.)

Mindestlohn in Deutschland und Frankreich

Nicht zuletzt ist, neben Bangui und Paris, auch Berlin eine Reise wert. Immer frei nach dem Motto des einstigen Königs Henri IV, dem die französische Hauptstadt im Jahr 1593 „eine Messe wert“ war - sprich: der zum katholischen Glauben konvertierte, um endlich den Thron besteigen zu können, für den erst seit vier Jahren Anwärter war.

Berlin vaut bien un Smic, also: „Berlin ist einen Mindestlohn wert“, kommentierte der Leitartikler der linksliberalen Pariser Abendzeitung Le Monde – vor fünfzehn Jahren war er auch einmal Deutschlandkorrespondent – Arnaud Leparmentier am 26. November 13. Damit spielte er auf die Verhandlungen zur Regierungsbildung an, denn am folgenden Tag wurde in Berlin der 185seitige Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vorgestellt. Wie allgemein erwartet, enthielt das Dokument ein Bekenntnis zur Einführung eines Mindestlohns ab dem 1. Januar 2015, mit den bekannten Hintertürchen; regionale und branchenspezifische Abweichungen bleiben bis zum 1. Januar 2017 möglich. Leparmentier, ein relativ junger (er ist Mitte vierzig) Streberjournalist und arrogant schreibender Schnösel, dessen wirtschaftsliberale Auffassungen bekannt sind, nutzt den Anlass, um gegen den französischen Mindestlohn zu pöbeln. Er koste angeblich Arbeitsplätze koste und sei für die hohe Jugendarbeitslosigkeit von 25 % verantwortlich.

Wie viel vernünftiger sei man da doch in Berlin vorgegangen: „In Deutschland führt man Wahlkampf unter vernünftigen Leuten“, freut er sich, „und Demagogie bezahlt sich beim Wähler nicht aus“. Unter letzteren Begriff fällt ihm zufolge etwa die „alberne“ Idee von François Hollande, der im Februar 2012 wahlkampfbedingt vorschlug, einen Spitzensteuersatz in Höhe von 75 % ab einer Million Jahreseinkommen einzuführen. Dabei handelte es sich freilich weniger um Wirtschaftsfeindlichkeit, wie Leparmentier suggeriert, sondern um Wahlkampfgeplänkel. Die Manahme ist bis heute nicht in Kraft getreten, und wenn sie eines Tages kommt, dann derart heruntergekocht, dass sie faktisch bedeutungslos sein wird. Von der Million Jahreseinkommen sind Kapitaleinkünfte ausgeklammert, und es geht nur um Einkommen in Gestalt von Lohn und Gehalt – das betrifft vielleicht 1.500 Haushalte in Frankreich, einige Spitzenmanager und ein paar Fuballprofis. Die Pariser Exekutive feilscht derzeit mit den Fuballclubs um die Existenz oder Nichtexistenz von von Ausnahmebestimmungen – die Vereine drohten zwischendurch einmal mit einem „Spielstreik“ am Spieltag 30. November, bliesen diesen dann jedoch ab, seitdem ist es um das Thema still geworden. Auch ansonsten ist es de facto in der Senke der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Die Kerndifferenz zwischen dem deutschen Mindestlohn, den er für noch vernünftig hält, und dem – angeblich zu hohen, und deswegen Arbeitsplätze gefährdenden – französischen Mindestlohn Smic (Salaire minimum interprofessionnel de croissance, „Berufsübergreifender wachstumsindizierter Mindestlohn“) beruht Leparmentier zufolge auf zwei Zahlen. Der deutsche Mindestlohn liege bei 40 Prozent des Mittellohns, der französische hingegen bei 60 Prozent. Der Begriff „Mittellohn“ oder „Medianlohn“ bezeichnet dabei nicht den durchschnittlichen Verdienst, also jenen, der genau in der Mitte zwischen dem höchsten und dem geringsten liegt. Sondern jenes Monatseinkommen, über bzw. unter dem jeweils die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung liegt. Es wird also die Anzahl der jeweils darüber und darunter liegenden Einkommen gewichtet.

Dieser Befund kann überraschend klingen, denn der zum 1. Januar 2015 geplante deutsche Mindestlohn liegt unter dem Niveau des französischen Smic. Der deutsche bundesweite Minimal-Stundenlohn (mit seinen vorläufigen Schlupflöchern) wird im Jahr 2015 fürs Erste 8,50 Euro brutto, der französische betrug im Jahr 2013 genau 9,43 Euro brutto. Zum Jahreswechsel 2013/14 wird er, wie am 16. Dezember 2013 offiziell beschlossen wurde, um 1,1 Prozent ansteigen. Also genau um die im laufenden Jahr gemessene Inflationsrate, und keinen Cent mehr. Die gesetzlichen Bestimmungen zum Mindestlohn in Frankreich sehen vor, dass die Regierung ihn jährlich wenigstens um die Teuerungsrate anpassen muss – ihn aber auch deutlich darüber hinaus erhöhen kann, wenn sie es denn beschliet. Arbeits- und Sozialminister Michel Sapin entschied sich dagegen. Er hörte auf die Sachverständigen, denen zufolge eine Anhebung des Mindestlohns „gefährlich für Arbeitsplätze“ gewesen wäre.

Dass der deutsche Mindestlohn dennoch im Vergleich zum Medianverdienst tiefer liegt, hängt nicht damit zusammen, dass die Mehrheit der abhängig Beschäftigten Deutschen derart gut leben würde – die Existenz von mindestens acht Millionen working poors ist seit Jahren bekannt, auch westlich des Rheins. Viel eher hängt diese Tatsache damit zusammen, dass die Lohnspreizung in Deutschland weitaus höher liegt, also die Unterschiede zwischen oberen und unteren Einkommensgruppen stärker ausfallen – und dass die Löhne und Gehälter im oberen Bereich weitaus höher klettern. Umgekehrt liegt der Tieflohnbereich bislang in Deutschland tatsächlich weitaus niedriger als in Frankreich.

Allerdings muss umgekehrt berücksichtigt werden, dass die Lebenshaltungskosten für Lohnabhängige in Frankreich oft weitaus höher ausfallen als in vielen deutschen Regionen: Mieten in zumutbaren Wohnungen im gesamten Stadtgebiet (ohne Vorstädte) kosten in Paris zwischen doppelt und drei mal so viel wie in der deutschen Hauptstadt, und selbst in den nahe an Paris gelegenen Trabantenstädten ist beinahe ein vergleichbares Wohnkostenniveau erreicht. All die Vergleiche, die letztlich nur darauf zielen, die abhängig Beschäftigten im einen gegen jene im anderen Land auszuspielen und die „eigenen“ Erwerbstätigkeit als letztlich Privilegierte darzustellen, führen zu nichts. Von Arnaud Leparmentier kommt solches freilich wenig überraschend. Als Deutschlandkorrespondent Ende der 1990er Jahre entwickelte er in seinen Grundsatzartikeln regelmäig die immer gleiche Idee, das Positivste in der deutschen Politik sei, dass vernunftbegabte Politiker unpopuläre-aber-notwendige Manahmen hätten durchsetzen können: Helmut Kohl 1983 die Raketenstationierung, und Gerhard Schröder jene „Reformen“, die dann zur Agenda 2010 führten.

Berlin bekommt von Brüssel auf die Finger

Die Existenz eines deutschen Tieflohnsektors ist in den anderen EU-Ländern seit Jahren bekannt. Deswegen und aufgrund der riesigen deutschen Exportüberschüsse wurde Deutschland vor einigen Wochen auch durch die Europäische Kommission in Brüssel gerügt. Am 13. November 2013 eröffnete die Kommission eine „vertiefte Untersuchung“, um zu ergründen, ob die Exportstärke des deutschen Industriemotors nicht zu Lasten der Handelspartner (inklusive jene innerhalb der Union) gehe. Im Augenblick ist noch kein Strafverfahren wegen illegitimer „wirtschaftlicher Ungleichgewichte“ nach EU-Recht eröffnet, das kann frühestens 2014 passieren. Erfolgt dies jedoch und erfolgt eine Verurteilung, wird sie ggf. zu einer Vertragsstrafe führen, die 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht, also einem Bugeld in mehrfacher Milliardenhöhe.

Im laufenden Jahr weist Deutschland voraussichtlich einen Handelsbilanzüberschuss in Höhe von 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf. Dieses geht zu circa einem Drittel auf von deutschen Investitionen im Ausland abgeworfene Profite zurück, und zu circa zwei Dritteln auf ungleiche Austauschbeziehungen mit Ländern, mit denen Deutschland wesentlich mehr Ausfuhren als Einfuhren abwickelt. Dies wiederum hat viele Gründe, historisch-strukturelle und konjunkturelle: den Modernisierungsschock für die deutsche Industrie durch den Wiederaufbau nach 1945 (nachdem dieselbe ein paar Jahre von Raubkriegen profitiert hatte), den Vorteil durch die wirtschaftliche Durchdringung Osteuropas nach 1990…

Viele Beobachter stellen die überdimensionierten Gewinne im deutschen Exportsektor aber auch in Zusammenhang mit den Niedriglöhnen. In der französischen Politik trug etwa der Präsidentschaftskandidat der Linkspartei (Parti de gauche) von 2012, Jean-Luc Mélenchon, diese Kritik immer wieder lautstark vor. Umgekehrt widersprechen andere, darunter wirtschaftsliberale Quellen ihr immer wieder ebenso lautstark. Der bereits zitierte Leparmentier sieht hinter diesem Argument etwa nur „Neid“ stecken; er schrieb dazu im November 13, auch wenn deutsche Exporte durch höhere Lohnkosten verteuert würden, „dann wird Frankreich dadurch nicht wettbewerbsfähiger“.

Auch die französischsprachige belgische Zeitung Le Vif widerspricht der These, es bestehe ein Zusammenhang zwischen Niedriglöhnen und Exportstärke, und bezeichnet sie als „Absurdität“ (vgl. http://www.levif.be/info/actualite/international/allemagne-commission-le-match-qui-n-est-plus-du-tout-amical/article-4000463224487.htm?nb-handled=true&utm_source=Newsletter-01/12/2013&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV ). Denn es sei vor allem die Reputation der Qualität deutscher Produkte, auf denen die Exportorientierung aufbaue. Immer wieder fällt auch das Argument, die tiefsten Löhne würden nicht in den exportorientierten Industriesektoren bezahlt. Was im Übrigen auch stimmt – dies schließt nicht aus, dass ein allgemein hohes Profitniveau es dem in verschiedenen Branchen investierenden Kapital erlaubt, in bestimmten „Spitzensektoren“ den Arbeitskräften mit besonders hohen Qualifikationen Löhne auszuzahlen, die im Vergleich zu anderen „extrahoch“ ausfallen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.