Das Gerede von der Inklusion und die ausgrenzende Realität
Udo Sierck:  Budenzauber Inklusion

von Anne Seeck

12-2014

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Zu Beginn des Vorworts seines kleinen Buchs zur Inklusion verweist der Autor Udo Sierck auf die Genforschung, die hoch im Kurs steht. Der Satz „Stell dir vor, es ist Inklusion und niemand ist mehr da“ sei mit Blick auf die 'Eugenik von unten' so unsinnig nicht. Den Genforschern schwebe ein diagnostischer Test für geistige Behinderung vor: Schon jetzt entschieden sich neun von zehn Frauen bei der Diagnose „Trisomie 21“ zum Schwangerschaftsabbruch.

Gleichzeitig nehme die Abwertung von „wenig nützlichen“ Menschen zu. In der Heitmeyer-Studie „Deutsche Zustände“ stimmte fast ein Drittel der Deutschen der Aussage zu, die Gesellschaft könne sich Menschen, die wenig nützlich sind, nicht länger leisten. 7,7 % bejahten 2011 die Aussage, für Behinderte werde zu viel Aufwand betrieben. „Tatsächlich geht die Furcht vor dem eigenen sozialen Abstieg mit der Meinung einher, die 'sozial Schwachen' sollten endlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen.“, so Sierck.

Der Inklusionseuphorie von Fachleuten stehe die tatsächliche Ausgrenzung der Betroffenen entgegen. Menschen mit Behinderung sind vom sozialen Aus bedroht, viele sind auf Lebensmitteltafeln angewiesen. Die Zahl der Arbeitslosen mit Behinderungen steigt kontinuierlich. Gleichzeitig nehmen die Plätze in den aussondernden Werkstätten für behinderte Menschen unaufhörlich zu.

Sierck hinterfragt auch den Fachbegriff Inklusion. In der mittelalterlichen Kirche gab es die sogenannten Inklusen, die Eingeschlossenen, also Mönche und Nonnen, die sich freiwillig einschließen oder einmauern ließen, um sich in das Gebet oder in Askese zu versenken. Aus der Silbe „kluse“ hätten sich die Wörter Klause und Kloster entwickelt. Also jene „Institution, die für die Separierung behinderter Menschen das Modell abgab. Inklusion bedeutet also nicht Einbeziehung in das große Ganze, sondern Wegschließen von der Welt.“, wie der Autor aus dem Newsletter Behindertenpolitik zitiert .

Der Autor geht noch einen Schritt weiter und stellt Fragen: Wer denn bestimme, ob Integration gelungen oder gescheitert sei. Wie sich Inklusion denken ließe, ohne die Besonderheit des Anderen zum Verschwinden zu bringen. Dabei verweist er auf Adornos Warnung, in der Betonung der Gleichheit der Menschen schwinge ein unterschwelliger Totalitätsgedanke mit. Dem sei nur durch die Akzeptanz der Vielfältigkeit und Verschiedenheit zu begegnen. „Insofern“, so Sierck, „müsste der Inklusionsgedanke akzeptieren, dass Menschen das Gegenteil anstreben: Die Freiheit zum selbst gewählten Ausschluss, zur Exklusion.“

Im ersten Kapitel beschreibt er die Behindertenbewegung auf dem Weg zur Inklusion.
Nicht die Behinderung sei das Problem, sondern die Reaktion auf sie. Das war das neue Selbstverständnis der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Es geht um eine Ablehnung der Sondereinrichtungen von der Wiege bis zur Bahre. Behinderte Menschen seien Experten in eigener Sache und könnten für sich selber sprechen. Großer Jubel brach in dieser Bewegung 1994 aus, als im Artikel 3 des Grundgesetzes der Satz eingefügt wurde: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Hoffnungen weckte auch die UN- Behindertenkonvention. Allerdings schreibt Sierck: „Die Perspektiven der angestrebten Inklusion (…) sehen im Kontext der realen Sozial- und Wirtschaftspolitik indes wenig rosig aus.“

Das zweite und dritte Kapitel heißen folgerichtig „Von der Wohltäter-Mafia zur Inklusionsmafia“.und „Geschäftsinteressen und Sondereinrichtungen“. Am 5. November 1976 erschien in der Tageszeitung Die Welt ein Loblied auf die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik: „Genetische Beratungsstellen können Leid verhindern“, hieß es dort. Es kam wieder eine Zeit, da die Selektion von behindertem Nachwuchs als Wohltat deklariert wurde. Die junge Behindertenbewegung war damals mit einem System der Aussonderung konfrontiert und begann, sich mit der Geschichte der Wohltätigkeit zu beschäftigen. Dabei setzte sie sich vor allem mit der Euthanasie im NS-Regime auseinander und stellte gedankliche und personelle Kontinuitäten fest. Udo Sierck beschreibt den Fall Wilhelm Polligkeit, der u.a. in den „Generalplan Ost“ involviert war, auf die Eliminierung der 'minderwertigen' Bevölkerung der eroberten Ostgebiete zielte und 1949 Ehrenvorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wurde. Die Idee von der notwendigen Selektion war noch präsent. Die Behindertenbewegung verwies auf dieses kontinuierliche Denken, prägte den Begriff „Wohltäter-Mafia“ und forderte die Auflösung aller Sondereinrichtungen.

Heute, in Zeiten des Inklusionsgeredes, hat die Sprachkosmetik zugenommen, so werden aus Sonder- Förderschulen. Sierck schreibt: „Die Idee der Inklusion wird ohne zu Zögern in das bestehende Aussonderungssystem integriert.“

So hätte sich für die Arbeitenden in den Werkstätten für behinderte Menschen nichts geändert. Es gäbe inzwischen mehr als 300.000 Plätze in den Werkstätten, eine tarifliche Entlohnung dagegen nicht. Der Sonderarbeitsmarkt boomt. Von 1.000 behinderten Mitarbeitern finden nur zwei aus der Werkstatt einen regulären Arbeitsplatz. Der Durchschnittsverdienst lag 2011 bei 180 Euro (Verdienst je nach wirtschaftlicher Ausrichtung 67 Euro bis 600 Euro). Immer mehr Menschen werden auf den „Sonderweg“ geschickt, so auch Langzeitarbeitslose.

Viele Betroffene werden auch gegen ihren Willen in ein Heim eingewiesen. Es gibt mehr als 16.000 Pflege- und Behindertenheime. Die Geldanlage Pflege sichert Rendite. Oftmals werden die Menschenrechte nicht eingehalten. „Jeder fünfte Heimbewohner erlebt ohne rechtliche Grundlage Beschränkungen seiner Freiheit durch verschlossene Türen, Bettgitter oder Fixierungen. Und immerhin zwanzig Prozent der Insassen bekommen ungenügend zu essen und zu trinken, weil sie dabei auf Assistenz angewiesen sind.“ Die strukturelle Gewalt in Heimen missachtet oft die Privatsphäre (kein eigenes Zimmer etc.). Je pflegebedürftiger die Menschen sind, desto lauter klingelt es in den Kassen der Heime. Die Leute werden mit Medikamenten zugedröhnt, damit eine Eingruppierung in die höchste Pflegestufe erfolgt, oft herrscht in den Einrichtungen Grabesruhe. Die Hilfsbedürftigkeit der behinderten Menschen ist die Einnahmequelle der Einrichtungen, die damit ihre Arbeitsplätze finanzieren. Die harte Konkurrenz auf dem Pflegemarkt sorgt dabei für einen wachsenden Kostendruck mit entsprechenden Folgen für die Bewohner.

Immer mehr geistig Behinderte (80 %) leben in stationären Einrichtungen, nur 20 % werden in der eigenen Wohnung ambulant betreut.

Interessant sind auch die Anmerkungen zur Körperpolitik im vierten Kapitel. Ein attraktives Aussehen, das äußere Erscheinungsbild werde immer wichtiger für das Erreichen gesellschaftlich anerkannter Positionen. Die Zurichtung der Körper scheint grenzenlos zu werden. Auch die Medizin wird zunehmend mit der Optimierung körperlich und geistig Gesunder beschäftigt sein. „Gesundheit, Schönheit, Fitness, Leistungsfähigkeit sind die Grundwerte des Normalisierungsdenkens im Alltag.“, so der Autor. Dagegen: „Furcht und Mitleid sind Formen der Abwertung und Entwürdigung, die diejenigen treffen, die die gängigen Ideale nicht erfüllen.“ Betroffen sind insbesondere behinderte Körper. In diesem Kapitel zur Körperpolitik mit dem Titel „Monster, Freaks und andere Schönheiten“ streift Sierck auch das Thema der Inflation von Diagnosen. Der Kriterienkatalog bei psychischen Störungen werde immer weiter aufgebläht, auffallendes Verhalten (z.B. ADHS bei Erwachsenen) als krank definiert. Um der Flut von Diagnosen glaubwürdig zu begegnen, sollten (behinderte) Personen sehr differenziert argumentieren, so Sierck. Es mache keinen Sinn, jegliche körperlichen und seelischen Beschwerden als soziale oder historische Konstruktion darzustellen. Es gehe um die Erkenntnis, dass Schmerzen und Leiden wie Freude und Glück in einem Leben vorkommen.

Am Schluss des Buches finden sich Anmerkungen zum Blick auf 'die Anderen' (z.B. Wegblicken oder Anstarren), eine Reise durch die Welt der Wunder(-heilungen), ein Bericht über die Betriebe 'Röpers-Hof-Cafe' und 'Lotte' und der Schluss mit dem Verweis auf den Schattenbericht zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Deutschland: „Ob Schule, Arbeit, Wohnen, Freizeit oder Selbstbestimmung – die Realisierung der gültigen Vorgaben ist nicht in Sicht.“

Das 145-seitige Buch gibt einen guten Überblick über die tatsächliche Situation von behinderten Menschen und ist auch für Nichtbetroffene interessant.

Udo Sierck
Budenzauber Inklusion
mit farbigen Illustrationen von Nati Radtke


AG Spak
Neu-Ulm 2013

145 Seiten - 16 €