Integrativer Marxismus und das Denken einer neuen Kultur – Ein theoretischer Entwurf

von Thomas Metscher

12-2014

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I. Die Frage nach einem zukunftsfähigen Marxismus

Was heißt ›zukunftsfähiger Marxismus‹? Wonach fragen wir, wenn wir nicht nur nach dem Marxismus allgemein, sondern ausdrücklich nach seiner Zukunftsfähigkeit fragen? Offenkundig fragen wir nach einer bestimmten Qualität, die der Marxismus hat oder haben muss, wenn er imstande sein soll, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft wirksam zu sein, in Gegenwart wie Zukunft sich als geschichts- und weltgestaltende Kraft zu bewähren. Wobei die Frage nach der Gegenwart in der nach der Zukunft eingeschlossen ist: Ist der Marxismus zukunftsfähig, wird er es auch für die Gegenwart sein. Nach der Zukunftsfähigkeit des Marxismus fragen, heißt ja, nicht nur seine geschichtliche Notwendigkeit konstatieren, sondern ihn selbst befragen: ob er in seiner vorliegenden Form auch dieser Notwendigkeit gerecht wird – nach seiner theoretischen Qualität fragen wie nach den Bedingungen, unter denen er seiner Notwendigkeit gerecht werden, Zukunftsfähigkeit erlangen kann (sollten wir finden, dass er diese in seiner vorliegenden Form noch nicht oder noch nicht im genügenden Maß besitzt).

Sehen wir aber noch etwas genauer zu, was Zukunftsfähigkeit hier bedeutet. Zukunftsfähigkeit des Marxismus heißt nicht mehr und nicht weniger, dass er seinem doppelten Anspruch genügt, die Welt – hier: die zukünftige Welt – zu ›interpretieren‹ wie auch zu ›verändern‹; denn Interpretation und Veränderung, Theorie und Praxis möchte ich, in Auslegung der elften Feuerbachthese, als Einheit fassen. Das erste ist die Bedingung des zweiten. ›Interpretation‹ – also Theorie – einer Welt meint dabei: Erstellen ihres angemessenen und möglichst vollständigen (also wahren) Begriffs: eine Welt, in Gedanken gefasst. ›Veränderung‹ – also Praxis – meint den Umbau dieser Welt nach Maßgabe ihres theoretischen Begriffs: ihrer als wahr unterstellten Erkenntnis. Dieser Umbau der Welt erfolgt nicht um seiner selbst wegen, und sein geringstes Interesse wäre das der puren Zerstörung. Er verfolgt vielmehr ein bestimmtes Ziel und untersteht der Norm einer Ethik, die sich von diesem Ziel her begründet. Es ist eine politische Ethik. Sie fordert die umfassende menschliche Emanzipation: umzuwerfen sind »alle Verhältnisse (…), in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385). Marx nennt diesen Satz den kategorischen Imperativ der neuen Weltanschauung, die auszuarbeiten er im Begriff ist.

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Marxismus hat also eine theoretische und sie hat eine praktische Seite, und beide bilden einen Zusammenhang. In der einen Frage verbergen sich zwei Fragen. Eine vollständige Antwort würde sich mit beiden befassen müssen. Dass wir uns hier auf die eine Frage beschränken – die Frage nach dem Marxismus als Theorie –, ist allein pragmatischen Gründen geschuldet: in den Grenzen dieses einen Essays können beide Fragen nicht angemessen behandelt werden. Dennoch empfiehlt es sich, auch bei der theoretischen Reflexion die Praxis, auf die sich die Theorie bezieht und in die verändernd einzugreifen ihr Ziel ist, nicht aus dem Blick zu verlieren.

Zukunftsfähigkeit heißt aber auch: die Zukunft denkbar machen; anders gesagt: dafür Sorge tragen, dass die Zukunft denkbar wird. D.h., der Marxismus muss ein Denken der Zukunft einschließen, nicht im Sinn einer Rückkehr zu einem abstrakten Utopismus, sondern als Denken dessen, was historisch möglich ist.

Ich werde mich der Frage nach einem zukunftsfähigen Marxismus in einer Reihe von Thesen nähern. Diese versuchen einen Begriff von Marxismus zu erproben, der die Anforderungen an dessen Zukunftsfähigkeit, so hoffe ich, zu erfüllen vermag. Es ist der Begriff eines integrativen Marxismus.

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Editorische Hinweise

Der Text wurde  dem Archiv des "Neue Impulse Verlag" entnommen

Wir wurden durch den Bericht "marxistische linke traf sich in Frankfurt" vom 27.10.2014 auf den Aufsatz aufmerksam, weil der Autor - aufsetzend auf diesen - bei der Marxistischen Linken über "seinen" integrativen Marxismus referiert hatte.