Sexismus, Antifeminismus und kritischer Feminismus
Eine Übersicht in Gedenken an die erschlagene Studentin Tugce

von Luise

12-2014

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Tugce A. durfte nicht weiterleben, weil sie für andere Frauen eingeschritten war. In einem Fastfood-Restaurant wurde sie von einem gewalttätigen Mann totgeschlagen. Die Studentin wäre kurze Zeit später 23 Jahre alt geworden. Wie es berichtet wurde, wurde ihr Leben beendet durch einen Schlag an die Schläfe, nachdem Tugce in dem Lokal für zwei andere Mädchen mit Worten oder Zurufen interveniert hatte, die von dem Täter und anderen Männern belästigt worden waren. Geschehen ist der Totschlag in Offenbach am 15. November.

Die ins Koma geprügelte Studentin verstarb kurze Zeit später. Auf einer Trauerkundgebung vor der Klinik in Frankfurt/ Main gedachten ihrer 1500 Menschen. Und Bundespräsident Gauck kündigte an, dass "geprüft werden" würde ob Tugce posthum einen Verdienstorden bekommen solle. Der 18-jährige Täter sitzt in Untersuchungshaft, während Ermittlungen gegen ihn aufgrund von "Körperverletzung mit Todesfolge" laufen. Für die besagte Verdienstorden-Verleihung lief eine Online-Petition bei der Internet-Plattform "change.org" für die mehr als 100 000 Unterschriften eingingen. Eine solche symbolische Ordensverleihung ist zwiespältig zu beurteilen: Einerseits ist sie als politischer Akt wieder einmal die einfache Möglichkeit von Politiker_innen, sich als moralische Instanz darzustellen, während keine Handlungsweisen bei gesellschaftlichen Missständen und Versäumnissen gesucht werden. Ja, von diesen Missständen kann sogar abgelenkt werden indem der Fall individualisiert wird. Und tatsächlich sehen wir, dass in den Wochen nach Tugces Tod keine sozialen Änderungen im Bereich verbreiteter Frauenfeindlichkeit angestrebt werden. Andererseits sind solche Symbole in der Zeit der bewegungslosen Gesellschaft als Botschaft gegenüber großen Teilen der Bevölkerung wichtig, so könnte der Verdienstorden doch die Bedeutung des Todes dieser jungen Frau unterstreichen und verhindern, dass Tugces Handeln und ihr erlittener Totschlag bagetellisiert wird.

Doch eine solche Bagatellisierung war schon recht naheliegend, da viele Medien nur von einer "Prügelattacke" durch den Täter sprachen und auch die sexistischen Umstände des Gewalt-Angriffs als solche wurden nicht bedeutend hervorgehoben, das Wort Sexismus wurde in diesem Zusammenhang allgemein nicht verwendet. Betont wurde die "Zivilcourage" der Studentin, die vermeintlich in einem "Streit" zu "schlichten" versuchte, wenige Tage später konkretisierte die Presse, dass Tugce "einschritt", als zwei andere junge Frauen von dem Täter und seinem Begleiter belästigt wurden. Bei dieser Situation wurde dann allerdings nicht von Sexismus gesprochen, in der verbreiteten Darstellung habe Tugce "Mut" ( nicht auch Solidarität) gezeigt und den vermeintlich verhaltensauffälligen Männern "schlichtende" Worte zugerufen.

Dass politische Redner_innen auf der Trauerfeier allgemein zu "Zivilcourage" aufforderten, geschah dann doch zu einem unglücklichen Zeitpunkt, nachdem diese Frau sterben mußte. Und bei der Betonung des "tragischen" Unglücks wurde weder von Politik noch Medien erwogen, sexistische gesellschaftliche Verhältnisse zu hinterfragen, die vielleicht ein solches Ereignis begünstigten. Für die konformistischen Stimmen der neoliberalen Gesellschaft heißt das: Wo jahrelang der Feminismus und das kollektive weibliche Zusammenstehen diffamiert wurde, muss plötzlich "Zivilcourage" verlangt werden nach dem Tod einer erschlagenen Frau, wo "Eigenverantwortung" inthronisiert wird, muss ein Orden für das vereinzelte Gewaltopfer her. Gewöhnliche Schadensreparatur durch die kapitalistischen Moralist_innen.

Ich will den Fall hier als Ereignis von öffentlichem Sexismus betrachten. Tugce selbst wendete sich bei der verbalen sexuellen Belästigung zweier anderer Frauen im Toilettenkorridor des Restaurants an die Aggressoren. Daraufhin attackierte sie der 18-jährige Täter ohne weiteres Diskutieren mit dem Faustschlag an die Schläfe.

Deshalb will ich hier die Vermutung formulieren, dass in Tugces Fall Sexismus tödlich war bzw. ihre Frauensolidarität ("Zivilcourage") zum tödlichen Schlag des männlichen Täters führte. In den bürgerlichen Medien wurde kaum darüber nachgedacht, ob es spezifisch geschlechterbedingte gesellschaftliche Umstände gibt, die solchen Gewaltakt ermöglichen könnten. Etwa, ob nicht auch der öffentliche Sexismus fatal wirkt, der längst als Konvention gegen Frauen aufgebaut und verbreitet wurde. Auffällig finde ich auch den Hass des Täters angesichts der friedlichen und selbstbewussten verbalen Handlung von Tugce A.. So wäre hier auch zu fragen, ob der tödliche Hass angesichts von friedlicher (Frauen-)Vernunft uns nicht eine neue gesellschaftliche Qualität anzeigt, in der heute Kommunikation und Dialog verweigert wird: Wir erleben den zwischenmenschlichen Krieg, den alltäglichen Hass, den Imperialismus im Toiletten-Korridor. Weiter unten soll auch die Theorie dargelegt werden, dass in der faschisierten zwischenmenschlichen Alltagskultur des Kapitalismus der männliche, imperiale Siegertyp, der Typ des Stärkeren wieder hochgehalten und idolatrisiert wird.

Zur Faschisierung und zur soziokulturellen Eigenschaft von Frauenverachtung gab es einen Weg. Die verrohte Gesellschaft ist grundsätzlich der Boden dafür. Allgemein gesagt, steht diese Gesellschaft auf einem Tiefpunkt Jahre nachdem der Rückschritt zu sozialer Kälte, Abschottungspolitik, offenen Ressentiments, mehr Normverhalten und mehr Rassismus erfolgte. Im brutalisierten zwischenmenschlichen Alltag soll hier der Sexismus betrachtet und nach dem Stand des Feminismus gefragt werden.

Bis zum heutigen Stand war seit Jahren der Rassismus ungebrochen geblieben. Brutalisiert war die deutsche Gesellschaft schon seit der Wiedervereinigung, und in der Republik wurden zweihundert (registrierte) ermordete Opfer gemeldet, die seitdem vom deutschen Nazi-Mob gefordert wurden. Wie wir feststellen müssen, mündete diese Situation in den mehr faschisierten Zustand der Gesellschaft von der bürgerlichen Mitte bis zu den offensichtlichen NPD-Kadern, so dass nun zahlreiche Rechte und rassistische AnwohnerInnen gegen Geflüchtete aufmarschieren und diese an Leib und Leben bedrohen. Die Gefährdung der rassistisch und nationalistisch Bedrohten, Geflüchteten und Papierlosen spricht vom eigentlich maßgeblichen Gebiet, in dem enthemmte Gewalt in der deutschen Gesellschaft ausgeübt wird. Diese Gefährdung von Geflüchteten und Nicht-Weißen - sowie auch wieder häufiger von migrantischen StaatsbürgerInnen – kommt mit der staatlichen strukturellen Gewalt einerseits, und mit ihr werden auch rassistische sowie sexistische Willkürakte seitens Personen oder Gruppen der deutschen Bevölkerung noch zusätzlich ermöglicht, ja vom rechtspopulistischen Sprachgebrauch der Politik wird hier zur Ausübung von Gewalt noch ermutigt. Es muss festgestellt werden, dass in der Lage der Geflüchteten und Nicht-weißen Frauen die höchste Prekarität liegt, weil sie sowohl von rassistischer wie auch sexistischer Gewalt bedroht werden. Diese Gefährdung in der Grauzone ist die massivste. Eine andere Qualität hat Sexismus im Alltag von abgesicherten Weißen Staatsbürgerinnen.

Mit der Misshandlung, Abwertung, Beleidigung und körperlichen Bedrohung von Nichtdeutschen und Geflüchteten Frauen im gesellschaftlichen Dunkel ist die Verrohung seit langer Zeit umgesetzt. Staatlich wurde hier eine menschliche und gesetzliche Ausnahmezone geschaffen für AsylbewerberInnen oder Papierlose, wobei alle Arten von Gewalt durch Autoritätspersonal und deutsche StaatsbürgerInnen des Umfelds im Grunde eingeräumt sind. Politisch ist diese Ausnahmezone gewollt, und politisch wird auch das dementsprechende Schweigen dazu hergestellt, das von bürgerlicher Seite her über diese alltägliche Gewalt zu breiten ist. So geschieht die schlimmste Gewalt an Frauen hierzulande täglich gegen Geflüchtete und/ oder statusschwache Nichtdeutsche Frauen. Tugces Tod wurde in der Öffentlichkeit berichtet und skandalisiert, während jedoch Gewaltakte an Geflüchteten Frauen bis hin zu tödlicher Gewalt im Dunkel bleiben. Nur in sehr seltenen Fällen wird Gewaltausübung zu Protokoll gegeben und wird darüber in Medien überhaupt berichtet. Registriert werden Fälle von Misshandlungen und Diskriminierungen nur von den Opferhilfen wie Reach-Out und Opferperspektive e. V. und von Hilfsorganisationen von Geflüchteten oder für Flüchtlinge, und Dokumentationsstellen wie der Antirassistischen Initiative e.V. Berlin www.ari-berlin.org.

Der Sexismus soll hier als systemimmanent und daher an klassenspezifische Unterdrückung gebunden betrachtet werden. Dabei ist interessant, dass er in der Sprachkultur von Politik und bürgerlicher Klasse dauerhaft geleugnet wurde, und dass der Feminismus seit einigen Jahren diffamiert wurde. Die regierende Sprache in Medienkultur und Politik konstruierte eine quasi-demokratische Gesellschaftsmoral mit individualistischer Selbstregierung mit Freiheit und Eigenverantwortung. Das Soziale wird als nichtexistent betrachtet, das Menschenbild auf freies berufliches Kalkulieren heruntergebrochen. Nach einem vermeintlich umgesetzten Feminismus sollte nur noch von Leistungsstärke gesprochen werden. Zugleich kamen zunehmend normierende Praktiken im institutionellen und zwischenmenschlichen Alltag, die sich sozialpsychologisch auswirkten. Dazu sollen hier staatliche Einrichtungen, aber auch das kommerzialisierte Geschehen (staatlich geschützt und gefördert) gezählt werden. Während in staatlichen Einrichtungen wachsendes Autoritätsverhalten und weniger soziales und kulturelles Interesse gegeben ist ( institutionalisierte Leistung und Verwertung, Sozialabbau, regulierte Subventionen etwa für Rüstungsforschung), führt der Kommerz dazu, dass das Menschenbild reduziert wird auf Konsumobjekt und Ware. Frauenverachtend ist dieser soziale Zustand, wie wir weiter unten sehen werden, durch die soziale Prekarisierung und Ausgrenzung der besitzlosen oder der papierlosen Klassen von Frauen, und im Kommerz durch die Objektivierung und Abwertung der Frau.

Allgemein zeigt sich das Normative als bestimmend. Normverhalten wird den Individuen zunehmend im öffentlichen Raum und in staatlichen Institutionen abverlangt in einer Dynamik von verknappten sozialen Ausgaben und gesteigerter individueller Selbstoptimierung für Arbeitsmarkt und Konkurrenzkampf. Vielfältige Lebensentwürfe, feministische Kultur und ein Bruch mit der bipolaren Geschlechternorm, welche in den achtziger/ neunziger Jahren das verwertungsfreie kulturelle Fortschreiten der Gesellschaft bedeuteten, den Geschlechterdiskurs ankurbelten und den gendertheoretischen AkademikerInnen-Zweig schufen, erfahren zunehmende Ressentiments. So trug etwa der Elitefeminismus seit 2006 dazu bei, feministische Begriffe zu verwässern und den Konformismus zu bewerben. Sprachformen und Wege, die sich vom konsumentischen und produktkapitalistischen Ablauf entfernen, stehen heute unter mehr Druck. Den Kommerzialismus des Christopher-Street-Day in Berlin kritisierte deshalb auch Judith Butler, die den CSD-Award vor vier Jahren ablehnte, und entsprechend ist heute zu sagen, dass im kommerzialistischen Berlin wie im ganzen Land wieder normative und verwertungsimmanente Zwänge auf dem Vormarsch sind. Homophobie, Lesben- und Frauenfeindlichkeit halten wieder Einzug in die Gesellschaft, das zeigt sich in der Verleumdungskampagne dieses Jahres gegen die Kasseler Professorin Elisabeth Tuider, die das Fach "Soziologie der Diversität" unterrichtet und mit dem Buch "Sexualität der Vielfalt" neue didaktische Anregungen und pädagogische Methoden für Jugendliche vorlegte, um "das interkulturelle Nebeinander verschiedener Lebensentwürfe" zu übermitteln. Gegen Tuider hatte der homophobe Publizist Akif Pirincci agitiert und in seinem Buch "Deutschland von Sinnen: Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer" gehetzt (Bericht in "Wirfrauen" 3-2014). Wiederum wurde der Sozialwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß, der sich mit Tuider solidarisierte, von Pirincci beleidigt. Die neuen homophoben Schmutzkampagnen (Pirincci hat allerdings seine Anhängerschaft in rechten Medien und Macker-Kreisen bei Facebook und Chatseiten) zeigen den niederen Stand an, auf dem die Normierungstendenz angekommen ist.

Das hatte seinen Vorlauf. Während seit einigen Jahren ein konformistischer Feminismus propagiert wurde, konnte zugleich Sexismus in der Gesellschaft zunehmen. Die antifeministischen Publikationen hatten die Eigenschaft, wenn sie nicht Sexismus selbst produzierten, doch von bestehendem gesellschaftlichem Sexismus abzulenken. Gesellschaftlicher Rückschlag war angesagt.

Alte normgeschlechtlich-weibliche Schönheitsideale wurden 2006 vom Buch der früheren Tagesschau-Sprecherin Eva Herman "Das Eva-Prinzip. Für eine neue Weiblichkeit" hochgehalten. Das intellektuelle Tiefstapeln der Autorin konnte dazu führen, das Kaufpublikum mit bürgerlich-traditionellen Werten zu beflügeln und vom gendertheoretischen Wissen der gleichen Zeit abzulenken. Hermans Buch fügte sich außerdem gut in eine neue konservative Familienpolitik, speziell mit Bezug auf den Ansporn Ulla von der Leyens für Geburtenprämien in gut gestellten bürgerlichen Haushalten. Politisch wurde überlegt, ob die Frau als Hüterin des Herdes wieder zum gesellschaftlichen Ideal erklärt werden sollte, das sich an das wirtschaftliche Kalkül mit geretteter Rentenpolitik und Konjunkturwachstum anschmiegen könnte.

Daraufhin kam in 2006 und 2007 - gleichfalls im bürgerlichen Spektrum- die Gegentheorie mit proklamiertem Elitefeminismus, mit dem die Leistungsstärke der Frau im staatlichen Konjunkturprogramm hochgehalten wurde: Hier galt das berufliche Bestehen der Frau als eine feministische Herausforderung schlechthin. Von Thea Dorn, Desiree Nick und anderen Publizistinnen wurde Gleichberechtigung als das Bestehen der Frau in und mit den staatlichen wirtschaftlichen Erfordernissen verlangt, mit "Power", "lustvoll" und "sexy", aber nicht kollektiv und solidarisch. Kein Thema waren das gesellschaftliche Konkurrenzprinzip infolge der wachsenden Krisen und kapitalistische Sachzwänge. Die neuen elitefeministischen Entwürfe hatten mehrere Merkmale gemeinsam, schreibt hierzu Elisabeth Klaus: so die "Abgrenzung vom `alten, überholten` Feminismus, die selbstzufriedene, neoliberale Nabelschau...und eine heterosexistische Orientierung."

Klaus hatte diese Entwicklung in ihrer lesenswerten Schrift "Antifeminismus und Elitefeminismus- eine Intervention" in 2008 ( in: Feministische Studien , 24. Jg., Heft 2, S. 176-186) analysiert. Ihre Beobachtung ist, dass der alte, kämpferische Feminismus in diesen Ausrichtungen auf das Abstellgleis gebracht und gar für die gegenwärtige wirtschaftliche Krise mit Rentenlöchern, Geburtenrückgang und wirtschaftlichem Fachkräftemangel verantwortlich gemacht wurde. Die unfaire Botschaft, so Klaus: "Nicht die gesellschaftlichen Bedingungen sind für den Karriereknick, die unerträgliche Doppelbelastung, für Überforderung und Unzufriedenheit zumindest (mit-)verantwortlich. Nein! Die Frauen sind selbst schuld, weil ja jede, die das will, es auch schaffen kann! Der neoliberalen Selbstverwertung des Subjekts wird ein Hohelied gesungen!"

Das Fazit von Klaus: "Frauenpolitik kommt im 'neuen' Feminismus ohne kritische Gesellschafts- und Machtanalyse aus". Wenngleich die antifeministischen und elitefeministischen Schriften die Persönlichkeit und die positiven Werte von Frausein betonten, so war die Tendenz des Schönredens von alltäglicher Bundespolitik doch ihr deutlichstes Merkmal. Geschwiegen wurde von den sozialen Bedingungen im Kapitalismus mit der Ausbeutung und Benutzung der prekarisierten Frauen und mit ökologischen und sozialen Folgen für Frauen des globalen Südens. Klassenspezifisch wurde abgelenkt von den wirklichen frauenfeindlichen Konsequenzen von Abschottung, innenpolitischer Niedriglohnpolitik und expansiver Weltmarktpolitik.

Zur gleichen Zeit entwickelte sich aber der kritische Feminismus weiter- entgegen Nebelkerzen und Verleumdungen – mit Elisabeth Klaus, und etwa mit Christa Wichterich. Letztere wirkt seit Jahren als Soziologin mit Blick auf die ökonomische Entwicklung in der wirtschaftlichen Nord-Süd-Politik und auf die westliche Markthegemonie. Sie befasst sich u.a. mit den Auswirkungen der verordneten "Effizienzwirtschaft" und Investmentpolitik der EU gegenüber gewachsenen Lebens- und Wissensstrukturen der Frauen in den armen Staaten. Ihr Report "Die Zukunft, die wir wollen- eine feministische Perspektive" (Band 21 der Schriften zur Ökologie der Heinrich Böll-Stiftung, 2012) ist umfangreich und informativ und argumentativ hochwertig. Sie erörtert darin soziokulturelle Bedingungen und Folgen für Frauenarbeit unter dem Einfluss der Programme der Weltbank. Es sind eigentlich alle wichtigen Angelpunkte der heutigen destruktiven Auswirkungen globaler Macht- und Gelddominanzen, die sie zutagefördert. Solche Klarheit sollte als Lektüre breit unter die westliche Bevölkerung gestreut werden! Im Kapitel "Ernährung und Landwirtschaft" z. B. benennt sie die Absetzung und Entwertung von lokaler Frauenarbeit durch übergeordnetes Investment:

"Die neoklassische Ökonomie beklagt, dass sowohl das Land als auch die Frauen 'untergenutzt' sind, brach liegen und unter 'Unterinvestition' leiden. 'Land grabbing' wird damit gerechtfertigt, dass es sich um ungenutztes Land handle. Ebenso werden der landwirtschafliche Anbau und auch die Frauenarbeit, die nicht für den Markt, sondern für die Selbstversorgung produzieren, nicht als produktiv und wertschöpfend gezählt. Sie gelten als Externalitäten der Ökonomie und bleiben in Statistiken und Bilanzen unsichtbar, obwohl sie die soziale Reproduktion und teils auch die Regeneration der Natur, z.B. die Bodenfruchtbarkeit, sichern."

In einem anderen Kapitel zeigt Wichterich, dass die verordnete Privatisierung von Saatgut einen schwerwiegenden Eingriff in Wirtschaften und Wissen der ansässigen Frauen bedeutet, die mit Saatgut und vielfältiger Pflanzennutzung tradierte Mittel für Heilkunde im Ort ausüben. Wichterichs Forschungen liefern, gut lesbar übermittelt, das Wissen von den entmündigenden Folgen globalkapitalistischer Marktpolitik für lokales Frauenwirken und Fraueninitiative. Feministische Ökonomie bei den verschiedenen Dorfkommunen und Initiativen steht für Eigenschaften, die der Markt- und Effizienzwahnsinn nicht begreift. So ist Wichterichs Wirken auf der Spur der globalen feministischen Vereinigungen für Selbstbestimmung, die einerseits verordneten Regierungspolitiken widerständig sind, und die andererseits Souveränität gegen die destruktive Weltmarktpolitik erstreiten. Auch ihr zeitpolitischer Überblick über "Feminismus im Plural- Frauen weltweit in Bewegung" ist sehr lesenswert im "INKOTA-Brief 155- März 2011".

Dass die Frau, besonders in der besitzlosen Klasse, unter verschärfter Ausbeutung in den Dienstleistungssektoren der Pflege und Hauswirtschaft zu leiden hat, zählte nicht zu den Themen der bürgerlichen Feministinnen der großen Medien. Hingegen wird von emanzipativer Kritik etwa die Hausarbeit der prekären Klasse der Angestellten, die oftmals als EU-Zuwandererinnen oder Papierlose in mittelständischen Haushalten arbeiten und mit Dumpinglöhnen bezahlt oder auch lohngeprellt werden, thematisiert - von der Zeitschrift "Wirfrauen" (wiederkehrend und z.B. in "Feminismus und Ökonomiekritik", Wirfrauen 4, 2012). Dabei dokumentiert die "Wirfrauen"- Zeitschrift die Entwicklungen mit Unterstützung und Selbstorganisation der Haushalts-Angestellten bei der Organisation "Respect" (Berlin). Auch hier setzt das feministische Projekt in der Praxis an, indem die migrantischen Arbeiterinnen sich vor Willkür und Niedriglohnausbeutung der ArbeitgeberInnen schützen, Kenntnisse und Erfahrungen weitergeben und ihre Situation dokumentieren. In dem sozialen Schattenbereich sind die Haushalts-Arbeiterinnen einerseits prekär lohnabhängig und des weiteren auch sind viele von ihnen nicht gemeldet beschäftigt und/ oder ohne Pass, so dass eine weitere Verletzlichkeit gegeben ist. Diese Prekarisierung der Frauen, die nicht nur besitzlos sondern oft noch per Passangelegenheit ohne Status sind, dürfte maßgeblich in der deutschen Volkswirtschaft zu Buche schlagen, wenn die Reproduktionsarbeit in den bessergestellten Haushalten geleistet wird und die Hausherr_innen zugleich ihrer statushöheren und besser entlohnten Erwerbsarbeit nachgehen können. In diesen Bedingungen ist die Verwundbarkeit besonders groß, und die Tätigkeit der Selbstorganisierung muss sicherlich auch die Gegenwehr gegen rassistische oder sexualisierte Gewalt oder verbale Übergriffe einbeziehen.

Gewalt gegen Frauen erfolgt sicherlich vor allen Dingen und besonders häufig in den sozialen Schattenbereichen: In den Bereichen der Entrechtetheit. Die abgründigste Entrechtetheit kennen Frauen in Deutschland sicherlich im rassistisch und flüchtlingspolitisch bedrohten Status. Vermutlich ist die massivste und gewalttätigste Gefahr im Land gegen Frauen von Rassismus gegen sie motiviert und/ oder begleitet. Und der Ort inoffizieller Arbeit und papierloser Beschäftigung, aber auch angemeldeter statusschwacher Beschäftigung fällt in diesen Bereich, sowie die oben genannte Haushaltsarbeit. Fälle von Beleidigungen oder Übergriffen werden nur selten gemeldet und dokumentiert. Einen Einblick in den zwischenmenschlichen Umgangston bei ihrer prekären Arbeit gab das Interview mit einer privaten Hauspflege-Angestellten in der "Konkret" vom Oktober 2013 (im "Dossier Feminismus. Wir müssen leider draußen bleiben"): Die langjährige Pflegerin aus Ex-Jugoslawien wird als regulär Beschäftigte von der Klientel wiederkehrend rassistisch und antisemitisch beleidigt.

Die Zuwanderer_innen-Feindlichkeit und rassistische Stigmatisierung von Personengruppen hat zugenommen und wird heute auch von breiten politischen Gruppen gefördert, das ist bekannt. Dabei profitieren deutsche wirtschaftliche Strukturen noch von der schlechten Entlohnung der gesellschaftlich nicht geachteten Dienstleistung, wie der Pflege oder häuslichen Reproduktion. Die Verwundbarkeit der dienstleistenden Frauen bleibt dabei hoch. In der Billigarbeit im Haushalt oder Pflege, wenn die Frauen als EU-Zuwandererinnen gemeldet sind, und in anderen Erwerbsarbeiten für Zuwanderer_innen. Die Situation von Geflüchteten grenzt an diesen Sektor an, sie birgt die größte Verwundbarkeit: Eine weitere Sphäre von Willkürgewalt durch Personal und deutsche Staatsbürger_innen ist hier gegeben, und grundsätzlich erdulden die Geflüchteten Frauen die strukturelle Gewalt durch die Flüchtlingspolitik.

Die strukturelle Gewalt durch die staatliche Flüchtlingsverwaltung wirkt sich aus mit der Tatsache der räumlichen Begrenzung und quasi-Arrestierung an einem Ort ( Lager, Heim), mit den menschenunwürdigen und gesundheitsgefährdenden Wohnumständen für die asylsuchenden Personen und mit der sozialen Stigmatisierung und Ausgrenzung in den Lagern und Baracken. Seitens der bürgerlichen Klasse in ihren elitefeministischen Verbreitungen wurde diese strukturelle Gewalt gegen Frauen verschwiegen, also verbal ausgegrenzt passend und folgsam zum politischen Willen. So wurden bis heute von diesem bürgerlichen "Feminismus" die asylsuchenden oder arbeitsuchenden Frauen, die hier zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zählen, zu Schattenpersonen erklärt und geleugnet.

Die deutsche Lagerpolitik grenzt Frauen aus und beraubt sie der Möglichkeit der Selbstbestimmung und Bewegung. Die betroffenen Frauen leben gesundheitlich besonders prekär, müssen in den primitiven Wohnungen um die Gesundheit ihrer Kinder fürchten und werden mit der Schikane konfrontiert, für medizinische Versorgung besonders weite Wege und lange Antragsverfahren auf sich zu nehmen.

Über ihre Situation berichten die Feministinnen bei der Organisation "Women in Exile" (Potsdam, www.women-in-exile.net). W.I.E. (gegründet in 2002 von Elisabeth Ngari und Mitarbeiterinnen) organisiert Workshops und Seminare für Geflüchtete, um Rechtskenntnisse und Wissen weiterzugeben, und dokumentiert die Situation der Geflüchteten Frauen gegenüber der Öffentlichkeit. In 2010 stellte sie ihre Forderung zur Abschaffung der Lagerpflicht für Frauen in Brandenburg auf. Beispielsweise am Frauentag, dem 8. März 2014 demonstrierten die W.I.E. vor der brandenburgischen Vertretung in Berlin. Bisher rang sich die brandenburgische Regierung zu keiner Abschaffung der Lager für Frauen durch.

Indessen haben aber W.I.E. in diesem Jahr den "Taz-Panter-Preis" für Engagement erhalten und können ihren Stand vor der bürgerlichen Gesellschaft damit sicherlich festigen.

Die "Women in Exile" dokumentieren die Hürden für die Alltagsaufgaben der Heimbewohnerinnen in Brandenburg, die aus der Flüchtlingspolitik sowie Arbeitsverboten und/ oder erschwerter medizinischer Versorgung resultieren. Sie verdeutlichen, dass tätliche Bedrohung gegen die Frauen, bis hin zur sexistischen Gewalt, bei der sozialen Stigmatisierung und in dem verunsicherten und entrechteten Raum des Heims rasch gewärtigt werden muss. In der besonders prekären Situation der Geflüchteten Frauen kommt die Ausgrenzung durch die staatliche Flüchtlingspolitik zum Tragen. Sie sind hierdurch in eine spezielle soziale Verwundbarkeit gebracht, die mit rassistischer Ausgrenzung zusammenwirken kann. Auch haben sie in der schwierigen Lebenssituation in den Heimen oder Lagern besonders hart um persönliche Sicherheit zu kämpfen.

"Eines der größten Probleme, denen wir hier im Heim gegenüberstehen, ist die Unsicherheit und die fehlende Privatsphäre", heißt es im Bericht von Pauline "Schwierigkeiten im Heim" ( Campaign Newsletter, November 2013). Sie erzählt, dass Personen verschiedener Kultur im Heim nebeneinander oder in einem Zimmer leben. Badezimmer sind nicht abgeschlossen, die Frauen erleben Belästigungen und leben in Furcht. Pauline berichtet von aggressiver Atmosphäre aufgrund der angespannten und unsicheren Lage, so mußte sie in einem Putzjob, den sie im Heim bekommen hatte, einen Streit mit männlichen Bewohnern führen und wurde bedroht. Die Männer fühlten sich beleidigt, weil sie als Frau ihnen sagte, dass sie die Küche jetzt nicht benutzen konnte.

Ein anderer Bericht zeigt die Willkürgewalt, die von deutschen männlichen Arbeitgebern drohen kann. In Monas Erzählung (Newsletter April 2014) erfährt die Leserin, dass diese Asylbewerberin zwar eine Aufenthaltserlaubnis und eine Arbeitserlaubnis bekam, bei der mühsamen Arbeitssuche aber ausgegrenzt wurde. "In meinem Land war ich eine qualifizierte Arbeitskraft. Ich war Programmkoordinatorin in einem Bildungsinstitut. Ich hätte nur meine Sprachkenntnisse verbessern und ein Praktikum machen müssen". Doch sie bekam nicht einmal bei einer Flüchtlingsorganisation ein Praktikum. Beim steten Erkundigen nach einer Arbeit traf sie einen Ladenbesitzer, der sie beschäftigen wollte. Im nächsten Telefongespräch erläuterte der Ladenbesitzer, dass es sich um Sexarbeit handeln sollte. Sie erkannte, dass der Mann ihre Situation nur ausnutzen wollte, und hatte zusätzlich zu der mühsamen, vergeblichen Arbeitssuche den "Schock" der Herabwürdigung zu verarbeiten. So empfiehlt die Berichterstatterin Mona den Frauen ihrer Situation, wie sie selbst zu lernen, sich gegen sexuelle Belästigung zu schützen.

Die "Women in Exile" wirken im Umgang mit und in der Sprache über die deutsche Alltagsrealität, wie sie den Geflüchteten Frauen gegenübertritt, und daraus ist zu ersehen: Die Verwundbarkeit der Frau hier im Land nimmt zu in dem Maße, in dem sie statusmäßig schlecht gestellt ist, und die besonders massive rassistische Gewalt, die hier und europaweit gegen Geflüchtete droht, kann noch verhängnisvoll gesteigert mit sexistischer Gewalt gegen Frauen zusammenwirken. Die Dunkelziffer der Beleidigungen und Übergriffe kann nicht ermessen werden. Der Bereich der Lagerpolitik und der Abschiebeverwaltung sowie die inoffizielle Arbeit sind der gesellschaftliche Ort, an dem Gewalt gegen Frauen vermutlich besonders fest verankert sein kann. Die Dynamik wird sicherlich von dem großen konventionellen Schweigen erzeugt, das sich aus politischem Willen und bürgerlichem Anpassungswillen zusammensetzt. An diesem Ort und mithilfe dieses Schweigens werden die Rechte von Frauen mit Füßen getreten.

Wichtig ist, eine Differenzierung zwischen der prekären Gefährdung der Geflüchteten und der Situation von staatsbürgerlichen Frauen angesichts von Sexismus zu ziehen. Der Antisexismus hat am entschiedensten dort anzusetzen, wo die Entrechtung abgründig wirkt und die Gefährdung am höchsten ist, bei der Flüchtlingspolitik. Fragen wir deshalb heute nach dem gesellschaftlichen Stand der Frau, müssen wir folgern: Die Würde der Frau in Deutschland wird an Paß- und Besitzangelegenheit geknüpft, und in der Situation der Nicht-Weißen und Nicht-Staatsbürgerlichen Klassen droht entfesselte Gewalt - die heute noch dazu angefacht wird von rechten Hetzen gegen ZuwandererInnen und Menschen verschiedener Kulturen. In allen Klassen jedoch ist der Sexismus auf dem Vormarsch, weil die Norm männlicher tradierter Herrschaft wiederkehrt, nachdem gesellschaftliche Sprachformen und Ausdrucksbereiche reduziert und entwertet wurden.

In der bürgerlichen Sphäre der Weißen Abgesicherten Staatsbürger_innen (der ich zugehöre) ging frauenfeindliche Prekarisierung in der Niedriglohnpolitik voran (Abbau von Arbeitsstandards etwa bei den Dienstleistungen, die immer noch zum größten Teil von Frauen bestritten werden), und in der kommerziellen Propaganda kam die normierende Begrenzung und Abwertung der Frau zum gefälligen Schönheitsobjekt zurück. Im Kommerz wurden weibliche äußerliche Normzwänge in den letzten Jahren wieder mehr aufgebaut. Eine sexistische Ordnung wird vom tragenden Motiv der "Wirtschaftlichkeit" selbstläuferisch errichtet und von idiotischen Journalist_innen und Publizist_innen verklärt.

Davon geben uns die kritischen feministischen Werke Zeugnis. Vom Alltagssexismus berichtete Laurie Penny (England) in "Fleischmarkt" (Nautilus-Verlag) in 2012. Sie dokumentiert die äußerliche weibliche Normgeschlechtlichkeit, die in der suggestiven Gewalt der Marktstrategen übermittelt und zum must erklärt wird. Penny zeigt, dass das weibliche normgeschlechtliche Schönheitsideal aus einer wirtschaftlichen und industriellen Anforderung hervorging und weiter hervorgeht. Medien, Film und Werbung aus Kosmetikindustrie und Schönheitsmagazinen pflanzen den jungen Mädchen früh die besessene Angst ein, unattraktiv, nicht begehrenswert oder körperlich makelhaft zu sein. Für sie gilt, sich an die neuesten Moden in Kleidungs- und Kosmetikindustrie zu halten. Ein ganzer Markt basiert so auf der weiblichen tradierten Angst, nicht zu genügen und auf einem Minderwertigkeitskomplex. Dies kann zu einem manischen Anpassungsverhalten an die gebotene Norm führen, die immer wieder dem überschlanken Model, dem Laufsteg-Typus entspricht. Daher, so Penny, rühren ernste gesundheitsschädigende Folgen für die Teens und Frauen, wie Magersucht und Essstörungen.

Von den deutschen Autorinnen hat in 2014 Julia Korbik eine gleichwertige Kritik der sexistischen Industrie geliefert mit "Stand up! Für einen neuen Feminismus". Sie analysiert das Gendermarketing in Produkt- und Lifestyle-Industrie sowie in den Medien, die ein heteronormatives Ideal befestigen und immer wieder die normgeschlechtliche weibliche Qualität am Schönheits-Typus der bekannten Eigenschaften festmachen. Mit verheerenden Auswirkungen für die jungen Frauen und Teens, auf die die Marktstrategien abzielen. Zwanzig Prozent der Jugendlichen hätten derzeit eine Essstörung, von diesen seien es neunzig Prozent (normgeschlechtlich selbstdefinierte) Mädchen. Die Orientierung an äußerlichen Körpermerkmalen erhält durch die Medienindustrie und die Marketingstrategien ihren ständigen Antrieb. Die Angst, zu versagen oder gebrandmarkt zu werden, wird bei den Heranwachsenden weiterentfacht. Vielleicht ist es kein Zufall, dass beide Autorinnen mit dem entschiedenen Angriff dieses Themas unter 30 sind. Sie zählen zur neuen feministischen Generation, konfrontieren den zeittypischen gesteigerten Kommerzialismus und die idiotischen Tendenzen der Alltagskultur, und haben Zorn und Scharfblick im Gepäck. Von der Selbstverliebtheit und den Klischees der bürgerlichen (Elite-)Feministinnen sind wir wohltuend erlöst.

Der Sexismus in der deutschen Öffentlichkeit und in den verbreiteten Darstellungen von normativ-weiblichen Idealen in Marketing, Werbung und Medien ufert heute aus. Kein Thema für die genannten Elitefeministinnen, wurde der Sexismus dennoch von anderen Autorinnen besprochen in dem Buch "Sexismus befragt, beschrieben, besprochen...und wie wir ihn beenden" von Yasmina Banaszczuk, Nicole v. Horst, Dr. Mithu M. Sanyal und Jasna Strick ( Orlanda-Verlag 2013). Sie nahmen die Sexualisierung und Objektivierung der Frau in Medien und Gesellschaft zum Thema einer Kritik, die sie anhand ihres Twitter-Projekts "#aufschrei" im Buch formulierten. Bei "#aufschrei" hatten tausende Userinnen ihre Erfahrungen mit Sexismus berichtet. Ausgehend von dem sexistischen Ausspruch eines Politikers, verfassten die Autorinnen einen Appell an Medien und Politik. Ihre Kritik griff kurz. Das legte ich dar in meiner Polemik "Für Lust in der sozialen Wüste. Kritik des kommerziell-feministischen Ansatzes im Buchprogramm des Orlanda-Verlags" im Trend vom Juli dieses Jahres. Als wichtigste Leistung des Buches "Sexismus befragt...und wie wir ihn beenden" sehe ich nur, dass es den Wohlfühl-Feminismus der Elitefeminismus wieder aufstört und jetzt aus den Reihen der mittelständischen Publizistik ein Gegenzeugnis lieferte. Ausgesagt wurde: Es gibt durchaus ein Problem mit Frauenfeindlichkeit. Aber das Buch von Sanyal, v. Horst u.a. liefert eine allzu bequeme Hoffnung. Das #aufschrei-Projekt ist kein Raumprojekt. Der Widerspruch gegen Alltagssexismus geht hier nur von Webblog und Internet aus mit anonymen Userinnen-Stimmen. Für eine gesellschaftliche Änderung wäre es nötig, sich konkret mit einer Praxis und einer Gruppe zu solidarisieren. Doch gibt sich das Buch als umwälzend. Das ist nicht gerechtfertigt. Es fördert Unmut zutage und läßt die Strukturen der Verursachung im Dunkel. Die Autorinnen geben keine Handhabe für ein kollektives antisexistisches Zusammenwirken. Sie appellieren und richten sich dabei an den Bundespräsidenten und an die öffentlichen Fernsehanstalten. Gewünscht wird, die Mediensprache und mit ihr die Gesellschaft zu ändern. Damit müssen die Autorinnen wirklich auf ein basisdemokratisches Funktionieren in der kapitalistischen Ordnung spekulieren. Dazu will ich ihnen nicht mal die Daumen drücken. Denn das Problem rührt aus Machtstrukturen her, deren Ausdruck die kommerzielle und mediale Sprache ist. Doch das Buch gibt keine kritische Diskursanalyse, um den Kapitalismus zu entlarven und besser angreifen zu können, sondern äußert einen Reformierungswunsch. Das begründet sich auch darin, dass die Autorinnen selbst hoffen, in den medialen Strukturen, in Fernsehen und Presse, weiterhin ihr geglücktes Auskommen zu finden. Und so wird natürlich die klassenspezifische Bedeutung von Sexismus hier auch verworfen. Somit erlange ich keine nutzbringende Botschaft von den Autorinnen. Der Reformierungswunsch führt dazu, dass das Problem hier letztlich gar verharmlost wird- weil es vermeintlich durch demokratische Rede zu ändern sei.

In diesem Beispiel in der mittelständischen Literatur verlief die feministische Suche zu zahm, weil sie kapitalistische Mechanismen nicht durchschaute und sich von Herrschaftsanalyse abwendete. Und wenn wir zurückblicken, erinnern wir uns, dass andererseits Elitefeminismus und Antifeminismus geradezu abgelenkt hatten von jeglicher Formulierung von Sexismus und kritischem Feminismus. Sie hatten die feministische Frage vernebelt- zugunsten von der Leistungsideologie. Abgelenkt wurde von sozialen und psychologischen Themen. Zugleich nahmen die chauvinistischen Tendenzen in Kommerz, Medien und Alltag zu.

In den neuesten bürgerlichen Publikationen wird Feminismus, LGBTI und gesellschaftliche Vielfalt unverhohlen angefeindet. So hat seit 2014 der Antifeminismus seine Hetzschrift mit Akif Pirinccis "Deutschland von Sinnen: Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer". Hier wird offen Stimmung gemacht gegen Homosexuelle und LGBTI sowie gegen Frauen und gegen statusschwache ZuwandererInnen. Mit Sarrazin gäbe Pirincci ein gutes Team ab, gemeinsam können sie die komplette Gesellschaft beschimpfen mit Ausnahme der Elite-Männer. Pirinccis Buch, von dem ich nur die Rezension der "Wirfrauen" las, die mir ausreicht, passt zur Ressentimentkultur des Bürgertums, die den Leerplatz der Kultur einnimmt. Passend zu diesem erschien aber ebenfalls in 2014 noch ein weiteres Ressentiment-Erzeugnis mit dem Titel "Tussikratie. Warum Frauen nichts falsch und Männer nichts richtig machen können" (Knüpling, Bäuerlein.). Beide Lektüren wurden besprochen von der Zeitschrift Wirfrauen vom Herbst ( Nr. 3/ 2014). Zitiert wird nur kurz daraus: "Die Tussi selbst ist solidarisch. Sie hat einen großen Freundinnenkreis und versucht, ein speziell weibliches Netzwerk aufzubauen. (...)" Die Rezensentin Anna Schiff fragt angesichts dieses Werkes, "ob es wirklich sein muss, dass für solche Bücher ein Baum stirbt". Ja, leider, muss frau feststellen. Signifikant ist aber, dass letzteres Buch in einer Besprechung der ZEIT als "das Intelligenteste" bezeichnet wird, "was in der jüngeren Zeit zum Feminismus veröffentlicht wurde."

So wird nun auch in der bürgerlichen Gesellschaft direkt antifeministisch Norm, Anpassung und gesellschaftliches Schweigen eingefordert von den National-Schreiberlingen. Im Grunde zielt die rein negierende und diffamierende Sprache, wie sie Sarrazin in seinem rassistischen Buch "Deutschland schafft sich ab!" handhabte, auch hier auf dasselbe ab: Sie beschimpft Menschengruppen, die als Repräsentant_innen der Gesellschaft weiterhin Andersheit leben und die nationalpolitische Norm brüskieren. Es geht hier um Sichtbarkeit selbst, die den Autor Pirincci, sowie Bäuerlein und Knüpperlin verärgert. Und so müssen diese ebenso wenig wie Sarrazin ihre Buchdeckel mit inhaltlichen oder gedanklichen Leistungen auffüllen, da sie nur eine Weigerungserklärung gegen diese Sichtbarkeit ausdrücken. Dementsprechend gestalten sich ihre Texte mit Hetzworten und gefährlichen Titulierungsversuchen.

Und das wenige Jahre nach dem Optimismus von Thea Dorn, Desiree Nick u.a.! Zuvor war schon klar, was frau intendierte: Anpassung, bitte. Drückte sich diese Tendenz noch im euphorischen Tonfall aus, so erlebt mensch heute von der bürgerlich-nationalen Moralschiene die Sprache des Ressentiments. Man (und frau) will den solidarischen Feminismus nicht mehr ertragen. Und damit schafft man (und frau) auch eine Rechtfertigung für die imperiale männliche heterosexistische Norm, die wieder in finstere Zeiten zurückführt.

Der neueste Antifeminismus und die heutige Homophobie sind konsequent und nur deutlicher gesprochen. Ihre männliche heterosexistische Norm entspricht einem verbreiteten Herrschaftskult, der sich psychologisch zunehmend als Ersatz für Glück, Entfaltung und menschliche Beziehungen durchsetzt. Dieser Herrschaftskult tönte schon seit langem im kommerziellen Geschehen.

Der Kommerzialismus brachte eine Objektivierung und Frauenfeindlichkeit in Film, Bild und Wort, die ihre Auswirkung tätigt. Bilder und Parolen werden unter erheblichem finanziellem Aufwand im öffentlichen Raum errichtet, und derart werden Signale gesetzt, die Machtsignale sind. Die Produktwerbung zielt auf den primitiven Effekt ab und bedient die kapitalistische Verwertungslogik, indem sie Menschen nur als Objekte darstellt- traditionell Frauen, die als Lustobjekte gehandelt werden. Sexistische "Altherrenwitze" und Sprüche "in bester Stammtischmanier" bebildern den öffentlichen Raum, wie eine Rezension in der Zeitschrift Wirfrauen ( "Sexism and the City", in Nr. 2-2012) am Beispiel des Ruhrgebiets dokumentiert. Hier wird außerdem berichtet von den Störaktionen von antisexistischen Aktivistinnen, die Teile der Bilder und Sprüche mit adbusting und bashing überkleben.

Besonders frauenverachtend geht etwa die Marke Axe des Konzerns Unilever vor, die mit "Such dir ne Stellung als Missionar" und anderen Parolen um Aufmerksamkeit ersucht. Es gilt als üblich, dass die Frau in der Produktwerbung nach wie vor als käufliches Lustobjekt dargestellt wird. (In diesen Darstellungen wird die Power-Frau der elitefeministischen Hoffnung ständig konterkariert.) In Berlin warb am Hauptbahnhof ein Hotel auf einem mehrere Meter hohen Plakat für "eine unvergessliche Nacht" mit einer leichtbekleideten Frau im Prostituiertentypus, die auf dem Bett liegend aufblickt. Die Sex-Aufforderung auf Produkten aller Art ist stereotyp, der Gedanke von der Verfügbarkeit des Menschen soll vielleicht einen psychischen Ausgleich herstellen im Normen-Alltag, wenn zwischenmenschliche Leere und Frustration die Stimmung dominieren. Die Beispiele von den Abwertungen und Stilisierungen in Sexdarstellungen sind zahllos. Sie stellen den allpräsenten kulturellen Hintergrund der Passant_innen, die sich in diesem öffentlichen Raum bewegen.

Die Abwertung der Frau hat also offenbar einen Eigenwert im kommerziellen Ablauf. Dies ist systemimmanent. Und vor diesem Hintergrund wird auch Sprache und Normverhalten weitergeprägt. Die sexistische Normativität (und Normalität) im Kommerzialismus unterstützt ein sexistisches Reden und Gebaren bei den Konsument_innen und Produzent_innen. Diese Normalität und Normativität wirkt erzieherisch auf junge Konsument_innen- denn diesen wird eine Orientierung an die Hand gegeben, um sich selbst zu definieren, und ein gesellschaftliches Bild, um sich zu positionieren. Und diese Normalität und Normativität wirkt ebenso auf erwachsene Konsument_innen – denn sie wird als konventionelle Sprache verstanden, als Alltagssprache oder Lifestyle. Die Marktsprache gehört - neben der politischen Sprache -längst zu einem Teil von gesellschaftlich verstandener Wertekonvention. Sie liefert den kulturellen Ausdruck für die autoritären Strukturen im Neoliberalismus. Es gehört zum Verständnis der Markenstrateg_innen, eine Nähe zur ihrer Klientel zu behaupten und eine witzige, ironische und kalauernde Sphäre von Jugendsprech aufzubauen, die zwischen den Markenfirmen und den KonsumentInnen hin- und- hergehen soll. Dabei werden Menschenbilder errichtet und übermittelt.

Setzen wir als These voraus, dass in den letzten Jahren Alltagsaggressivität im öffentlichen Raum zunahm, in Straßen, an Plätzen und in Verkehrsmitteln. Dazu kommt auch vermehrt frauenfeindliches Verhalten und/ oder Reden. Ich spreche hier von einer empfundenen öffentlichen Kommunikation, von meinen eigenen städtischen Gängen und Ausflügen, wobei etwa vor fünf oder zehn Jahren noch ein weitaus angenehmeres Vergleichsklima da war. Beweisbar ist das nicht und dazu fehlen bisher soziologische oder genderwissenschaftliche Studien. (Staatliche Studien mit sozialpsychologischen Inhalten abseits von ordnungspolitischen und strafrechtlichen Themen gibt es ohnehin nicht mehr). Vermuten wir, dass es im täglichen Umgang immer weniger Toleranz und kommunikative Offenheit gibt. Der Stress hat die Bevölkerung im Griff infolge von Geldsorgen, Unsicherheit und Vereinzelung. Erklären wir uns damit, dass sich Anspannung immer öfter ihr Ventil sucht und dass öfter feindselige, beleidigende und abwertende Bemerkungen fallen. Nicht fortwährend, aber häufig von alkoholisierten Passanten und bei zunehmenden Gelegenheiten auch von solchen, die gar nicht berauscht sind ,abgesehen vielleicht von einem Ego-Rausch oder Geltungssüchtigkeit. So sind mehr rassistische und sexistische Hassparolen zu hören. Und leider -zu beobachten ist nicht, dass andere Passant_innen dabei mit "Zivilcourage" glänzen- sondern es wird sich weggeduckt.

Da müssten wir übrigens fragen, woher die plötzlich empfohlene "Zivilcourage" rühren solle in der sozialen Allgemeinheit, die sich auf Norm und Anpassung hin trainieren läßt und trainiert wird.

Denn der sexistische (verbale oder tätige) Übergriff ist keine primär ungesetzliche Überschreitung: Er kommt aus dem Konformen und mündet wieder ins Konforme. Denn ( normgeschlechtlich-männliche) Selbstgefälligkeit, (imperiales) autoritäres Gehabe, körperliche Dominanz und Aggressivität zählen heute zu positiv bewerteten Eigenschaften für die bürgerlich-gesellschaftlichen Personen. Aus einer gewissen Normativität geht der sexistische Übergriff hervor. Und zum sexistischen Übergriff wird das (männliche) Subjekt durch den normativ sexistisch bebilderten öffentlichen Raum noch gewissermaßen ermutigt.

Die sexistischen Normen des Kommerzialismus prägen den öffentlichen Raum und das öffentliche Sprechen. So können sie auch bewirken, dass sexistisches und übergriffiges Sprechen im öffentlichen Alltag zunehmen. So untermauern sie die normative männliche Dominanz und behaupten, der verbale sexistische Übergriff sei ein Spiel. Und so können sie auch herbeiführen, dass öfter und direkter sexistische Übergriffe in der Öffentlichkeit- verbal oder tätlich- stattfinden. Die Tatsache von zahlreich erlebtem Sexismus wurde belegt von "Sexsimus befragt, beschrieben...". Und es ist möglich, dass die zunehmend verrohte normative frauenfeindliche Sprache im kommerziellen Alltag auch sexistische Anmachen und gewalttätiges Täterverhalten im Fall von Tugce und ihren Begleiterinnen begünstigt hatte: Zwar nicht dadurch, dass in ebendemselben Moment ein sexistisches Plakat vor der Gruppe prangte und die Täter verleitet hätte - nein, natürlich nicht! Aber durch einen konventionellen Hintergrund, der seit Jahren aufgebaut wurde.

Das hemmungslose Zuschlagen des männlichen Täters zeigt allerdings an, dass hier kein Spiel gespielt wurde. Hierin lag Hass. (Die Abwertung der Frau in der konventionellen Werbesprache hat allerdings auch seit langem den Bereich des Flirtens und der Andeutung verlassen. Und es wäre zu diskutieren, ob in manchen Darstellungen nicht auch bereits Haßqualitäten ausgedrückt werden.) Die männliche Gewalt des Täters, der Tugce tot prügelte, war allerdings ein Ausdruck von hemmungsloser Brutalität und muss genauer betrachtet werden.

Gewalt an Frauen wird seit Jahren als Randthema der bürgerlichen Gesellschaft gehandelt. Im Verlauf der "neuen" feministischen Debatten seit 2006 wurde das Thema dieser Gewalt so gut wie ausschließlich als migrantisches Problem dargestellt und mit Zwangsehen und Eifersuchtdelikten etc. in Verbindung gebracht. So wurde einmal mehr davon abgelenkt, dass gewalttätiges Verhalten gegen Frauen und gegen als schwach oder nicht normgeschlechtlich empfundene Personen ein soziales und kapitalistisch-immanentes Problem sein könnte.

Erhebungen zum Thema erscheinen hauptsächlich nur noch einmal jährlich zum Tag der Frau am 8. März. Das Thema wird dann an diesem einen Tag mit allerlei diversen Frauenthemen – Historisches, Gewerkschaftliches, Familienpolitisches- in den bürgerlichen Medien zusammengemixt. Eine Vertiefung des Themas in Presse und Publikationen bleibt aus.

Wer im Internet unter dem Stichwort nachsucht, findet etwa die Erhebung der Agentur der Europäischen Kommission "Gewalt gegen Frauen- sie passiert täglich und in allen Kontexten" von 2014.

Hier erfährt mensch aktuelle europäische Zahlen und zugleich den Handlungsansatz in der Sicht der EU-Politik.

Von 2014 verlautet der Schnitt aus der gesamten EU von 42 000 befragten Frauen aus den 28 Mitgliedsstaaten.

"33 Prozent der Frauen haben seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Das entspricht etwa 62 Millionen Frauen."

"55 Prozent der Frauen haben irgendeine Form der sexuellen Belästigung erlebt."

"11 Prozent der Frauen haben bereits unangemessene Annäherungsversuche in den sozialen Medien erlebt oder erhielten E-Mails oder SMS-Nachrichten mit eindeutig sexuellem Inhalt."

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...)

Sind die Zahlen erschreckend hoch, so sind die Handlungsempfehlungen erstaunlich simpel: Es geht um Kontrollmaßnahmen auf konform autoritärer Ebene, nicht um soziale Ursachenforschung. "Die EU-Mitgliedsstaaten sollten den Anwendungsbereich ihrer rechtlichen und politischen Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung überprüfen. Diese müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass sexuelle Belästigung überall auftritt und über unterschiedliche Medien, etwa das Internet oder Mobiltelefone, erfolgen kann."

Ein wesentlicher Verbesserungspunkt etwa soll in der Aufzählung von Handlungsempfehlungen die Kontrolle von Internet-Providern sein. Desweiteren wird die Polizei in den empfohlenen Maßnahmen gleich dreimal als notwendige Instanz genannt. Sie solle geschult werden, um "jegliche Form von Gewalt gegen Mädchen und Frauen in verschiedenen Umfeldern (aufdecken), (melden) und (ahnden) zu können."

Weiterhin wird die Schulung von Opferhilfen und Betreuungsorganisationen empfohlen. Doch an keiner Stelle in den Handlungsempfehlungen ist von mehr Finanzierungshilfen für diese Opferhilfen die Rede.

"Die in dem Bericht zusammengestellten Erhebungsergebnisse lassen keinen Zweifel daran, dass ein breites Spektrum unterschiedlicher Gruppen, wie etwa Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, medizinisches Fachpersonal und Internet-Provider, Maßnahmen zu Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen treffen mussten."

Die Handlungsempfehlungen der EU zeigen das systemimmanente Problem: Ein soziokultureller Blick fehlt ganz. Es fehlt die Frage nach sexuell abwertenden oder frauenfeindlichen Verhältnissen im Umfeld oder in der Kultur der EU-Staaten, und so fehlt auch in den Handlungsempfehlungen die Beauftragung von SoziologInnen, ErzieherInnen und PsychologInnen, um den Ursachen auf die Spur zu kommen. Das Soziale existiert offenbar gar nicht mehr als Denkkategorie in der neoliberal durchorganisierten EU. Das bedeutet eine erhebliche Denklücke beim Phänomen Gewalt. In der sehr vereinfachten Darstellung des Dokuments erscheint sexuelle und/oder körperliche Gewalt als stets ungesetzliche und autoritätsferne Handlungen bzw. als ausufernde Internetkriminalität. Arbeitergeber_innen oder Mediziner_innen werden hier nur als Klientel für den Opferschutz benannt. Dass die gewohnten Autoritäten immer gut seien und hier einfach zur Problemlösung herangezogen werden könnten, ist der simple Denkansatz.

Auch das Fehlen einer Finanzierungslösung für den Opferschutz macht nachdenklich. Es verweist uns auf ein wiederum pekuniäres und kapitalistisches Prinzip. Frauenhilfen und Opferhilfen unterliegen seit vielen Jahren dem Rotstift – in Deutschland wie anderswo. Und die deutschen politischen Ansprachen zum Frauentag, die die "Gleichberechtigung" zum Thema haben, wünschen sich eine billige und wirtschaftlich tragbare Gleichberechtigung. Bei Frauenhäusern wie auch Opferhilfen wird öffentliche Finanzierung seit Jahren reduziert. Eine neu anberaumte "Hotline" für Frauen seit 2012, die vom Bundesministerium für Familie und den großen Sozialverbänden eingerichtet wurde, bietet keine mobile Hilfe, sondern nur telefonische Hilfe, Adressen-Weiterreichung und Polizei-Meldung an.

Als ein Beispiel von jüngerer Sparpolitik diene hier die Meldung vom Dezember 2012 in der Zeitschrift "Wirfrauen": "Projekt Zugang für alle! gefährdet. Das Projekt vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Frauen gegen Gewalt e.V. (bff) mußte zum Oktober aufgrund fehlender finanzieller Sicherheit vorerst die Arbeit einstellen, da ein Antrag auf Anschlussfinanzierung von der bisherigen Zuschussgeberin abgelehnt wurde....Mit dem Projekt "Zugang für alle!" hat sich der bff in den letzten zwei Jahrzehnten intensiv dafür eingesetzt, den Zugang zur Beratung und Unterstützung für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen mit Behinderung zu verbessern und auszubauen."

Opferhilfen und Sozialberatung sollen nichts kosten, und Psycholog_innen werden gar nicht erst für Problemlösung und Gewaltforschung beauftragt- es ist klar, dass das Thema selbst die Politik und Allgemeinheit nicht interessiert. Dies ist konsequent, da das Thema sich nicht für Verwertung und Wertschöpfung eignet.

Andererseits ist die Frage nach der Ursache von Gewalt an Frauen, unliebsam geworden. Sozialpsychologisches interessiert nicht mehr für Regierung und bürgerliches Publikationsmilieu. Gehen wir also von folgendem aus: Das Sozialpsychologische (als Existierendes) wird tabuisiert und mit ihm die Tatsache, dass die gesellschaftliche Atmosphäre des fortgeschrittenen Kapitalismus überhaupt Täter produziere. Eine allgemeine Ideologie von Selbstverantwortung hat die Gesellschaft durchdrungen und begleitet die empfohlene Vereinzelung und Karrieremanier. Gleichzeitig wird die Machtfrage verschwiegen.

Tatsächlich werden zunehmend Täter und Opfer in der vermeinten befreiten Gesellschaft produziert. Mit der entsolidarisierten Gesellschaft, mit mehr Leistungszwängen und Sachzwängen, mit mehr Rassismus und Abschottungspolitik werden alle Personen in eine erbarmungslose Hierarchie eingesetzt, und für die Atmosphäre bedeutet das ein Dasein im psychologischen System von Angst und Druck. An die Stelle von Beziehungen treten wertförmige Kalküle, und an die Stelle von menschlichem Tätigsein individualistisches Kämpfen um den höheren Rang. Auf der Suche nach der Erfolgsstrategie drängt das angepasste Subjekt nach der normierten Eigenschaft und nach hervorgekehrter Härte.

Zugleich werden zunehmend Sprachformen, Sitten und Personen, die von der Norm abweichen, ausgegrenzt und bekämpft, - diese Norm hat der kapitalistischen Verwertung zu entsprechen. Als daseinsberechtigt gilt, wer sich verwertet. Als wertvoll gilt, wer den Mehrwert herstellt oder es zumindest versucht. Minderheiten und Gruppen, die wertfrei leben und die eine Unabhängigkeit vom Geld- und Machtkampf zeigen, ecken an. Persönlichkeiten und Menschen, die die seelische und zwischenmenschliche Entfaltung des Subjekts wollen, werden in einer neuen Hasskultur angegriffen.

Es ist nicht nur ein ideologischer, sondern auch psychologischer Prozess. Das Leben ohne Zwischenmenschlichkeit, das heute unser gesellschaftliches Dasein bedeutet, führt zu einer Entleerung der Seelen. Als Sicherheit gilt nur noch das Augenfällige und "Effiziente".

Als Wert setzt sich das Siegerprinzip durch. Damit gelangt die Gesellschaft wieder zur Faschisierung und zur Hasskultur. Eine Tatsache, die uns heute von den zunehmenden rechten Aufmärschen gegen Geflüchtete und Muslime, und von wachsender rassistischer Drohung seitens beträchtlicher Teile der Bevölkerung deutlich wird.

Ich sehe die Tat des jungen Mannes, der Tugce erschlug, im Zusammenhang mit einem konventionellen brutalisierten Umgangsklima in der Gesellschaft. Und vielleicht hatte der 18-jährige Täter in dieser Gesellschaft überhaupt nicht gelernt, zu diskutieren und dialogische Worte zu verkraften – vor allen Dingen dialogische Worte von einer Frau. Zwischen persönlicher Frustration, verinnerlichtem Siegerprinzip, faschisiertem Auftrumpfen und frauenfeindlicher Konformität siedle ich seine Tat an.

Sozialpsychologisch will ich das Siegerprinzip charakterisieren als einen Selbstwert, der aus dem materiellen Kalkül und der autoritären Anpassungsleistung hervorging und das individuelle Auftrumpfen und Bestehen sucht bis hin zur Gewalt. Jede emotionale und gedankliche Entwicklung wird abgelehnt und es gilt als Stärke, eine solche Raumgebung für Andere zu bekämpfen. Es ist eine kulturfeindliche und menschenfeindliche Entwicklung, und in der Regression bei diesem gesellschaftlichen Stand wird auch traditionell die Unterdrückung der Frau wieder mehr salonfähig.

Was sich heute wieder in der Gesellschaft herausbildet, ist "ein autoritärer Charakter", wie ihn Erich Fromm in dem Buch "Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen" beschreibt. Der autoritäre Charakter hat nicht gelernt, seine Freiheit zu leben und sehnt sich nach Sicherheit. So orientiert er sich an starren Regeln und Ordnung. Im Sadismus tendiert er außerdem dazu, seine autoritäre Neigung auszuleben. Entsprechend dem faschistischen General Millan Astray mit seinem Slogan "Es lebe der Tod!" neige dieser Typus dazu, die tote Ordnung anzuhimmeln und sie der unüberblickbaren lebendigen Vielfalt vorzuziehen. Dass daraus eine faschistische bedrohliche Verhaltensform erwachsen kann, liegt nahe.

Sehr daran angelehnt erörtert Fromm auch den autoritären Charakter mit seinem besessenen Machtstreben und seinen imperialen Träumen in seinem Kapitel "Die Pychologie des Nazismus" in "Die Furcht vor der Freiheit".

In der sozialdarwinistischen Gesellschaft findet das Siegerprinzip heute seinen Boden, während mehr Subjekte in dieser Gesellschaft von Zukunftsangst gepackt sind und versuchen, ihr Ego durch äußerliche Aufwertung zu retten. Im Innern verzehren sich die Betreffenden von Angst und menschlicher Leere. Siegt die Feigheit, so suchen sie sich das starke Vorbild und üben Anpassung an die Norm, und suchen das äußerlich schwächere Individuum als Objekt für ihre angestauten Aggressionen, sie drängen wieder zu faschistischen Ideologien. Darin sehe ich inbegriffen das Wiedererstarken der Frauenfeindlichkeit.

In der Gegenwart mit der Verwertung des Menschen und der Verächtlichmachung von friedlichen und solidarischen Lebensformen liegt diese Gefahr nahe, und es sollte energischer gegen das Siegerprinzip vorgegangen werden, für Solidarität und Andersheit in der Gesellschaft. Die Studentin Tugce kann damit nicht gerettet werden, doch ihrer sollte in der Wiederaufnahme des Antisexismus gedacht werden.

Zu vermuten ist, dass Sexismus zukünftig gewalttätig bleiben wird. Unerträglich ist er längst schon im gesellschaftlichen Bereich der rassistisch Ausgegrenzten und Papierlosen. Der Antisexismus sollte vor allem in der Praxis ansetzen bei der institutionellen und rassistischen Unterdrückung und der Flüchtlingspolitik oder sei es bei den wirtschaftlichen Aspekten der Prekarisierung und Ausbeutung in der Schattenwirtschaft. Es ist außerdem nötig, dass Solidarität für LGBTI und gegen Homophobie bekundet wird und dass die solidarische Szene dominanter gegen den Norm-Alltag auftritt – nicht nur an den anberaumten Tagen der Paraden für Vielfalt, sondern zu mehr Zeitpunkten und in mehr Räumlichkeiten. Zusätzlich könnte antisexistisches Tun im öffentlichen Raum wieder mehr an Fahrt aufnehmen und auch die vermeintlich nebensächliche Ebene der Kommunikation wieder beglücken. Auch im Gebiet der Psychologie wäre vermutlich mehr zu leisten, um das Tabu von Opfer und Täter wieder aufzuheben. Deshalb müssten auch Berichte, Biographien und Erhebungen vom Ist-Zustand in der Gesellschaft erscheinen, in der tatsächlich Opfererleben seinen großen Schattenraum einnimmt. Auch für psychologische und emotionale Darlegungen wären noch mehr feministische Dokumentationen zu schreiben. In machttheoretischen Erörterungen der feministischen Kritik könnte mehr zutage gefördert werden, was heute oft im Schweigen landet: Die beginnende Wurzel von Gewaltverhältnissen in kleineren oder größeren Hierarchieen im Alltag, in Dominanzgebaren, autoritärer Rede- und Handlungsstruktur, Bevormundung, Benutzung und Ausbeutung.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.