Heinrich Bölls Kölner Erzählung "Keine Träne um Schmeck" und ihr soziologisches Umfeld

von Richard Albrecht

 

12/2017

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Ob es der rheinkatholische Moralist und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (1917-1985) (in) der sozialliberalen Entwicklungsperiode des bürgerlichen Deutschlands der 1970er Jahre verdient hat, zum 100. Geburtstag am 21. Dezember 2017 vom (groß)medialen mainstream landauf-landab nekrologisch einvernommen zu werden, mögen andere beurteilen (oder es lassen). Meine subjektgeschichtliche Erinnerung an Bölls wichtige (1962 erstgedruckte) Erzählung KEINE TRÄNE UM SCHMECK und seine satirische Sicht auf zwei Hauptvertreter der damals relevanten Kölner Soziologie ist und bleibt historisch konkret. Ob das der Grund war und ist, daß in keinem der beiden realexistierenden öffentlich-rechtlichen Kölner Radiosender / Funkhäuser (WDR und DLF) auch nur ein/e Redakteur/in für diesen Beitrag auffindbar und ansprechbar war, mögen andere beurteilen (oder es lassen). Heinrich Böll selbst sprach 1979 öffentlich die schleichende Verschleimung der öffentlichen Meinung an. – Der hier netzveröffentlichte Beitrag wurde zuerst im Linzer Fachmagazin soziologie heute (Heft 23.2012; Juni 2012) und aktuell im Marburger FORUM WISSENSCHAFT (Heft 4.2017; Dezember 2017), jeweils etwas gekürzt, gedruckt. (Manuskriptabschluß & Linküberprüfungen des Texts 15.12.2017). RicAlb

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"Viel strafbarer noch als mein Gegner ist der eigene Vertreter meiner Rechte, wenn er meine Rechte verrät" (Ferdinand Lassalle, "Was nun?" Zweiter Vortrag über Verfassungsfragen. November 1862)

Autorenerinnerungen

Als ich in der elften Klasse (Obersekunda) der Wissenschaftlichen Oberschule für Jungen in Harburg schülerte und in der Literaturanthologie Das Atelier (1962)[1] im Sommer 1962 Heinrich Bölls Geschichte Keine Träne um Schmeck las, wußte ich nichts von Soziologie. Möglich auch, daß ich über HBs Text vor fünfzig Jahren zum ersten Mal Soziologie ausdrücklich wahrnahm. Heute, nach fünfzig Jahren, weiß ich manches vom Erzähler und vieles von den Erzählten: den Erzähler traf ich in meinen „Kölner“ Jahren 1974/78 als Wolf Biermann und HB gemeinsam wie ich allein 1976/77 im Zoogarten spazieren gingen und ein paar flüchtigste Worte wechselten; später nochmal 1980 auf einem bundesdeutschen Schriftstellerkongress. Von HB, dem Höflichen, erhielt ich noch später, 1984, einen freundlichen-belanglosen Brief: der Literaturnobelpreisträger (1972) bedankte sich förmlich für irgendwas Zugeschicktes beim so jungen wie namenlosen Autor.[2]

Beide Erzählte kannte ich in den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts und erwähnte sie 2001[3]. Über den Erzählungstitelgebenden erschien 2015 eine ausgreifende Erinnerung[4]. Dem anderen, Nichttitelfähigen, sprang ich im Sommer 1986 publizistisch so energisch wie wirksam gegen eine „alte Nazisse“ bei[5]. Da er später ausführlich über sich schrieb und eine lange autobiographische - teils bittere, teils amüsante - Erzählung lang konsequent das memoirische Ich mied[6], möcht´ ich´s dabei belassen und nicht(s) mehr über ihn schreiben.

Literatursoziologisches

Als Autor ist HB soziologisch nicht gänzlich unbekannt. Im Anschluß an die Pionieredition von Lewis Coser[7], mittels (welt)literarischer Texte soziologische Grundfragen nahezubringen, haben Austrosoziologen auch HBs in den 1950er Jahren geschriebene Kurzerzählung zur Praxis von Korruption(shandeln) Wie in schlechten Romanen unterm didaktisierten Titel Schmieren lernen 1985 wiederveröffentlicht. Der erste Abschnitt ihres Textbuchs, zur „Innenwelt der Korruption“, versammelt (welt-) literarische Texte von Honoré de Balzac, Maxim Gorki, Raymond Chandler und Joseph Heller[8]. Umso erstaunlicher, daß nach dieser ´Eingemeindung´ HBs Keine Träne um Schmeck mit beiden Professoralprotagonisten und ihren speziellen Soziologien von Bratkartoffel und Lodenmantel bisher soziologisch unbeachtet blieb.

Literarakademisches

In einer 1997 in Buchform veröffentlichten literaturwissenschaftlichen Dissertation geht es um „Erzählstrategien“ des Autors HB. Im Werk dieses Autors gäbe es mit dem Roman Ansichten eines Clowns (1963) eine narrativ-strategische Zäsur. Unter diesem Zentralaspekt wird auch die Schmeck-Erzählung (1962) als letztgrößere Erzählung vor HBs Clown-Roman textimmanent besprochen – wobei mich (auch, aber nicht nur), weil text- und literatursoziologische wie relevante fact/fiction Bezüge[9] fehlen, der beanspruchte „konsequent deduktiv-analytische Ansatz“ als „literaturwissenschaftliche Methode“[10] mit der Abhandlung von Texten als eigenständigen Formalsystemen nicht überzeugen konnte. Aufgeklärt werden soll „die narrative Strategie Bölls und ihre komponentialanalytischen Hintergründe um den Universitätsprofessor Schmeck“[11] und den Studenten Müller. Aus dessen Sicht erscheint der gesamte Universitätsbetrieb als „Etikettenschwindel“: es geht nicht um „Wahrheit“, sondern um „geistigen Diebstahl“. Deshalb wechselt cand.phil. Müller zum Livorno genannten professoralen Konkurrenten Schmecks. Abgesehen von literaturwissenschaftlichen Textkennzeichnungen wie etwa „nichtauktoriale Er-Erzählung vom Typ Vergangenheitserzählen“ mit narratorischem „Standpunkt in der Potentialkomponente“ wird HBs Schmeck-Erzählung als Ausdruck eines „inneren Konflikt“ des irritierten Autors bewertet, dessen „antiautoritäre Haltung“ der sich wenige Jahre später entwickelnden 68er Studentenbewegung entsprach.[12]

Professoralsoziologen

HB´s Text ist mehr als nur eine kurzgeschichtliche „Satire“ (Klaus Wagenbach). Es ist eine durchgestaltete längere Erzählung über Desillusionierung und Enttäuschung des Studenten Müller und seiner als „Gehilfin“ bezeichneten Freundin. Die frühere Bewunderung und Verehrung des Soziologieprofessors Schmeck ist zu Beginn des Textes in Ekel und „Übelkeit“ umgeschlagen und endet nach achtzehn Druckseiten mit dem Überlaufen zum Konkurrenten Schmecks, dem Soziologieprofessor Livorno. Bei diesem soll nun als „Kritische Würdigung des Gesamtwerkes von Schmeck“ eine Doktorarbeit entstehen: „Ich kenn´s ja fast auswendig – und Haß ist eine gute Tinte.“[13]

Sicherlich wird der satirische Charakter durch die beiden strukturanalogen empirischen Spezialsoziologien Schmecks und Livornos zu Bratkartoffel und Lodenmantel (nicht aber zur Erbsensuppe) anschaulich (wobei HB nicht wußte, daß diese als „köstlich mundende“ auf dem ersten nachfaschistischen Godesberger Soziologentreffen im Frühjahr 1946 tatsächlich gelöffelt wurde[14]).

Trotz satirischer Überspitzung sind im projektiv-literarischen Möglichkeitssinn in den fiktiven Soziologieprofessoren reale erkennbar: René König und Alphons Silbermann. Beide mehrsprachige Kosmopoliten und sowohl Emigranten als auch Remigranten. Der eine in der Zürcher Emigration habilitierter Wissenschaftler. Der andere bis 1933 Köl´scher Jude und später im Fünften Kontinent als Betreiber der Budenkette Silvers Food Bar erfolgreicher Imbißbudenunternehmer, in Sydney Musikdozent und nach seiner Rückkehr ins frankophone Nachkriegseuropa Dandy. König wird 1949 als Nachfolger Leopold v. Wieses Lehrstuhlsoziologe der Universität zu Köln, Silbermann als australischer Staatsbürger später auch mit Unterstützung Königs dort als lehrbeauftragter Soziologe tätig und zum Professor ernannt.

Wie beide genannten Sozialwissenschaftler jahrzehntelang editorisch für die zu ihrer Zeit „führende“ deutsch(sprachig)e Vierteljahresschrift „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ und international im Rahmen der UNESCO aktiv waren – so haben sich auch beide einmal ausdrücklich mit HB´s 1963 erschienenem Clown-Roman beschäftigt: König 1980 in seiner Autobiographie, Silbermann 1981 in seiner literatursoziologischen Einführung. König, der auch auf seine persönliche Bekanntschaft verweist, porträtiert HB als persönlich bescheidenen, literarisch publizierenden Moralisten und bedeutenden intellektuellen Kritiker des nachkriegslichen Wirtschaftswunderdeutschland[15]. Silbermann führt an HBs Clown-Roman als „gesellschaftsrelevantem“ Werk unterm Stichwort „mentale Komponente“ die literatursoziologisch bedeutsame Differenzierung zwischen „Stil und Gedanke“ vor: deren Mißachtung bewirke (nicht nur bei HB) Rezeptionsmißverständnisse im Spannungsverhältnis Autor, Leser und Gesellschaft.[16]

Antagonistische Kooperation

Die auch in HB´s Schmeck-Erzählung aufscheinende „Quadratur der Moral“ (Winfried Georg Sebald) um Müller, Livorno und Schmeck läßt sich mit meinen Mitteln ebenso wenig aufklären wie die Frage beantworten, ob Heinrich Böll als Autor dieser Erzählung als Satiriker wie ein „gekränkter Idealist“ verfuhr, der „die Welt gut haben“ will: „sie ist aber schlecht und nun rennt er gegen das Schlechte an." (Kurt Tucholsky).

Bleibt abschließend festzuhalten: die post-Schmeck´sche „antagonistische Kooperation“ (William Graham Sumner) von Alphons Silbermann und René König sowohl als empirische Sozialforscher als auch als sozialwissenschaftliche Fachzeitschriftenherausgeber[17] gab es weiter. Und beide nannten sich in ihren 1980 und 1989 erschienenen Autobiographien jeweils öffentlich „Freund“[18] – König Alphons Silbermann eher beiläufig und desinteressiert, Silbermann René König zahlreich und oft in kritischer Distanz.

Anmerkungen

[1] DAS ATELIER. Zeitgenössische deutsche Prosa. Hg. Klaus Wagenbach. Ffm.-Hamburg 1962, 16-33 [Originalausgabe der Fischer Bücherei Mai 1962]; wieder in Heinrich Böll, Erzählungen 1950-1970. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1972: 276-296; zuletzt wieder in der Kölner Heinrich-Böll-Ausgabe (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008, Band 12: 343-364 [Text]; 746-748 [Editorisches]); hier zitiert nach dem Erstdruck 1962

[2] HEINRICH BÖLL [Hürtgenwald-Grosshau] an Richard Albrecht, 4.12.84: handschriftlich, ein Blatt [hier veröffentlicht mit Einverständnis von René Böll]

[3] Richard Albrecht, Zugegeben: Erinnerungssplitter [9/2001]:

http://web.archive.org/web/20030715005317/http://www.richard-albrecht.de/kurztexte/wissenschaftlich/kt_w_06.htm

[4] Richard Albrecht, Leben im Widerspruch und Überleben als Widerspruch. Soziologische Fachgeschichte der „Kölner Schule“ und ihres Doyen als subjektwissenschaftliche Kulturgeschichte des „kurzen“ Jahrhunderts; in: Auskunft, 35 (2015) 1: 39-67

[5] Richard Albrecht, Für alle Jahreszeiten. Elisabeth Noelle-Neumanns unbewältigte Vergangenheit; die tageszeitung (taz), 1954/10.07.1986: 13; wieder in ders., Demoskopie als Demagogie - Kritisches aus den achtziger Jahren. Broschüre mit CD-Rom. Aachen: Shaker 2007: 15-21

[6] Alphons Silbermann. VERWANDLUNGEN. Eine Autobiographie. Bergisch Gladbach: Lübbe, 1989

[7] Lewis A. Coser, ed., Sociology Through Literature. Englewood Cliffs (N.J.): Prentice Hall, 1963; ²1972

[8] Christian Fleck; Helmut Kuzmics (Hg.), Korruption. Zur Soziologie nicht immer abweichenden Verhaltens. Königstein/Ts.: Athenäum, 1985: 41-69; HB-Text 64-69; dieser HB-Text ist auch im Netz zugänglich: http://www.sipkay.sulinet.hu/images/documents/human_mk/hb_wisr.pdf ; s. auch zum vom ARD 1964 gesendeten 40-minütigen Fernsehfilm als „Klassiker des deutschen Fernsehspiels:http://krimiserien.heimat.eu/fernsehspiele/fernsehspiele/19640505ard-wieinschlechtenromanen.htm

[9] Richard Albrecht, „Café Berlin“ - Hinweise auf Menschen- und Gesellschaftsbilder im Roman; Kultursoziologie, 13 (2004) I: 105-117, hier 106/107

[10] Ingo Lehnick, Der Erzähler Heinrich Böll. Änderungen seiner narrativen Strategie und ihre Hintergründe. Ffm.-Bern etc.: Lang, 1997: 13-19

[11] Die folgenden Zitate aus dem Schmeck-Kapitel ebda. 63-77

[12] Ebda. 76; des universitären „Etikettenschwindels“ nahm sich aus Sicht der antiautoritären Studentenbewegung später Wolf Wagner an: Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht verlieren. Berlin: Rotbuch, 1977; überarbeitete Neuauflagen 1992, 2002, 2007

[13] Böll, Keine Träne um Schmeck (1962): 16, 33

[14] So Leopold v. Wiese; zitiert nach Silke van Dyk; Alexandra Schauer, „…daß die offizielle Soziologie versagt hat“. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS. Essen: DGS, 2010, hier 134

[15] René König, Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie [1980]; Ffm.-Berlin etc.: Ullstein, 1984, hier 184/185

[16] Alphons Silbermann, Einführung in die Literatursoziologie. München: Oldenbourg, 1981: 49. HB und Alphons Silbermann veröffentlichten jeweils einen Aufsatz im Sammelband: Wolfgang Kuttenkeuler, Hg., Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1973

[17] René König; Alphons Silbermann, Der unversorgte selbständige Künstler. Über die wirtschaftliche und soziale Lage der selbständigen Künstler in der Bundesrepublik. Hg. Stiftung zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung über Wesen und Bedeutung der Freien Berufe. Berlin-Köln: DÄV, 1964; dies., Hg., Künstler und Gesellschaft. Opladen-Köln: Westdt. Verlag, 1974

[18] König, Leben im Widerspruch: 178; Silbermann, VERWANDLUNGEN: 389

´Don´t sheed any tears over Schmeck´. Heinrich Bölls satire story on academic sociology at Cologne and its sociological background.

In his smart scholarly essay the author, an experienced literary sociologist, and social psychologist, discusses a text at first published by Heinrich Böll (1917-1985), in summer 1962, and its narrative, and factual, background featuring the “Cologne” school of sociology in Germany at that time, as represented by René König (1906-1992) and Alphons Silbermann (1909-2000), and their specific approaches towards ´sociology of fried potatoes´ and ´sociology of loden coat´.

Editorische Hinweise
Wir  erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.

Dr. Richard Albrecht ist Kultur- und Sozialwissenschaftler und lebt als Freier Autor in Bad Münstereifel. Letzte Buchveröffentlichung 2011: HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren. BioBibliographie 2015: https://ricalb.files.wordpress.com/2015/12/cv.pdf