"Ganz weit vorn"
David Graeber: Bullshit Jobs

Buchvorstellung von Richard Albrecht

12/2018

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Gäbe es im gegenwärtigen Ganzdeutschland einen aktuellen Buchpreis für unbeschwerte Fröhliche Wissenschaft – dann stünde bei mir Graebers neustes Buch über Bullshit Jobs (dt. Scheißjobs) ganz weit vorn.

Der Autor, David Graeber, ist ein 1961 in New York geborener Sozialanthropologe und linksanarchistischer Aktivist. Er lebt inzwischen als Exulant in England und lehrt an der London School of Economics & Political Science (LSEPS). Sein Buch mit dem griffigen Titel Bullshit Jobs ist die gut lesbare deutsche Fassung der gleichtitligen US-amerikanischen Originalausgabe (New York 2018). Und wie auch Graebers vorgängige, deutsch übersetzte, Bücher über Schulden. Die ersten 5.000 Jahre (München: Goldmann, 2014, 633 p.) und Bürokratie. Die Utopie der Regeln (Stuttgart: Klett-Cotta 2015, 329 p.) bestsellerträchtig.

Bullshit Jobs knüpft an subjektiven Alltagserfahrungen vor allem des auch hierzulande realexistierenden Millionenheers von Bullshit Jobbern an. Freilich ohne sich in seinen sieben großflächigen Kapiteln jeweils im Gestrüpp von diversen - auch mitgeteilten - Détails und oft bizarren Einzelheiten dieser auch weltweit relevanten bullshit jobbery nicht nur in distributiv-verteilungsbezogenen und administrativ-verwaltungsbezogenen erwerbswirtschaftichen Bereichen zu verfangen. Die stufenweise entwickelten Definitionsversuche des Autors zum Kern der unterhaltsam variierten Stationen und Formen dieser (um bullshit job wörtlich zu übersetzen) Scheißarbeit im gegenwärtigen entwickelten Spätkapitalismus mit seiner neoliberalen Ideologie und vor allem seiner wirkmächtigen globalen Finanzwirtschaft veranschaulichen, was im Grunde gemeint ist, aber direkt nicht angesprochen wird – nämlich gesellschaftlich überflüssige, schädliche und vor allem parasitäre Ökonomie (deren Kern Marx im dritten Band des "Kapital" aus Funktionen zinstragenden Kapitals ausführlich entwickelte[1]).

Dieser arbeitssoziologisch wichtige Argumentationsstrang wurde vor dreißig Jahren in der (bundes)deutschen Wirtschaftssoziologie vor allem vom Kieler Lehrstuhlsoziologen Lars Clausen (1935-2010) angesprochen[2]. Relevant ist in diesem Zusammenhang beispielsweise die vom bekannten Quallischurn-Rechercheverbund von SZ, WDR und NDR unentdeckte gesellschaftliche Konstellation mit empirisch kontrastiven Antipoden wie dem destruktiv erwerbsarbeitenden, sozial angesehenen Vollzeitbankster in Frankfurt am Main mit zu versteuerndem Jahreseinkommen einschließlich Boni in Höhe von 1.823.500 € ... und der lebenslang produktiv tätigen Hausfrau und vierfachen Mutter ohne eigenes Erwerbseinkommen in der Kyllburger Hocheifel, der als sozial Ausgegrenzte im Alter eine steuerfreie Grundsicherung in maximaler Höhe von derzeit 687 € im Monat zustünde.

Solch´ systematisch-kritische Sicht ist Graebers Ding nicht. Ihm geht es vielmehr um plakative und unterhaltsam kapitelweise vorgeführte Scheißarbeiterei als bullshit jobs (und nicht um needless, superfluous, unnecessary, surplus, redundant oder waste rubbish jobs).

Graebers locker erzählte fröhlicher Wissenschaft hat denn auch einen grundlegenden Webfehler: Die vielen fröhlichen Passagen sind sozialwissenschaftlich unerheblich. Und die wenigen sozialwissenschaftlich erheblichen Passagen sind ganz und gar nicht fröhlich. Wen auch immer das nicht (ver)stört ... mag sich Graebers Buch als unterhaltsame Fröhliche Wissenschaft reinziehen.

Fußnoten
[1] Marx-Engels-Werke Band 25 (MEW 25, besonders 451-457).
[2] Lars Clausen, Produktive Arbeit, destruktive Arbeit. Soziologische Grundlagen. Berlin; New York: de Gruyter, 1988, 168 p.
 

David Graeber
Bullshit Jobs

Vom wahren Sinn der Arbeit
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Stuttgart 2018

Klett-Cotta
464 Seiten, 26 €.


Editorischer Hinweis

Wir erhielten die Besprechung von Dr. Richard Albrecht,
Kultur- und Sozialwissenschaftler. Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Letzterschienenes Buch HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren (2011).