„Zerstörte Sprache – Zerstörte Kultur"
Ernst-Bloch-Memorial[1]

von Richard Albrecht

12/2018

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In diesem Essay geht es um eine Rede des politischen Flüchtlings oder Exulanten Ernst Bloch (1885-1997). Im Juni 1939 sprach Bloch auf Einladung der Auslands- oder Exilorganisation des Schutzverbands deutscher Schriftsteller (SDS) in New York in öffentlichem Vortrag über „Zerstörte Sprache – Zerstörte Kultur“. Blochs Rede wurde als so bedeutsam angesehen, daß sie noch 1939 gleich zwei Mal in gedruckter Form verbreitet wurde: Deutsch in einer in Moskauer erscheinenden internationalen Literaturzeitschrift, und englisch im Themenheft „Exiled German Writers: Art, Fiction, Documentary Material“ über aus Deutschland seit 1933 vertriebene Schriftsteller einer New Yorker Literaturzeitschrift unter dem Titel „Disrupted Language – Disrupted Culture“. Dort wurde das im Titel zwei Mal benützte Leit- (und Leid-) Adjektiv (Eigenschaftswort) „zerstört“ nicht als „expropriated“, „destroyed“, „destructed“, „annihilated“, „killed“, „ruined“, sondern mit „disrupted“ in eher übertragen-bildhafter Bedeutung von zertrennt, zerrissen oder zerborsten übersetzt und der Autor so vorgestellt:

Ernst Bloch is an outstanding philosopher and essayist. Born in Ludwigshafen on the Rhine, he developed his theories at Heidelberg and later in Berlin. His works Geist des Utopies and Thomas Meunser became fundamental to an understanding of the history of ideas in Germany. In exile, he has published Erbschaft Unser Zeit, and has finished a manuscript Dreams of a Better Life recently here in New York where he now lives.“

Blochs Exilstationen werden im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon so benannt:

Er ging zunächst nach Zürich (1933), wo zwei Jahre später seine antifaschistische Kampfschrift "Erbschaft dieser Zeit" erschien. Seine nächsten Stationen waren Wien (1934), Paris (1935) und Prag (1936-38). Hier arbeitete B. an der Geschichte des Materiebegriffs ("Das Materialismusproblem", 1972) … Die Jahre von 1938 bis 1949 verbrachte B. in den USA (in New York, 1938-40; Marlborough, N.H., 1940-41; Cambridge, Mass., 1942-49). Konzentriert arbeitete er in diesen Jahren an der Abfassung mehrerer Werke; an "Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel" und der rechtsphilosophischen Abhandlung "Naturrecht und menschliche Würde" (1961) wie auch an seinem dreibändigen, über 1600 Seiten umfassenden Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" (anfangs konzipiert als "Dreams of a better life", 1954-59), das zu einem philosophischen Klassiker avancierte und ihn zum "Philosophen der Hoffnung" werden ließ.“

Das US-amerikanische Exil war die fünfte und letzte Station Blochs vor seiner Rückkehr 1949 „in den Osten Deutschland (damals DDR)“, wo Bloch, „nunmehr 64 Jahre alt, in Leipzig einen Lehrstuhl für Philosophie“ übernahm. Auch in den USA beteiligte sich Bloch, wie Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Bertolt Brecht und viele andere deutsch(sprachig)e Schriftsteller, von Anfang an an Exildebatten, zuletzt etwa über das Gesicht eines anderen neuen Deutschland nach dem faschistischen Nationalsozialismus. Zugleich lebte Bloch – ohne seinen Rückzug so elegisch wie Zuckmayer, der behauptete, er hätte seine „Farm in den grünen Bergen“ jahrelang „nicht einen Tag verlassen“, zu stilisieren – „ganz im Abseits in Cambridge (Mass.)“ und wurde, so Blochs philosophischer Fachgenosse im US-Exil Gotthard Günther, „nie in einer amerikanischen akademischen Institution heimisch.“

Sein New Yorker Vortrag und dessen Publikation würde Bloch später mit Beginn des ´Kalten Krieges´ als kommunistischen Sympathisanten und ´premature antifascist´ (verfrühten oder vorzeitigen Antifaschisten) ausweisen. Der Autor hielt ihn im Juni 1939 fünfzehn Jahre nach seiner ersten Kennzeichnung des „Typs Hitler“ als Personifikation des „schiefen Statthalters der Revolution“, der das „kleinbürgerliche Pack, wie es von Rot zu Weiß überlief“, im November 1923 als Putschist ins Reaktionär-Faschistische führen wollte und der später durch wirksam angewandte ´legalistische´ Taktik Anfang 1933 zum langjährigen deutschen Reichskanzler und faschistischen Führer des 1945 untergegangenen Deutschen Reiches aufstieg – ein politischer Prozeß, den der vor nationalsozialistischer Herrschaft ins Ausland geflohene Bloch 1936/38, nun politischer Flüchtling, als parallel durch – offene und verdeckte – Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen veranlaßte empirisch erfahrbare ungleichzeitige gesellschaftliche Entwicklung grundlegend theoretisch untersuchte und (selbst-) kritisch so kommentierte:

Die Linke hat das wahre Bewußtsein, aber auch daß es ein falsches, sich sperrendes Bewußtsein gibt, ist wahr … Die Nazis haben betrügend gesprochen, aber zu Menschen, die Sozialisten völlig wahr, aber von Sachen; es gilt nun, zu Menschen völlig wahr von ihren Sachen zu sprechen.“

Auch an diese Überlegungen schließt Blochs Mitte 1939 gehaltener und insofern historischer New Yorker Vortrag an.

Wenn es keine „abstrakte Wahrheit“ geben kann und die Wahrheit immer „konkret“ ist, dann irrte auch der „deutsche Philosoph der Oktoberrevolution“ konkret-historisch: Etwa als er im Exil meinte, der sozialdemokratisch-republikanische Abwehrkampf von ´Eiserne Front´ und ´Reichsbanner´ im Zeichen der „Drei Pfeile“ gegen die Nazi wäre „völlig abwegig“; oder zwei Jahrzehnte später in der DDR in seiner Erklärung „Zum Verbot der KPD in der BRD“ im August 1956 bei seiner Einschätzung, daß „der Streich, der jetzt gegen die Kommunistische Partei Deutschlands geführt wurde“, die „Schwelle zu einem anderen 1933“ war: Was nichts ändert an der historischen Bedeutsamkeit des Tatbestands, daß sich Bloch in einer öffentlichen Erklärung gegen das - nach wie vor realexistierende - KPD-Verbot aussprach.

In diesem dialektischen Sinn steht´s auch mit dem Erinnern im allgemeinen, das nicht produktiv ist als bloßes Erinnern an das, was war, sondern nur „fruchtbar“ wird, wenn es zugleich an das erinnert, „was noch zu tun ist“, und mit dieser Erinnerung an Blochs Rede in New York 1939 im besonderen.

Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Emigration und Exil sind, im fachsoziologischen Sinn, einerseits „entsetzliche soziale Prozesse“ und, aus sozialwissenschaftlicher Sicht, andererseits zugleich normal(verteilt)e Sozialereignisse mit Asymmetrien, Ungleichmäßigkeiten und Ungleichheiten wie der Polarisierung in Oben – Unten, Innen – Außen, Gewinner – Verlierer. Auch bei den Exulanten (in) der deutsch(sprachig)en antifaschistischen Emigration war es so, daß „den wenigsten die Leiden, die sie durchzumachen hatten, bekamen“: Exil-Leiden – so der Autor des Romans „Exil“ (1940), Lion Feuchtwanger, weiter – machen „nur den Starken stärker, den Schwachen aber schwächer“, unterliegen damit dem „Matthäus-Effekt“, demzufolge dem, „der da hat, gegeben wird, daß er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch das genommen, was er hat.“

Der mir in gedruckter Form zweisprachig vorliegende Blochvortrag läßt sich wie jede rhetorische Entäußerung entsprechend des doppelten Doppelcharakters von Rhetorik – einerseits und allgemein Intention und Proposition von Sprechhandeln als linguistisches Phänomen, andererseits und spezifisch Wissenschaft von der öffentlichen Rede(kuns zu sein – ausgiebiger untersuchen und facettenreicher diskutieren als in der folgenden Übersichtsdarstellung. Der Text des Blochvortrags umfaßt in der hier benützten, 1972 veröffentlichten, Version etwa vierundzwanzig Druckseiten. Soweit bekannt, wurde Blochs Rede nicht auf Tonträger aufgenommen. Wenn man davon ausgeht, daß Bloch anhand seiner Notizen vor seinen SDS-Autorenkollegen und angesichts einiger US-amerikanischen writers-guilt-Gäste unter Benützung vorher angefertigter handschriftlicher Notizen im wesentlichen frei (und wegen der Gäste nicht allzu temporeich) vortrug, dann könnte er etwa anderthalb Stunden gesprochen und seine Rede später in ´geglätteter´ Form zum Druck niedergeschrieben haben.

Zunächst fällt auf, daß sich Bloch nur einleitend direkt und ausdrücklich auf seine unmittelbare Lage einläßt als weitgehend mittelloser politischer Flüchtling und beziehungsarmer sozialer Paria, der an der US-amerikanischen Ostküste außerhalb des ´alten´ Europa im „Land der schärfsten und ungezügeltsten Kapitalsinteressen, der illegalen und legalen Gangster, der Erfolgsanbetung, der atemlosen Jagd nach Beziehungen, der schrankenlosen Verwandlung allen Daseins zur Ware“ lebt, wenn er keineswegs nur rhetorisch fragt:

„Wie können wir als deutsche Schriftsteller in einem anderssprachigen Land, das Unsere tun, uns lebendig erhalten? Wie können wir wirtschaftlich unseren Ort finden, wie können wir politisch-kulturell unsere Aufgabe erfüllen?“

Auch dies verweist auf die besondere Themenstellung des Vortragenden – Sprache und/als Kultur – und zeigt etwas an, das später als „Prinzip Hoffnung“ benannt und bekannt werden sollte: Das „Hinausdenken aus bedrängter Gegenwart“ mithilfe einer „Philosophie, die auf Zukunft und Veränderung ausgelegt ist.“

Im Bloch-Vortrag geht es um Sprache als kulturelles Ausdrucksmittel, Sprache als Stück des Menschen selbst und seines Habitus im allgemeinen und namentlich um eine „Berufssprache“, die des Schriftstellers oder Autors oder writers im besonderen. Es geht um die deutsche Sprache als literarisches Medium und Kultursprache der deutschen Philosophie als Wissenschaft:

Mehr als jedes andere Ausdrucksmittel ist Sprache Vermittlungsinstrument zwischen Subjekt und Objekt; sie begründet nicht, aber sie bildet und erhält die Kulturwelt dieser Vermittlung.“

Es geht Bloch im besonderen um wirksame Kritik der „Nazisprache“ als Mittel des von ihm hier „Verluderung“ genannten Betrugs. Die damit gegebene Verkehrung – und schon Franz Kafka bemerkte während des Ersten Weltkriegs: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“ – bedeutet nicht nur Sprach-, sondern auch Weltverlust:

Die Nazisprache gibt jedem Humbug, jedem Unsinn, jeder Niedertracht, jeder Psychose Platz, ihre Phrasenhaftigkeit soll auch noch den letzten Rest des Denkens betäuben, der durch Terror nicht auszurotten ist … Die Sprache wird Narkose. Worte verlieren ihren Sinn, Krieg heißt Frieden, Pogrom Notwehr, der Lustmörder Führer. Betrugs-Ideologie hat die deutsche Sprache auch in dem sogenannten Kulturgebrauch vernichtet.“

Nach einem geschichtlichen Exkurs zu einem bekannten Vertreter der ersten politischen Emigrations- und Immigrationswelle der 1848er von Deutschland in die USA versucht Bloch in Abgrenzung zu zwei kritisierten Emigranten-Grundtypen, dem „hektischen Möchtegern-Amerikanertums“ und dem „Visitors und Überwinterers“, als Tertium seinen speziell an „deutsche Intellektuelle“ gerichteten Vermittlungsversuch: Bloch nennt diesen neuen Status „eine Art originale Distanz“ und meint „weder weichlich-gerissene Anbiederung (am wenigsten an die herrschende Klasse) noch introvertierte Fremdheit.“

Diese „ehrliche Distanz“ erhielte, so Bloch im Ausblick, „unsere Sprache, unsere anschauliche, abbildende, auf Realität bezogene Sprache und Denkart“ im speziellen besonders dadurch, weil „unsere Sache die Menschenrechte sind“, für die die politischen Flüchtlinge aus (Nazi-) Deutschland „als rechtmäßige Grenzexistenzen, als Deutsche in Amerika“ kämpfen müßten: für die „rights of men.“

Im Mittelteil seines Vortrags geht Bloch auch auf den besonderen Stil der nachluther´schen deutschen Sprache als einer „Kultursprache durch Geburt und Erziehung“ ein und benennt zahlreiche positive Beispiele und ein negatives für ihre Literarizität in Dramatik, Poetik und Epik: Der Bogen spannt von Goethes „Faust. Der Tagödie erster Teil“ und dessen Gedicht vom „Willkommen und Abschied“ über Heinrich von Kleist Novelle „Michael Kohlhaas“ und dessen „optisch gewordener Sprache“, Adalbert Stifters „Häuserlasten in der Tiefe“ und dessen Bilderwelt „voll stockendem Grau“ bis zu Thomas Manns „Tod in Venedig“ und dessen „Rokokogemälde aus Worten“. Zugleich polemisiert Bloch gegen zeitgeistiges „essayistisches Gewäsche“ und gegen Sprache, Denken und Weltbild des Dichterkreises um Stefan George als „Kitschbrokat“.

Blochs neue Welterfahrung wurde als Erfahrung der Neuen Welt „der atemlosen Jagd nach Beziehungen, der schrankenlosen Verwandlung allen Daseins zur Ware“ am Beispiel: Hollywood von so literarisch unterschiedlichsten Autoren wie kritisch kommentiert. Zitiert anstatt weiterer sei dieser Vierzeiler von Bertolt Brecht:

Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen /
Gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden. /
Hoffnungsvoll /
Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.“

Im Schlußakkord seiner New Yorker Rede kam Bloch im Juni 1939 auch auf die Menschenrechte als „Hauptsache“ zu sprechen und beendete sie mit seiner Umschreibung des Englischen „rights of men“:

Unsere Sache sind die Menschenrechte. Sie waren bei der Bildung der amerikanischen, der französischen Republik gemeint, und sie ruhen nicht, bis sie zu Ende gebracht sind … Und es wird keinen Amerikaner erstaunen, wenn wir zur gegebenen Zeit nach Europa gehen sollten, um … diejenige Sache zu stabilisieren, deretwegen wir unser Geburtsland verlassen mußten.“

Die von Bloch unterm Doppelaspekt zwischen Gestern und Morgen sowohl als Vergangenheitserfahrung als auch als Zukunftsaufgabe angesprochene Menschenrechtsproblematik hat Hannah Arendt zwölf Jahre später im zweiten Buch ihrer zuerst 1951 publizierten ´Bibel´ des Antitotalitarismus am Beispiel von Vertreibung, Flucht und Staatenlosigkeit der Sozialfigur des Flüchtlings als / und ´displaced person´ als Epochenproblem verdichtet und auf den Kampf für das universale Menschenrecht, das aus ihrer totalitarismustheoretischen Sicht „einzige Menschrecht“ – nämlich das „Recht, Rechte zu haben“– zugespitzt.

Der Tübinger Rhetorikprofessor Gert Ueding hat vor einigen Jahren öffentlich an die „Unersetzlichkeit der Muttersprache“ erinnert und „gegen zu frühe Fremdsprachen“, etwa Englischlernen im Vorschulkurs oder in den ersten beiden Jahren der Grundschule, polemisiert. Dabei bezog sich Ueding nicht nur positiv auf Blochs Exilvortrag und den Zusammenhang von Sprache und Denken, sondern warnte auch vor durch verluderte Sprache befestigte „Verluderung des Denkens“. Insbesondere wandte sich Ueding gegen die weitverbreitete Ansicht, die Sprache, die einer spricht, sei bloß eine Verpackung, die man wechseln kann wie das Weihnachtspapier. Der deutsche Normalsatz hat die Ordnung Subjekt – Prädikat – Objekt, wir alle haben sie im Bewusstsein fest verankert, noch bevor wir selber die Sprache beherrschten. – Unsere Kulturpolitiker und ihre Helfershelfer in den Schulämtern oder Reformkommissionen sind von derartigen Einsichten weit entfernt … Allein auf der gesicherten Kenntnis der Muttersprache kann die fremde Sprache ihren Nutzen entfalten. Wird zu früh aufgepfropft, ergeben sich daraus nur mehrere zu schöpferischem Leben unfähige Verständigungsmittel, damit aber auch eine Verluderung des Denkens.“

Uedings Erkenntnisse sind zwar weder originell noch richtungsweisend, gleichwohl grundrichtig. Was der Sprachforscher Fernand Hoffmann übers im linksmoselfränkisch-lëtzenbuergeschen Dialekt aufwachsende Kind, das sprachlos in die Schule kommt, ausführte, hat der in Rohrbach/Lothringen geborene, später wichtige KPD/SED-Funktionär und Emigrant Franz Dahlem (1892-1981) in seinen Memoiren als „Rohrbacher Platt“ und „französische Mundart“ als Erstsprachen, dazu zur Verständigung „ein Kauderwelch aus beiden Mundarten“, erinnert: In der Schule wurde „Hochdeutsch“ gelehrt. Das sollten jedoch die 12- bis 14-Jährigen nach ihrer Schulentlassung wieder verlernen, wenn „zu Hause nur Plattfranzösisch gesprochen“ wurde und es „gar keine Gelegenheit gab, Deutsch zu sprechen“. Dahlem verallgemeinerte diese sprachliche Gemengenlage in seiner Heimatregion vor dem Ersten Weltkrieg so:

Das Hochdeutsche lernten wir als Fremdsprache, die wir nur in der Schule verwendeten oder bei deutschsprachiger Lektüre. Zur Verständigung im Alltag war es nicht nur nicht erforderlich, sondern es erwies sich in der Regel sogar als Hemmnis.“

Ohne gründliche mutter- oder erstsprachliche Kompetenz wird das angemessene Erlernen jeder weiteren oder Fremd-Sprache wenn nicht unmöglich so doch erschwert, droht die scientifisch formuliert Gefahr des Semilingualismus – der verdoppelten Halbsprachigkeit – und damit, zuende gedacht, Sprachlosigkeit oder Nonlingualismus. Zweitsprachenentwicklung ohne Erstsprachenerwerb entspricht der Fiktion gutmenschiger Vielsprachigkeit: Auch im faktischen Einwanderungsland Deutschland wurde innerhalb dreier Jahrzehnte aus dem Traum der Zweisprachigkeit der 1970er Jahre der Alptraum der doppelten Halbsprachigkeit.

Über diesen Gesichtspunkt hinausgehend liegt ein weiterer wichtiger Aspekt der gegenwärtigen Sprachproblematik des Deutschen in Deutschland in einem anderen und nicht weniger wichtigen Feld: Denglisch. Ich habe im Herbst 1986, einen Fachvortrag über „BILDER-WELTEN“ einleitend, die schon damals erkennbare und aparterweise vom damaligen Staatsunternehmen Deutsche Bahn (DB), die streckenweise durchaus auch griffige deutschsprachige Losungen wie „Halber Preis fürs ganze Volk“ auf die Schiene setzen lassen konnte, beförderte destruktive „Neusprache“ als „Sprachkolonialisierung, in der beispielsweise eine Vergnügungsreise nun ´Joy Travel´, eine Spielhalle ´Play Corner´, ein Kleiderkramladen ´Second Hand Shop´, eine Stehkneipe ´Pub Corner´ und die Verbindung der Verkehrsmittelnutzung von Flugzeug und Zug nun ´Fly & Ride´ heißt“, kritisiert. Und ich scheue mich auch hier und heute nicht, unter Rückbezug auf Bloch und unter Verweis auf aktuelle Sprachkonstrukte wie „payzone“ für Kasse (Schlecker GmbH), „dust devil handy“ (plus AG) für Kleinstaubsauger und „service point“ (DB AG) für Beratungsschalter und dem – noch gedankenexperimentellen – „We speak German fluently“-Label im „Second-Hand-Shop“-Window daran zu erinnern, daß nach dem „handy“-Muster diese von – angeblichen oder wirklichen – Werbe(fach)leuten hervorgebrachten künstlichen Spachhülsen, wenn und insofern sie in den Lebensalltag der vielen eindringen und von vielen blank übernommen werden, nicht nur Elemente der deutsch(sprachig)en Kultur, sondern darüber hinaus auch sprachgebundenes folgerichtiges Denken nachhaltig zerstören helfen können.

Dem ursprünglichen Warenfetisch nachgelagert wirkt der ihm entsprechende Sprachfetisch als Bestandteil einer über bloße „Bewußtseins-Industrie“ weit hinausgehenden „Verdummungsindustrie mit ihren Verblendungs-, Verkehrungs- und Umwertungsmechanismen zur strategischen Verstärkung der durch den Warenfetisch jeder kapitalistischen Gesellschaft immer schon gegebenen spontanen Mystifikation als ´gesellschaftliche Gefolgschaft´“.

Dem massenhaften sprachlich-gedanklichen Enteignungsprozeß und Weltverlust entspricht ein mit diesem vergleichbarer „unerhörten Vorgang“ im Sinne Bertolt Brechts: Der nachhaltige Selbstenteignungsprozeß – auch innerhalb - der Intelligenzschichten. Es ist inzwischen nach dem Muster der Benennung einer Bremer Privatuniversität als „Jacobs University“ gang und gäbe, in Deutschland stattfindende akademische Lehrveranstaltungen und wissenschaftliche Kongresse englisch – genauer: in einer künstlich geschaffenen (Konferenz-) Sprache, die von nicht-englischen Muttersprachlern für englisch gehalten und/oder ausgegeben wird und vor der es jeder und jedem ´native speaker´ graust – anzukündigen, durchzuführen und zu veröffentlichen. Auch hier haben die ganzdeutsch-neueuropäisch ´gebildeten Stände´ nachhaltig versäumt, von Ernst Bloch zu lernen:

Nur wenige Menschen … waren je imstande, sich in einer fremden Sprache so sicher, gar so produzierend zu bewegen wie in der eigenen … Im Allgemeinen besteht die Regel, daß einer aus der eigenen Sprache desto schwerer in die andere fallen kann, je vertrauter er in der eigenen sich auskennt, je mehr er in ihr durch sie erfahren hat.“

Es soll offenbleiben, ob auf Denglisch oder Franglais, Spanglais oder Ingléñol, nicht aber Spanglish oder Germish ausgerichtete Wissenschaftler und/als Intellektuelle mit ihrer „eigenen Sprache“ zu wenig vertraut sind oder woher auch immer der „Selbsthaß der Deutschsprecher“ kommt: Sicherlich ist Englisch sprechen und schreiben inzwischen – so der Anglistikprofessor Harald Weinrich – als conditio sine qua non kommunikativ-strategische Grundvoraussetzung zur Teilhabe am ´geistigen Weltmarkt´ – und doch zugleich ebensowenig wie dieser ein „sinnvolles literarisches Projekt.“


Anmerkungen

[1] Erstveröffentlichung. Geschrieben im Herbst 2010 im Anschluß an meine ausgiebig bekwellte Studie „Zerstörte Sprache - Zerstörte Kultur“: Ernst Blochs Exil-Vortrag vor siebzig Jahren: Geschichtliches und Aktuelles; gedruckt in: Bloch-Jahrbuch 13 (2009): 223-240. – Ob der Beitrag heute, im fortschreitenden neoliberalen Spätkapitalismus finanzwirtschaftlicher Prägung und dessen „Großer Unordnung“ (Bertolt Brecht) mit globaler Sondersprache (Englisch soll, so Ende 2014 FDP-MdEUP Dr. Alexander Graf Lamsdoff, BRD-“Amtssprache“ werden → https://www.welt.de/videos/video135543622/FDP-Politiker-fordert-Englisch-als-Amtssprache.html) und wirkmächtigen Hauptakteuren, die sich zunehmend „ein zum Wirtschaftsraum passendes Volk schaffen“ (Jügen Trabant), aktueller wirkt als zu Beginn der Zehnerjahre oder nicht – wird sich zeigen …

Dr. Richard Albrecht, Kultur- und Sozialwissenschaftler. Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Letzterschienenes Buch HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren (2011).