Das Subjekt und seine Widersprüche
Leseauszug aus: Alltag, Bewußtsein, Klasse

von
Joachim Bischoff, Sebastian Herkommer, Karlheinz Maldaner

12/2018

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Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Geschichte enorme Entwicklungen durchgemacht. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat sich ausgeweitet, die Arbeitsarten haben beträchtlich zugenommen. Dem Einzelnen steht eine breitere Palette von Berufen offen, die ihm über die verallgemeinerten Bil­dungschancen prinzipiell zugänglich sind. Auch die Berufsinhalte haben sich stark differenziert und sind spezifischer geworden.

Gleich geblieben ist demgegenüber die Struktur des Arbeitsprozesses als Verwertungsprozeß. Die lebendige Arbeitskraft bleibt weiterhin subsumiert unter das Streben des Kapitals nach größtmöglicher Verwertung; der Arbeiter bleibt bloßes Anhängsel des Produktionsprozesses.

Der qualitative Wandel in der Entwicklung des Kapitaüsmus hat also nicht in der Arbeitssphäre stattgefunden. Die eigentlichen Veränderungen werden vielmehr bei Betrachtung der Nichtarbeitssphäre deutlich. Durch die Verkür­zung der Arbeitszeit und die größeren Konsummöglichkeiten haben sich dem Subjekt neue Lebensbereiche und Lebenschancen eröffnet. Es ist heute mehr als nur ein Arbeitstier—ja die Arbeit erscheint nun zunehmend als ein zwar unabdingbares, aber doch kalkulierbares Mittel zum eigentlichen Leben au­ßerhalb von ihr. Das Leben außerhalb der Arbeit ist keineswegs mehr allein beschränkt auf die Reproduktion der Arbeitskraft. Dem Subjekt hat sich eine Vielfalt an Betätigungsmögüchkeiten eröffnet — von den verschiedensten Hobbytätigkeiten und Vereinsaktivitäten, gewerkschaftlicher und politischer Arbeit bis hin zum Verreisen und Familienausflügen. Die kulturellen, geisti­gen und ästhetischen Betätigungsspielräume haben eine bisher unbekannte Breite erlangt. Bücher, Zeitschriften und Fernsehen vermitteln Eindrücke, die weit über die unmittelbare praktische Erfahrung des Einzelnen hinausgehen. Lebenswelt und Lebensniveau sind nicht mehr unmittelbar determiniert durch das Dasein als Lohnabhängiger. Dem Subjekt erscheint die Teilnahme am gesellschaftlichen Reichtum lediglich quantitativ begrenzt zu sein. Alle grundsätzlichen, traditionellen etc. Schranken der individuellen Aneignung sind durchbrochen. Die individuelle Entscheidung rückt in den Vordergrund. Die Lebenswelt ist komplexer geworden und ermöglicht dadurch dem Indivi­duum einen breiteren Bewegungsspielraum in der Gestaltung seines Lebens.

Die Komplexität der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft besteht für das einzelne Individuum nicht nur in einem gewandelten Verhältnis von Ar­beit und Nichtarbeit, in einer zunehmenden Vielfalt an Betätigungsmöglich­keiten, sie äußert sich auch in einer qualitativ veränderten Lebensbiographie.

Die Partizipation der Lohnabhängigen an der gesellschaftlichen Produkti­vitätsentwicklung — durch gewerkschaftliche und politische Kämpfe erreicht — hat zur Etablierung relativ eigenständiger Lebenssphären geführt: Kind­heit, Jugend und Alter. Sowohl durch den Ausbau von sozialen Finanzie­rungssystemen wie Kindergeld, Bafög und vor allem der Rente, als auch durch die Errichtung von gesellschaftlichen Einrichtungen für Erziehung und Bil­dung wie Kindergärten, Schulen und Universitäten, konnte die materielle Ba­sis gelegt werden für qualitativ unterschiedliche und eigenständige Entwicklungsräume im individuellen Lebensweg. So kann "Jugend" einfacn als Lebensabschnitt gekennzeichnet werden, der mehr oder weniger nur Vorbereitung aufs spätere Erwachsenendasein ist, ein langsames Hinein­wachsen in die Anforderungen des späteren Lohnabhängigendaseins. Kind­heit und Jugend sind—zumal für die Kinder der Arbeiterklasse—heute weit­aus mehr, umfassen neuartige und vielfältige Lebensmöglichkeiten, gewinnen an Eigenständigkeit gegenüber den anderen Lebensphasen. Die Spielräume der Ausgestaltung jugendlicher und kindlicher Lebenswelt haben enorm zu­genommen und eröffnen breitere Einflußmöglichkeiten des einzelnen Sub­jekts in diesem Prozeß. »Es gibt (tendenziell) kein selbstverständliches und unproblematisches Hineinwachsen oder Hineinrutschen mehr in die Normal­existenz des Erwachsenen. In jedem Falle werden Weggabelungen sichtbar, müssen auseinanderweisende Hinweisschilder entziffert werden, liegen Ent­scheidungen und bewußte biographische Wahlen auf dem Weg. Alternative Wege und Bewegungsformen sind immer präsent.«(128)

Jugend als Vorbereitungszeit zum Erwachsenendasein »wird überlagert und durchsetzt von Formen, mindestens: Möglichkeiten eines Lebens aus ei­gener Verantwortung und eigenem Recht. Der Lebensabschnitt, der der Her­ausbildung der Individualität dient, enthält zunehmend Handlungsräume und Handlungsaufforderungen, die Individualität voraussetzen. Das Lebens­alter, das der Vorbereitung auf individuelle Lebensführung dient, wird selbst individualisiert.«(129)

Ähnliches läßt sich für das A her formulieren. Altsein ist heute nicht mehr gleichzusetzen mit einer kurzen Spanne zwischen Arbeitsende und Tod, ver­bunden mit Formen der persönlichen Abhängigkeit bzw. einem Gnadenver­hältnis. Das Alter ist sowohl von seinem zeitlichen Rahmen her als auch von den materiellen Möglichkeiten (wie bescheiden auch immer) zu einem relativ eigenständigen Lebensabschnitt geworden mit neuen Anforderungen und Handlungsmöglichkeiten. Gruppen wie die Grauen Panter sind nur der expo­nierteste Ausdruck der Tatsache, daß Altsein vereinbar ist mit aktiver Teilnah­me am gesellschaftlichen Leben, mit Einflußnahme der Betroffenen und mit Eigenständigkeit an Lebensführung und Betätigungsmöglichkeiten.

Die bürgerliche Lebenswelt im Spätkapitalismus zeichnet sich also durch ihre große Komplexität aus. Das Individuum findet eine Vielfalt von prakti­schen und geistigen Aneignungsmöglichkeiten vor, die ihm nicht schon durch sein Lohnabhängigendasein bzw. seine Stellung in der Gesellschaft automa­tisch zufallen. Zwar sind die verschiedenen Bereiche unserer Gesellschaft durchaus einer strukturierten Betrachtung zugänglich und weisen einen inne­ren Zusammenhang auf. Jedoch reicht auch ein noch so differenziertes Ver­ständnis objektiver gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge nicht aus, das Subjekt in seinen Handlungsweisen und Vorstellungen theoretisch zu erfas­sen.

Die Individuen stehen vor einer Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsalternativen in ihrem Alltag, so daß nicht einfach die gesell­schaftlichen Strukturen im Sinne einer Determinationskette bis auf die indivi­duelle Ebene hinab verlängert werden können.

Der Aneignungsprozeß der äußeren Welt durch das Subjekt unterstellt ein aktives, selbstbewußtes Handeln des Einzelnen. Die persönliche Lebensführung ist nur Teil, sozusagen als Rahmenbedingung, vorgegeben durch die Existenz als Klassensubjekt; sie wird individualisiert. Allerdings kann man erst sehr spät innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft für breitere Teile der Be­völkerung von einem individuellen Lebensweg sprechen. »Immer mehr Le­benswege von Erwachsenen reichern sich an durch Unterbrechungen, Krisen und Wendungen. Zunehmend mehr Erwachsene bilanzieren ihr Leben nicht erst auf dem Sterbebett, sondern von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, anläßlich von Umstellungen und Neuentscheidungen, ziehen Zwischensummen und kalku­lieren neu.«(130) So ist heute mit der Geschlechtszugehörigkeit nicht mehr auto­matisch der persönliche Lebensweg vorgegeben. Die individuelle Entschei­dung hat auch für die Frauen an Raum gewonnen. Die Entscheidung für Be­rufstätigkeit z. B. liegt nicht mehr außerhalb der normalen Frauenrolle.

Diese gewachsenen Entscheidungsspielräume des Einzelnen sind Aus­druck einer reicheren Persönlichkeitsstruktur des Subjekts. Die Ansprüche an die Lebensführung haben sich erweitert und sind differenzierter geworden. Die Bewußtheit über die Lebenszusammenhänge und die Möglichkeiten ihrer Veränderung und Gestaltung durch eigenverantwortliches Handeln hat sich verbreitert. Zudem gibt es kein einfaches und einheitliches Normen- und Wer­tesystem, das zur Anleitung der individuellen Lebensführung im Alltag aus­reicht. Auch hier findet ein relativ rascher Wechsel statt. Konkurrierende Wertsysteme stehen sich gegenüber. Das Individuum ist gezwungen abzuwä­gen, zu wählen und zu entscheiden. Es erlebt sich damit selbst auch mit mehr Eigenverantwortlichkeit. Das bedeutet aber auf der anderen Seite zugleich, daß mit der Öffnung neuer Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsspiel­räume neue Unsicherheiten, Konflikte und Zwänge entstehen. Die Persön­lichkeit des Einzelnen ist heute so entwickelt wie nie zuvor. »Auf der anderen Seite ist die Frustration und Beschneidung der Individualität nie so groß gewe­sen wie heute.«(131) Die Ansprüche des Individuums stoßen an die Grenzen ih­rer Realisierbarkeit, die durch die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft vor­gegeben sind. Die Potenzen und Bedürfnisse des Subjekts sind im gegebenen Rahmen des Kapitalismus nicht mehr zu befriedigen. Die Stellung und die Möglichkeiten des Subjekts in der Gesellschaft verbieten es also, es als Abbild gegebener Strukturen erfassen zu wollen. Die gesellschaftliche Totalität und die individuelle Totalität sind nicht identisch. Das Individuum ist nicht einfach ein Stempelabdruck der objektiv fixierbaren, äußeren Realität. Es bewegt sich innerhalb der existierenden Aneignungsfelder mit einem bestimmten Grad an Eigenständigkeit, stellt eine Besonderheit innerhalb der Vielfalt der äußeren Realität dar.

Das Individuum kann also einerseits als strukturierte Struktur, als Ausdruck existierender kapitalistischer Verhältnisse gefaßt werden; andererseits als strukturierende Struktur, als aktives Element, das in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreift und dadurch auch verändert.

Jeder marxistische Versuch, das Subjekt differenzierter zu erfassen, muß diesem theoretischen Zusammenhang Rechnung tragen. Die subjektive Ei­genständigkeit muß herausgearbeitet werden, ohne daß ein subjektivistischer, die Gesellschaftlichkeit des Individuums negierender Ansatz entsteht. Für ei­ne präzisere Fassung individueller Totalität müssen folgende Problemstellun­gen auseinandergehalten werden:

1)

»Unser Organismus, mit dem wir auf die Welt kommen, beinhaltet als >Information< — durch den genetischen Code — lediglich die Vorbedingungen der Aneignung der gattungsmäßig-menschlichen Existenz... Dieser Organismus ist zugleich ein autonomes System... das sich als autonomes System an die Welt wendet, an die Welt, die der Organismus ausschließlich von sich selbst ausgehend und sich selbst nie transzendierend' sich >einbauen< kann. Ferner gilt aber: alles, was den Menschen de facto zum Menschen macht, also die Infor­mationen, die unser gattungsmäßiges Leben konstituieren, befinden sich zum Zeitpunkt unserer Geburt außerhalb des Organismus; sie sind nämlich in den menschlichen Beziehungen aufzufinden, in die wir hineingeboren werden.«(132) Der Mensch »beginnt also von Geburt an, sich die Welt ausgehend von seinem eigenen Organismus anzueignen. Die Welt stellt die anzueignenden Aufga­ben. Alles, was ich mir aneigne (in mich >einbaue<), wird zum Ich.«(133)

Der psychische Gesamtapparat des Menschen weist auf biologischer Ebe­ne die Fähigkeit auf, äußere Reize, die den Menschen umgeben, über beson­dere Rezeptoren aufzunehmen, in einem komplizierten, bis heute noch nicht genau erklärten Prozeß (elektrischer und biochemischer Natur) umzuwan­deln und zu speichern (wir abstrahieren hier von angeborenen Merkmalen und sog. inneren Reizen der eigenen Körperorgane). Dieser Prozeß der Spei­cherung findet im Wesentlichen in den höheren Zentren des Nervensystems statt (Gehirn, Rückenmark). Nun wäre es falsch, dies einfach als einen Vor­gang der Sammlung und Aufhäufung von einzelnen Reizen — Daten ver­gleichbar — zu begreifen, die dann eine entsprechende Reaktion des Organis­mus hervorrufen. Das Nervensystem ist in der Lage, im Verlauf der Habitua-tion, der Gewöhnung in der Reizaufnahme und -Verarbeitung, Verknüpfun­gen herzustellen, sozusagen Assoziationsketten zu produzieren, die den Pro­zeß der Reizverarbeitung vereinfachen. Einzelne Reize können also genügen, komplizierte Prozesse hervorzurufen, die quasi über einen vergangenen Lern-und Erfahrungsprozeß antizipiert werden. Fassen wir bisher die Prozesse des psychischen Gesamtapparats als Vorgang der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Reizen, so müssen wir weiter differenzieren.

Der menschliche Lebensprozeß umfaßt weit mehr als den Bewußtwer-dungsprozeßder Realität, als die »synchrone parallele Realisierung der kon­kreten Reize und Signale der Umwelt sowie der verbalen Reize mit dem Cha­rakter abstrakter Gedanken in den höheren Zentren«(134) des Gehirns.

Im Aneignungsprozeß seiner Umwelt verarbeitet das Individuum eine Vielzahl von Ereignissen (Reizen), stellt Verknüpfungen und Beziehungen her, die von ihm selber nicht bewußt wahrgenommen werden und trotzdem ei­nen dauernden Bestandteil des täglichen Lebens bilden. Dies reicht von Kör­perbewegungen (also nicht angeborenen, sondern erlernten Bewegungen und Reaktionen des Skeletts und der Muskulatur) über die Verknüpfung be­stimmter Gegenstände zu inhaltsreichen Begriffen (so assoziiere ich z. B. bei einer bestimmten Form eines Stück Holzes einen Stuhl, der gleichzeitig mit ei­nem bestimmten Gebrauchswert >belegt< wird, ohne daß dieser Zusammen­hang stets von Neuem hergestellt werden müßte) bis hin zur Belegung von Si­tuationen mit einem Inhalt, der aus der konkreten Situation selbst nicht hervorgeht, sondern unbewußt aus vergangener Erfahrung assoziiiert wird. »Je mehr sich die menschliche Erkenntnis vertieft und erweitert, um so mehr lagert sich... in der unbewußten Sphäre der Psyche ab. Je nach den aktu­ellen Aufgaben der Psyche gelangt etwas aus dem Unbewußten ins Bewußt­sein: das >Vergessen< kann also genauso erforderlich sein wie die >Erinnerung<. Die zwei Sphären stehen zwar im Gegensatz zueinander, bilden den­noch eine Einheit und befinden sich im Gleichgewicht. Ein normales Seelenle­ben ist ohne dieses Gleichgewicht unvorstellbar. Das Unbewußte stellt für die menschliche Psyche eine Entlastungs- und Reservekraft dar. Je mehr wir wis­sen, desto eher erweitert sich auch das Lager unseres Unbewußten.«(135)

Die Untersuchung des Gesamtkomplexes psychischer Vorgänge darf je­doch nicht in das herkömmliche Muster der Versubjektivierung zurückfallen. » Kein psychischer Prozeß sei als ein Funktionieren psychischer Mechanismen an sich anzusehen. Immer ist er — direkt oder indirekt — verbunden mit den Beziehungen der Persönlichkeit zur jeweiligen sozialen Lebenspraxis bzw. zum Aufbau eines inneren Modells der Wirklichkeit, das für diese Beziehung entscheidende Bedeutung hat.«(136)

Der alltägliche menschliche Aneignungsprozeß ist lediglich in der theoreti­schen Abstraktion als Denkprozeß zu begreifen. In Wirklichkeit ist jeder Pro­zeß der Aktivität mehr oder weniger von sehr vielfältigen Äußerungsformen des Subjekts und emotionaler Beteiligung durchdrungen. Wir können fest­stellen, daß »Aneignung Handeln, Denken und Fühlen« (137) als Einheit um­faßt, daß also im konkreten Subjekt, in seinen Äußerungsformen »kein Ge­danke ohne Gefühl und Gefühlsanordnung, keine Handlung ohne Denken und Fühlen existiert.«(138)

Aber genauso wie klar ist, daß Bewußtsein und Denken des Subjekts nicht aus sich heraus erklärbar ist, sondern sinnvoll nur vor dem Hintergrund gesell­schaftlicher Strukturen verständlich wird, können Gefühle, Emotionen etc. nicht als genuin dem Subjekt anhaftende, rein individuelle Momente betrach­tet werden. »Die Menschen stehen — immer — Aufgaben gegenüber... Wel­che Gefühle sich in einem Zeitalter mit welcher Intensität entfalten, welche Gefühle zu dominierenden Gefühlen werden, hängt in erster Linie von diesen Aufgaben ab.«(139) »Je fester, je konstanter die Aufgabe einer Gesellschafts­struktur, Klasse, Schicht oder eines Geschlechtes ist, umso konstanter bleibt ihre Gefühlswelt; je dynamischer die Gesellschaft ist, umso dynamischer wird auch ihre Gefühlswelt; und darüber hinaus: der konstantere oder dynami­schere Charakter einer Gesellschaft beeinflußt immer die Möglichkeit der Herausarbeitung der individuellen Gefühlswelt.«(140)

2)

Der Aneignungsprozeß durch das Individuum ist ein lebenslanger Prozeß. Von Kindesbeinen an »prägt sich die Eigenschaft (verschiedener Dinge)... ih­rem Hirn ein.«(141) Das, »was wiederholte Bestätigung zur Erfahrung gemacht hat« (142) wird zum Bestandteil der individuellen Persönlichkeit. Die Komplexi­tät des Lebensprozesses, die unterschiedlich verlaufenden Lebensbiogra­phien nehmen in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft weiter zu.

Mit dem wachsenden Reichtum der Gesellschaft, der Dynamik in der Ent­wicklung seiner Teilbereiche nimmt auch der Erfahrungsreichtum, das Wissen der Menschen zu. Es findet aber nicht nur eine quantitative Erweiterung statt. Vor allem die Vielfalt an persönlichen Erfahrungshintergründen, die Unter­schiedlichkeit zwischen den Individuen erreicht eine bisher nicht erreichte Breite. Erst mit dieser tendenziellen Individualisierung des Lebensprozesses, seiner Loslösung von mit der Geburt feststehenden relativ fixen und unabän­derlichen Lebensabläufen, läßt sich von einer eigenständigen Lebenswelt sprechen.

Jedes Individuum verarbeitet, speichert und assoziiert in seinem aktuellen Lebensprozeß die gegebenen gesellschaftlichen Strukturen, in denen es sich auf­hält und die es sich potentiell aneignen kann, immer vor dem Hintergrund der eigenen individuellen Erfahrung. Das Subjekt nimmt also die objektive Reali­tät auf der Basis seines individuellen Lebensweges wahr. Wie wir gesehen ha­ben, ist jedoch die Herausbildung von Individualität und relativer Eigenstän­digkeit im Lebensprozeß ein spätes Resultat der bürgerlichen Gesellschaft. Erst von dem Zeitpunkt an, wo gesellschaftliche und individuelle Totalität auseinanderfallen bzw. wo die Erfahrung einer Klasse an Gleichförmigkeit verliert und individualisiert wird, bekommt die individuelle Vergangenheit des Subjekts besondere Bedeutung, kann die Wahrnehmung aktueller Struk­turen so weit auseinanderfallen.

So hängt die Beurteilung der momentanen Arbeitssituation, ihre Erträg­lichkeit u. ä. von den spezifischen Lebenserfahrungen ab, die das Subjekt ge­macht hat, die selbst noch sehr unterschiedlich sein können aufgrund der Dy­namik der Gesellschaft. Möglicherweise erscheint ihm selbst dann die augen­blickliche Situation als Verbesserung, wenn sie weit hinter dem historisch durchschnittlich Erreichten zurückbleibt.

Die Individualisierung des Lebens ist jedoch nicht nur ein Prozeß, der die Betrachtung des Subjekts im Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegen­wart nötig macht. Die Möglichkeit subjektiver Lebensplanung, die Eröffnung von spezifischen Aussichten oder auch illusionären Hoffnungen für die zu­künftige Lebensgestaltung führen ebenso dazu, daß die gegebene Realität un­terschiedlich wahrgenommen, bewertet und verarbeitet werden kann. Die Be­einflußbarkeit der Zukunft—wie realistisch dies im Einzelfall auch sein mag— gewinnt an Bedeutung für das subjektive Dasein.

3)

Wie schon dargelegt, hat eine gesellschaftliche Entwicklung eingesetzt, die die Ausprägung mehr oder minder eigenständiger Lebensabschnitte ermöglicht: Jugend und Alter.

Der Zusammenhang etwa der Jugend mit den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft ist nur als vermittelter erkennbar. Ohne jetzt auf die gesellschaft­lichen Hintergründe differenzierter einzugehen (Verlängerung und inhaltli­che Veränderung der Ausbildung, veränderte Familienverhältnisse etc.; ins­gesamt eine Pluralisierung der kindlichen undjugendlichen Lebenswelt) kann als Faktum konstatiert werden, daß für den Jugendlichen tendenziell die Führung eines relativ eigenständigen Lebens möglich geworden ist. Das Individu­um bewegt sich in einer Sphäre, in der Wertvorstellungen, Handlungsalterna­tiven und differenzierte Aneignungsprozesse stattfinden können, die qualita­tiv anderer Art sind als die der früheren Generationen, aber auch die der Er­wachsenen. Das Auseinanderfallen der verschiedenen Lebensabschnitte, die Unterschiede in der Lebensgestaltung zwischen diesen Sphären waren noch nie so groß wie heute.

Das bedeutet aber auch, daß das Subjekt beim Übergang in einen neuen Le­bensabschnitt mit neuen Anforderungen konfrontiert ist. Konnte man früher von einem langsamen Hineinwachsen in die >Normalexistenz< sprechen, dem bereits frühkindlichen Einüben in die Notwendigkeiten und Begrenzungen des Lohnabhängigen- bzw. Hausfrauendaseins, so wird dieser Übergang heu­te von einem relativ entwickelten Subjekt vollzogen, das bereits eine eigen­ständige Persönlichkeit darstellt. Neuere Jugenduntersuchungen belegen dies augenscheinlich. So wird festgestellt, »daß materielle Werte nicht mehr ein­deutig die Prioritätenliste beruflicher Erwartungen anführen, zumal kommu­nikative und >atmosphärische< Werte wie z. B. >gutes Betriebsklimas >anre-gende, abwechslungsreiche Tätigkeit, >gutes Verhältnis zu den Kollegen<, >gesunder Arbeitsplatz< und >gute Teamarbeit von jeweils mehr als einem Drittel der Befragten als wichtig angesehen werden.«(143) Ohne jetzt der Frage nachzugehen, wie dies genauer zu interpretieren ist und welche Veränderun­gen sich im Laufe der Zeit bei den Befragten einstellen, lassen diese »und eine Reihe anderer Ergebnisse... darauf schließen, daß sich in der jungen Genera­tion auf Grund unterschiedlicher Bildungserfahrungen unterschiedliche Arbeits- und Berufsorientierungen entwickeln.«(144)

Ähnliche Prozesse, die eigenständiger Untersuchung bedürfen, ergeben sich einerseits auf dem Gebiet der Kleinkindentwicklung, da auch die Aner­kennung und materiellen Bedingungen der Kindheitsentwicklung als eigen­ständiger Phase erst relativ neueren Datums sind, andererseits beim Übergang in den >Ruhestand<.

4)

Wir sind im Alltagsleben der Subjekte mit dem Phänomen konfrontiert, daß derselbe Lebensbereich von ein- und demselben Individuum verschiedenartig wahrgenommen, ja sogar mit gegensätzlichen Bedeutungen belegt werden kann. Darüber ist sich die industriesoziologische Forschung zum Bewußtsein der Lohnarbeiter seit langem klar. Auch jüngere empirische Untersuchungen im Bereich der Jugend- und Frauenforschung belegen dies.

Für die heutige Jugendgeneration ist z. B. festgestellt worden: »Wertewan­del vollzieht sich in der Praxis außerordentlich widersprüchlich. In sich >stimmige< Konzepte (z. B. >Postmaterialismus<) gibt es >in den Köpfen der Men­schern kaum. Wertewandel stellt sich in erster Linie als Veränderung der Rangordnung von Werten dar; >Alte< und >neue< Werte bilden bei einer Mehrheit der Bundesbürger — auch der 15 bis 30jährigen — eine Art wider­sprüchliche Werteharmonie. Es wird versucht, zentrale Werte sowohl >alter< als auch >neuer< Art im individuellen Einstellungs-System zu konfundieren.

Scheinbare oder tatsächliche Widersprüche werden entweder gar nicht wahr­genommen oder harmonisierend verdrängt... nach der Theorie gegensätzli­che Lebensentwürfe... (können) in der Realität aber mehr oder minder har­monisch nebeneinander existieren — konkret von ein und derselben Person vertreten und gelebt werden.«(145)

Ähnliche Ergebnisse kommen aus der Frauenforschung. So ist der Arbeits­prozeß in seiner kapitalistischen Ausprägung für befragte Akkordarbeiterin­nen sowohl» Ursache für Unmut, Zorn, Unwillen, Resignation oder erzeugter Gleichgültigkeit, aber gleichzeitig — in ein- und derselben Person — auch Be­zugspunkt für Selbstbewußtsein, Selbstbewertung und Selbstbestätigung.«(146) Auf der einen Seite wird die Arbeit erfahren in ihrer » Einförmigkeit, Inhaltslo­sigkeit und Unterordnung unter die Maschine.«(147), auf der anderen Seite »er­fordert der konkrete Vollzug doch immer noch den Einsatz und den Nachweis eines Bündels von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Als Teilmoment des gesam­ten Produktionsprozesses ist die konkrete Einzeltätigkeit immer noch indivi­duell zu bewältigende Tätigkeit, und als solche bleibt sie auch Moment des af-fektiven Selbstbezugs.«(148)

Das Individuum ist also zu einer spezifischen Gewichtung der verschiede­nen Momente seines Lebensprozesses in der Lage. Es kann ausgehend von sei­ner Besonderheit strukturierend die Wirklichkeit vermitteln und in eine, für es dann spezifische Ordnung bringen.

Die Theorie muß auf der Ebene des Subj ekts dieses » Vorhandensein wider­sprüchlicher Erfahrungen, die gleichzeitige Bejahung und Verneinung, die Simultanität von positiven und negativen Besetzungen eines Objektbe­reichs« 149 und die Möglichkeit des Individuums, eigenständig darauf Einfluß zu nehmen, berücksichtigen. Dies darf nicht als Unvermögen, die Realität ein­deutig wahrnehmen zu können, interpretiert werden.

Es reicht also nicht aus, das Bewußtsein auf der Ebene der subjektiven Be­trachtung als widersprüchlich zu kennzeichnen. Der Tatsache der individuel­len Strukturierbarkeit und veränderbaren Hierarchisierung im subjektiven Wahrnehmen, dem Nebeneinander verschiedener Werthaltungen und gegen­sätzlicher Einschätzungen muß Rechnung getragen werden, indem die Ebene des einerseits/andererseits überschritten wird und diese Ambivalenz bzw. Polyvalenz im Bewußtsein der Individuen als eigenständiger Teil der Bewußt­seinsanalyse anerkannt wird. Damit ist ein weiteres notwendiges Vermitt­lungsglied zwischen objektiven gesellschaftlichen Strukturen und individuel­lem Handel benannt.

Die widersprüchliche Bestimmtheit des Bewußtseins kennzeichnet in der Analyse der Bewußtseinsformen also die Ebene, die abstrakt als Sphäre der ökonomischen Formbestimmtheiten gekennzeichnet ist; es bedeutet die ob­jektive Strukturierung des Bewußtseins durch eine sich wesentlich antagoni­stisch entwickelnde Produktionsweise. Die ambivalenten, inkonsistenten und auch polyvalenten Bewußtseinsformen kennzeichnen in der Analyse die Ebe­ne des Alltagslebens; es ist die Art und Weise, in der die Individuen die Phäno­mene an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer sozialen Di­mension erfassen und ideell strukturieren bzw. gestalten.

Anmerkungen

128) W. Fuchs in: Soziale Welt Heft 3/83, S. 369

129) ebd, S. 341

130) ebd, S. 366

131) Carola Pust/Petra Reichert/Anne Wenzel u.a., Frauen in der BRD, a.a.O., 1983, S. 200

132) Agnes Heller, Theorie der Gefühle, a.a.O., 1980, S. 33

133) ebd, S. 35

134 )GyörgyAdam, Empfindung Bewußtsein Gedächtnis... mit den Augen des Biologen S. 156

135) ebd., S. 159

136) Autorenkollektiv, Persönlichkeit, Kunst, Lebensweise, Berlin (DDR) 1983, S. 185

137) A. Heller, a.a.O. S. 36

138) ebd

139) ebd, S. 245

140) ebd, S. 247

141) Marx, MEW Bd. 19, S. 363

142) ebd

143) Sinus Studie, Die verunsicherte Generation, Jugend und Wertewandel, Opladen, 1983, S.84

144) ebd, S. 86

145) ebd, S. 28f.

146) Becker-Schmidt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Jg. 32,1980

147) MEGA, a.a.O., S. 2021

148) Becker-Schmidt, a.a.O.

149) ebd

Quelle:

Sebastian Herkommer, Joachim Bischoff, Karlheinz Maldaner, Alltag, Bewußtsein, Klassen, Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1984, S.211-218