Die innenpolitische
Konfliktsituation in Frankreich spitzt sich
zu: Im Dezember 2019 wird gegen eine weitere
Verschlechterung des Rentensystems in
Frankreich massiv demonstriert, protestiert
und gestreikt. Der nähere Ablauf der
Sozialproteste, die am Donnerstag, den 05.
Dezember d.J. anfingen, erfolgt nach dem
Redaktionsschluss dieses Artikels.
Gegenstand des
sozialpolitischen Kräftemessens zwischen
Regierung, Gewerkschaft und
außerparlamentarischer Protestbewegung
(sowie Teilen der parlamentarischen
Opposition, als deren Unterstützer/innen
oder in ihrem Schlepptau) ist die neuste
geplante Renten„reform“ nach denen von 1993
– „Balladur-Reform“ -, von 2003 unter dem
damaligen Sozialminister François Fillon und
Präsident Jacques Chirac, von 2010 unter der
Präsidentschaft und Verantwortung Nicolas
Sarkozys sowie von 2013/14 unter Präsident
François Hollande. Einmal mehr soll das
Eintrittsalter in die Rente angehoben
werden.
Zuletzt war das
Mindestalter von 60 auf 62 angehoben worden
(2010), doch hatten die bisherigen
„Reformen“ vor allem an einer anderen
Stellschraube gedreht, nämlich jener, die
die Zahl der erforderlichen Beitragsjahre
zur Rentenkasse anhebt. Diese betrug bis zu
der rückschrittlichen „Reform“ von 1993 noch
37,5 Jahre für alle Beschäftigten, danach 40
Jahre in der Privatwirtschaft; mit der
ebenfalls regressiven „Reform“ von 2003
wurde sie nun auch in den öffentlichen
Diensten auf 40 angehoben, und mit jener von
2010 auf 41,5 Beitragsjahre für alle Lohn-
oder Gehaltsabhängigen. Seit der bislang
letzten so genannten „Reform“ von 2013/14
wird die Anzahl der Beitragsjahre, mit
Übergangsregelungen (die sich von 2020 bis
2035 hinzuziehen), sukzessive auf künftig 43
steigen.
Doch noch blieb bislang
das offizielle Renteneintrittsalter von 62,
wie es 2010 eingeführt worden war (mit
voller Wirkung ab 2018), unangetastet. Im
europaweiten Vergleich liegt es eher im
relativ niedrigen Bereich. Allerdings hat es
auch bislang eher einen theoretischen
Gehalt. Denn wer weniger als die
erforderlichen Beitragsjahre aufweist, muss
entweder bis zum Alter von 67 (gültig seit
2017) mit der Pensionierung warten, um eine
volle Rente beziehen zu dürfen, oder aber
wird mit finanziellen Abzügen an der
Pensionszahlung bestraft. Nunmehr soll das
Minimalalter auf 64 angehoben werden.
Darunter soll eine Verrentung zumindest mit
Strafabzügen verbunden sein.
Zuletzt wurde in
Frankreich eine Renten„reform“ im Jahr 1995,
in Gestalt des so genannten „Juppé-Plans“ –
nach dem damaligen Premierminister Alain
Juppé benannt – durch eine mächtige
Streikbewegung verhindert. Durch das Kippen
der damaligen Regierungspläne wurde etwa das
Vorhaben gestoppt, die günstigeren
Sonderregelungen für die Rente in einzelnen
Bereichen, insbesondere bei den
Beschäftigten in Verkehrsbetrieben wie der
Eisenbahngesellschaft SNCF, aufzuheben.
Diese sollen nunmehr nach dem Willen der
aktuellen Regierung erneut angegriffen
werden: Die Rentenregelungen sollen für alle
Beschäftigten aneinander angeglichen werden,
allerdings „nach unten“, also im Sinne einer
Verschlechterung für alle. Dieses Vorhaben
wird von Regierungsseite im Namen von
„Gerechtigkeit“ und der „Abschaffung von
Vorrechten und Privilegien“ gerechtfertigt.
Doch schenkt man den Umfragen auch der
bürgerlichen Institute Glauben, dann gehen
zwei Drittel der Gesellschaft diesem
vordergründigen „Anti-Privilegien“-Diskurs
nicht auf den Leim, sondern lehnen seine
Kernaussage ab.
Ähnlich wie im Spätherbst
1995 haben auch dieses Mal die Beschäftigten
der Transportbetriebe – der SNCF sowie der
Verkehrsbetriebe im Großraum Paris, also der
RATP (Régie autonome des transports
parisiens) – als Erste die
Initiative für den Aufbau einer Streikfront
im Dezember d.J. ergriffen. Bereits am 13.
September 19 hatten dieselben
Beschäftigtengruppen einen eindrucksvollen
eintägigen Streik im Raum Paris
durchgeführt, als Warnsignal an die
Regierung, und 24 Stunden lang den
öffentlichen Verkehr dort (mit Ausnahme
mancher Buslinien) komplett lahmgelegt. Bei
der Bahngesellschaft SNCF fanden ferner im
Laufe des Herbsts 2019 mehrere Wellen von
Arbeitsniederlegungen statt, etwa gegen das
Vorhaben der Bahndirektion, in den
Mechanikerwerkstätten zwölf freie Tage
jährlich (als Freizeitausgleich für Nacht-
und Wochenendarbeit) einfach zu streichen.
Dabei wurden die etablierten Gewerkschaften
bei der SNCF, wie die CGT-Eisenbahner (CGT
cheminots), weitgehend durch ihre Basis
überrollt, griffen den Arbeitskampf dann
jedoch auf.
Hinzu kamen im Laufe der
Wochen jedoch auch Streikaufrufe in anderen
öffentlichen Diensten, beim
Elektrizitätsversorger EDF – wo die CGT der
Energiebranche mit punktuellen
Stromabschaltungen droht -, aber auch etwa
in der chemischen und petrochemischen
Industrie. Im von Kaputtsparpraktiken,
mangelnder Mittel- und Personalausstattung
und massivem Arbeitsstress schwer
gebeutelten öffentlichen Krankenhauswesen,
wo bereits seit März 2019 wiederholt gut
befolgte tageweise Arbeitskämpfe stattfanden
und stattfinden, wird für Dezember d.J.
ebenfalls zum Streiken aufgerufen. In diesem
Bereich geht es neben den Renten darüber
hinaus um die schlichte Rettung des
öffentlichen Sektors, während die aktuelle
Regierungspolitik de facto darauf
hinausläuft, die – zahlungspflichtigen –
Privatkliniken zu begünstigen.
Am ersten Wochenende im
November 19 hatten auch die Delegierten der
„Gelbwesten“kollektive, die sich zu einer
„Versammlung der Versammlungen“ in
Montpellier trafen (dem vierten
Delegiertentreffen nach denen von Commercy
im Januar, Saint-Nazaire im April und
Montceau-les-Mines im Juni), zum Anschluss
an die Streiks und Sozialproteste ab dem 05.
Dezember aufgerufen. Dies leitet insofern
einen Richtungswechsel ein, als jedenfalls
ein Teil der „Gelbwesten“ bis dahin
tendenziell die Gewerkschaften als „Teil des
Etablishments“ abtat - was für manche
Apparate respektive ihr Führungspersonal
zutreffen mag, es jedoch zwingend
erforderlich macht, diese von ihrer
lohnabhängigen Basis zu unterscheiden, wie
die „Gelbwesten“-Delegierten dies auch
richtigerweise taten.
Anfänglich waren die
„Gelbwesten“ – in ihrer ursprünglichen
Zusammensetzung, in der die Bewegung im
November 2018 entstand – eine politisch-ideologisch
heterogene Protestfront, die aus linken wie
rechten Elementen bestand. Formulierte ein
Flügel Fragen nach Steuergerechtigkeit aus
der Sicht einer Kritik an sozialen
Ungleich- und Ungerechtigkeiten, existierten
auch rechtslastige Kräfte innerhalb der
uneinheitlichen Bewegung, die eher Steuern
als Ausdruck einer (wie auch immer
organisierten und ausgerichteten)
gesamtgesellschaftlichen Solidarität
generell ablehnten und/oder die
Kleinunternehmen verteidigten.
Die rechten Kräfte,
jedenfalls die organisierten, haben sich
mittlerweile jedoch (außer auf örtlicher
Ebene, jedenfalls in der überregionalen
Sicht) eindeutig zurückgezogen. Aus ihrer
Sicht wurde es unübersichtlich, zu
unordentlich, zum Teil zu militant, zu stark
mit Linken durchmischt, usw. Überdies haben
es die organisierten Rechten nicht
geschafft, die „Gelbwesten“ als solch zu
einer Anti-Einwanderungs-Bewegung
umzuformen, wie sie vor allem im Kontext der
Debatten um den „Pakt für Migrantenrechte“ –
unterzeichnet in Marrakesch am 10. Dezember
2018 unter der Ägide der Vereinten Nationen,
mit Unterschrift der meisten europäischen
Regierungen und weitgehend nur symbolischem,
rechtsunverbindlichem Gehalt – angestrebt
hatten.
Was die organisierten
Rechten (wie der Rassemblement National/RN)
nun tun, ist, sich außerhalb der
verbliebenen „Gelbwesten“bewegung als
solcher – und stattdessen im wahlpolitischen
Raum – aufzustellen, sich dabei jedoch das
Etikett ihrer (vormaligen, angeblichen oder
tatsächlichen) Teilnahme an dem heterogenen
Protest anzupappen, um sich zu den „wahren
Erben der Anliegen der ursprünglichen
Protestierer“ aufzuschwingen. Ohne die
jetzigen Protestierenden aktiv zu
unterstützen.
Zugleich befindet sich
die „Gelbwesten“-Bewegung als eigenständiger
politischer Faktor seit dem Sommer/Herbst
2019 tendenziell im Niedergang. Ihr erster
„Geburtstag“, also die Proteste zum
Jahrestag ihrer Gründung (17. November 2018)
am Wochenende des 16./17. November 19,
beschäftigte zwar die Medien, führte jedoch
objektiv nicht zu einer wirklich starken
Mobilisierung. Laut Zahlen des
Innenministeriums nahmen in
unterschiedlichen Städten in ganz Frankreich
28.000 Menschen (unter ihnen 4.700 in
Paris), laut Angaben von Veranstalter/inne/n
hingegen 39.300 Menschen in ganz Frankreich
am 16. November 2019 an Protesten teil. Dies
sind Größenordnungen, die erheblich
unterhalb derer bei den Protesten ein Jahr
zuvor, aber noch stärker unterhalb jener bei
den Sozialprotesten mit gewerkschaftlicher
Unterstützung liegen.
In Paris liefen einige
Aktionen komplett aus dem Ruder, wobei
jedoch von einer Form der Provokation
seitens der Staatsmacht gesprochen werden
kann – deren Kalkül letztlich aufging. Der
dümmste Teil der erlebnis- und
adrenalinorientierten Protestfraktion gab
sich Ausschreitungen hin, die nur als
kontraproduktiv bezeichnet werden konnten.
Eine Bushaltestelle wurde zertrümmert – auf
dass Pariser Angestellte nun im Regen auf
den Bus warten, um die bisher auf den
Glasflächen inserierenden Werbeunternehmen
zu bestrafen -, ein Gefallenendenkmal für im
Zweiten Weltkrieg gegen die faschistischen
Achsenmächte kämpfende Soldaten ebenso. Ein
Waschsalon wurde mit Bauzaunlatten als „Rammbock“
attackiert, in den sich zwei von ihren
Kolleg/inn/en abgeschnittene Polizisten
geflüchteten hatten, in dessen Inneren sich
jedoch auch Kundinnen und Kunden befanden.
Ferner wurden auch zum Löschen anrückende
Feuerwehrleute attackiert, und Randalierende
lieferten sich körperliche Reibereien mit
ihnen.
Tatsache ist aber auch,
dass die Pariser Polizeipräfektur (die
direkt dem Innenministerium untersteht)
diese Situation wohl einkalkuliert hatte und
mit ihr rechnen musste. Es war die
Polizeipräfektur als Anmeldebehörde, die,
nachdem sie die Champs-Elysées als
Austragungsort für die (angemeldeten)
Demonstrationen vom 16. November verweigert
hatte, die im südlichen Teil des
Stadtgebiets gelegene place d’Italie
als Auftaktort festgelegt hatte.
Dieser Platz, rund um das Bezirksrathaus des
13. Pariser Arrondissement, wird jedoch
derzeit von drei Baustellen geprägt.
Reichlich Baumaterial steht und liegt herum.
Auf den Champs-Elysées – als aus Sicht der
Staatsmacht strategisch wichtigem Ort, in
quasi unmittelbarer Reichweite des
Elyséepalasts – war im Frühjahr 2019 bei
größeren „Gelbwesten“-Terminen Sorge dafür
getragen worden, dass in deren Vorfeld
Baustellen versiegelt oder abgebaut werden.
In diesem Falle passierte dies jedoch nicht.
Als ob man die Idiotenfraktion geradezu
provozierend dazu einladen wollte, tätig zu
werden, auf dass die Sache auch nur ja schön
aus dem Ruder laufen möge…
In diesem Sinne erklärte
etwa auch der
sozialdemokratisch-linksliberale
Bezirksbürgermeister des 13. Pariser
Arrondissements noch am Wochenende, sich
über die Festlegungen der Polizeibehörde zu
wundern. Er nahm es sicherlich (jedenfalls
in seinen öffentlichen Äußerungen) eher als
Inkompetenz und Ungeschick wahr, wo man wohl
ebenso gut eine kalkulierte Strategie der
Provokation und der Spannung vermuten
könnte. Wie viele Angehörige des
Protestlagers es nun tun.
Für die Pariser
Demonstration am 05. Dezember legte die
Polizeipräfektur wiederum fest, diese solle
von der place d’Italie aus beginnen.
Na, wenn das keine Strategie darstellt…
(NACHTRÄGLICHE Anmerkung: Mittlerweile
konnte der Auftaktort umgemeldet werden, die
Demonstration wird nun in der Nähe des
Pariser Nordbahnhofs beginnen.)
Auch die staatliche
Repression kam in der jüngsten Periode nicht
zu kurz. Ein 41jähriger Leiharbeiter aus dem
nordfranzösischen Valenciennes, Manuel,
verlor am 16. November ein Auge. Er gehörte
keineswegs zur Idiotenfraktion, sondern
stand, die Hände in den Hosentaschen,
seelenruhig diskutierend in einer Gruppe auf
der anderen Seite des riesigen Platzes. Zwei
belgische Staatsangehörige wurden am selben
Tag festgenommen und zunächst den
Strafrichtern vorgeworfen, die sie von allen
Vorwürfen illegaler Handlungen freisprachen,
danach jedoch in französische Abschiebehaft
genommen.
Es bleibt zu hoffen, dass
die Breite der sozialen Protestmobilisierung in
den letzten Jahreswochen dem zynischen
Kalkül der Regierungen mit solchen und
anderen Provokationen einen Strich durch die
Rechnung zieht.
Editorischer
Hinweis
Wir erhielten
den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.
Ende November 19, ursprünglich verfasst für
die Zeitschrift Archipel.