Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Demonstration gegen anti-muslimischen Rassismus

12/2019

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CGT, Union syndicales Solidaires und ein Gelbwestenprominenter waren dabei, viele Linkskräfte ebenfalls. Heftige Medienkampagne. Ein neues Kampagnenthema von Konservativen und Teilen der Medien soll die Angstdebatte weiter anfachen

12. November 19

Rund 13.500 Menschen demonstrierten am vergangenen Sonntag, den 10. November 19 in Paris gegen islamfeindlichen Rassismus; so die (in der Größenordnung glaubwürdige) Angabe des Medienkollektivs Occurrence, das seit nunmehr zwei bis drei Jahren aktiv ist, um mit unabhängigen Messungen die jeweils „parteiischen“ Zahlen von Veranstalter/inne/n und Polizeibehörden zur jeweiligen Demobeteiligung zu kontrollieren. Die Zahlenangaben, die auch laut Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen näherungsweise zutreffen, wurden in der Folge durch die wichtigsten bürgerlichen Medien des Landes übernommen. (Vgl. etwa: https://www.francetvinfo.fr/und https://www.lemonde.fr ) Wie auch durch die Nachrichtenagentur AFP.

Die Demonstration wurde in Reaktion auf jüngste Vorfälle wie das Attentat des 84jährigen früheren rechtsextremen Bezirksparlamentskandidaten (2015), Claude Sinké, auf eine Moschee in Bayonne sowie auf Ausfälle eines rechtsextremen Parlamentariers gegen eine Kopftuch tragende Mutter im Regionalparlament von Dijon organisiert. (Vgl. nebenstehenden Artikel dazu)

Von ihrer Zusammensetzung her bestand die Demo zu wohl über 60 Prozent aus Linken und radikalen Linken (Anarchosyndikalist/inn/en, NPA, Lutte Ouvrière, Grüne, französische KP – Letztere allerdings eher mager vertreten -, La France insoumise),und zu deutlich über einem Drittel aus muslimischen Personen; Mehrfachzugehörigkeiten sind selbstverständlich möglich. Auch feministische Gruppen wie der Frauenverband Egalité beteiligten sich.

Die linksalternativen Basisgewerkschaften (SUD) vom Zusammenschluss Union syndicale syndicales waren dabei sehr sichtbar vertreten, vgl. unsere PHOTOS; ebenso wie Lehrer/innen/gewerkschaften und auch studentische Blöcke. (Die Studierenden in Frankreich sind derzeit stark mobilisiert, nachdem sich in Lyon ein Student – Mitglied der Studierendengewerkschaft Solidaires étudiant.e.s - aus Protest gegen seine prekäre Lebenssituation wie auch gegen “täglichen Rassismus” vor den Türen einer studentischen Sozialeinrichtung in Lyon selbst verbrannte. Er hinterließ einen hochpolitischen Abschiedsbrief, ist allerdings nicht tot, liegt jedoch mit Verbrennungen auf 90 % der Körperoberfläche auf einer Intensivstation. Die Studierendenschaft ist vor diesem Hintergrund derzeit allgemein ziemlich mobilisiert, am Abend des gestrigen Dienstag, den 12.11.19 wurde am Eingang des Hochschulministeriums eine Tür eingerammt.)

Auch die CGT hatte, mit einem eigenen Appell, zur Teilnahme aufgerufen. (Vgl. : https://www.cgt.fr ) Ihr Generalsekretär Philippe Martinez nahm, jedenfalls zeitweilig, ebenfalls persönlich an der Demonstration teil.

Seinerseits tauchte der prominente „Gelbwesten“-Exponent Jérôme Rodrigues ebenfalls bei der Demo auf. Ihn kennt halb Frankreich, seitdem ihm zu Anfang dieses Jahres bei einem Polizeieinsatz anlässlich einer „Gelbwesten“-Demo ein Auge ausgeschossen wurde (vgl. https://www.youtube.com/; Labournet berichtete).

Zu seinem Auftritt bei der Demo, hier ein Bericht auf einer muslimischen Webseite :

.. und hier zwei Text- und Bildnachweise zum selben Thema auf einer rechtsextremen Webseite :

und (mit einem Kurzfilm, in welchem Rodrigues diejenigen „Gelbwesten“ kritisiert, die ihn infolge seiner Demobeteiligung „angeschissen“ hätten):

Dennoch hatte es im Vorfeld zum Teil heftige Debatten über den Aufruf zur und der Teilnahme an der Demonstration gegeben. Aus den Reihen der (bis 2017 regierenden) Sozialdemokratie sowie aus bürgerlich-intellektuellen Kreisen kamen teilweise heftige Vorwürfe; und selbstverständlich ließ sich die neofaschistische Politikerin Marine Le Pen nicht die Gelegenheit zu einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne gegen ihre Feinde auf der Linken entgehen. (Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=mMSc8runKPY und https://www.bfmtv.com/ )

Marine Le Pen, aber nicht nur sie allein, behauptete(n) wahrheitswidrig, die Demonstration werde „durch Islamisten“ organisiert, also – sofern der Begriff irgendein eine Bedeutungsgehalt aufweisen soll – durch Anhänger des politischen Islam als einer (gewiss nicht progressiven, allerdings aus heterogenen Strömungen bestehenden) politischen Ideologie, die nach Gestaltung von Regierungspolitik strebt. Dies war dezidiert nicht der Fall, die Initiative zur Demo wurde ursprünglich durch die radikale Linke ergriffen. Salafisten bspw., als besonders aggressive Vertreter des politischen Islam als politisch-ideologischer Strömung, waren am 10. November 19 letztendlich überhaupt nicht vertreten, auch wenn man angesichts des Themas potenziell hätte das Gegenteil befürchten können; die Salafisten tauchten jedoch nicht auf.

Präsent zeigten sich hingegen viele muslimische Frauen, die sich – mit und ohne Kopftuch - auch in die als solche erkennbaren linken Demoblöcke hinein begaben, wenn dort gute Stimmung herrschte. Viele muslimische Mädchen trugen dabei zugleich (jedenfalls aus diesem Anlass) Kopftücher, aber auch blau-weiß-rote Schminke in den Nationalfarben der französischen Republik auf den Wangen. Ähnlich wie oftmals Franzosen migrantischer Herkunft bei internationalen Fußballspielen, wodurch sie oft ihre Zugehörigkeit zum Land gegen Ausgrenzungs- und Ausschlussprozesse reklamieren möchten. Unterschiedliche Haltungen wurden jedoch erkennbar, als neben einem Demoblock der radikalen Linken eine Reihe junger muslimischer Frauen und Mädchen die Marseillaise, also die französische Nationalhymne anstimmten, in welchen die Linken dann nicht einstimmen mochten.

Kontroversen

Die Debatte in der Öffentlichkeit entzündete sich vor allem an zwei Punkten: der Verwendung des Begriffs „freiheitsgefährdende Gesetze“ im Aufruf sowie der Präsenz des „Kollektivs zur Bekämpfung von Islamophobie in Frankreich“ (CCIF). Ersterer Punkt bezieht sich vor allem darauf, dass es seit März 2004 in Frankreich ein Gesetz zum Kopftuch von Schülerinnen an öffentlichen Lehranstalten gibt; Lehrkräfte dürfen ohnehin, da sie den Staat vertreten – und Letzterer in religiöser Hinsicht neutral zu sein hat, seit dem Gesetz zur Trennung von Staat und Religion(en) vom 09. Dezember 1905, genannt „Laizismus-Gesetz“ – weder Kopftücher noch sonstige, an irgendeine Religion oder Weltanschauung gekoppelte Symbole an sich tragen. Letzterer Punkt, die Lehrkräfte und Staatsbediensteten betreffend, ist nicht wirklich umstritten, das Gesetz zum Verbot des Kopftuchtragens für Schülerinnen war es hingegen (v.a. im Vorfeld seiner Verabschiedung) durchaus. Diese Debatte hier nachzuzeichnen, würde im Einzelnen an dieser Stelle zu weit führen. 2012 wollte ein Teil der Sozialdemokratie das Verbot auf Kinderbetreuerinnen, die in ihren eigenen vier Wänden zu betreuende Kleinkinder aufnehmen, ausweiten; 2019 möchte die konservative Oppositionspartei LR (Les Républicains) es nun auf Mütter, die bei Schulausflügen Klassen ihrer Kinder begleiten, erweitern.

In diesen Debatten kann man nun unterschiedlicher Auffassung in Einzelpunkten sein, als Tatsache ist jedoch festzustellen, dass seit dem Beginn dieser Gesetzesdiskussion der „Laizismus“-Begriff in der politischen Debatte beträchtlich ausgeweitet und umgedeutet wird: Ursprünglich dient er dazu, den Staat zwischen den Religionen zu weltanschaulicher Neutralität zu verpflichten (weswegen es in Frankreich bspw. keinen Religionsunterricht im öffentlichen Schulwesen gibt, an staatlich anerkannten Privatschulen hingegen ja). Nun wird er aber zunehmend dazu benutzt, von der staatlichen Sphäre her bestimmte Teile der Gesellschaft zu religiöser Neutralität zu verpflichten oder aber aus der Öffentlichkeit zu verbannen, in der Regel mit der muslimischen Minderheit gezielt im Blick. Diese Wendung in der Auslegung des „Laizismus“-Begriffs wird in Oppositionskreisen in wachsendem Ausmaß kritisch betrachtet.

Was den zweiten Punkt und die Präsenz des oben erwähnten CCIF betrifft, so wurde er ebenfalls in den bürgerlichen Medien als Ablehnungsgrund im Zusammenhang mit der Demonstration zitiert. Das CCIF oder „Kollektiv zur Bekämpfung der Islamophobie in Frankreich“ ist ein im Kern von Juristinnen und Juristen gebildetes Kollektiv, das nicht auf einer einheitlichen Weltanschauung beruht und Rechtshilfe bei Vorfällen antimuslimischer Diskriminierung oder Hetze anbietet. Einige der Protagonist/inn/en sehen ihre Aufgabe dabei überwiegend in der Diskriminierungsbekämpfung, andere sicherlich daneben auch in jener der Verteidigung einer „muslimischen Identität“, die mehr oder minder konservativ gedacht wird. Niemand unter ihnen strebt jedoch die Errichtung eines Gottesstaats oder jedenfalls – abgemildert - einer (vermeintlich) göttlich inspirierten Regierung und/oder Gesetzgebung in Frankreich an, wie es den politischen Islam in jenen Ländern, wo er wirkungsmächtig ist, auszeichnet. Insofern ist die Bezeichnung „Islamisten“, die in vielen bürgerlichen Medien in diesem Zusammenhang im Vorfeld der Demo gegen das CCIF Verwendung fand, irreführend und tendenziell Verleumdung, auch wenn man bei manchen (nicht allen!) der Protagonisten von einer Form muslimischer Identitätspolitik in einer – als solche von ihnen fraglos akzeptierten – multikulturellen und mutireligiösen Gesellschaft sprechen kann. Das muss man nicht notwendig toll finden (und kann ihm die Einheit der Lohnabhängigenklasse vorziehen), ist aber weder verboten noch an sich verwerflich.

Nach dem Ausbruch der „Diskussion“ in den bürgerlichen Medien in den Tagen vor der Demonstration, die in Wirklichkeit eher eine Art Kampagne darstellte, sprangen einige halblinke bis linke Protagonisten dann auch wieder von ihrem Aufruf zur Teilnahme ab. Die französische (ehemalige Regierungs-)Sozialdemokratie etwa hielt sich fein heraus (und verkündete es lautstark), was nicht unbedingt die allerschlimmste Nachricht war, zumal die frühere Partei François Hollandes nicht wirklich – oder wirklich nicht - auf der Straße mobilisierungsfähig ist, was vor fünfzehn Jahren punktuell noch anders ausfiel. Aber auch in weiter links stehenden Kräften hielt die Debatte Einzug. Bei La France insoumise („Das unbeugsame Frankreich“, der Wahlplattform des Linkssozialdemokraten und Linkspatrioten Jean-Luc Mélenchon) erklärte etwa der junge Abgeordnete von Amiens, François Ruffin, anfänglich ein Unterzeichner des Aufrufs, er werde nun doch „lieber Fußball spielen“ an dem Nachmittag.

Der faktische Parteichef Mélenchon hingegen hielt an seinem Aufruf und auch an seiner Beteiligung fest und erklärte, man müsse „das Wesentliche“, worum es „in der Sache“ gehe, von Differenzen mit einzelnen Beteiligten unterscheiden. Jean-Luc Mélenchon hat in dieser Frage im Übrigen einigen Weg zurückgelegt und sich entwickelt. Ursprünglich stammt er nämlich selbst aus einem Teil der Linken, welcher sich durch einen tendenziell autoritären Staatslaizismus auszeichnet. Noch im Februar 2017 verteidigte er in einem ersten Reflex sogar Marine Le Pen, als diese einen Skandal künstlich vom Zaun brach, als die Dame – offiziell auf Politbesuch im Libanon – einen religiösen Ort mit Holtern & Poltern und lautem Medienkrach verließ, weil man sie ersucht hatte, dort ein Kopftuch anzulegen. Dabei hatte Marine Le Pen selbst um eine Audienz beim sunnitischen Mufti, also dem Oberhaupt der sunnitischen Muslime im Libanon, in dessen Residenz ersucht, um sich im Rahmen ihrer Visite wenige Woche vor der französischen Präsidentschaftswahl 2017 als Staatsfrau aufzuführen. Ausgerechnet Marine Le Pen (im Namen der Frauenrechte) in diesem Zusammenhang zu verteidigen, war sicherlich ein Fauxpas, erklärte sich jedoch aus einer in diesem Falle zu falschen Schlüssen führenden Haltung des „Laizismus zuerst“… Mélenchon reiht sich derzeit jedoch in die Reihen derer ein, die vernehmbar den antimuslimischen Rassismus kritisieren und - obwohl selbst ausgesprochen religionsskeptisch – zu Recht davon ausgehen, dass es keinen Zwang zum Atheismus gibt.

Seitens der trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière (LO, „Arbeiterkampf“, eher traditionalistisch ausgerichtet), die explizit religionsskeptisch auftritt und ebenfalls an der Anti-Rassismus-Demo teilnahm, erklärte ihre Sprecherin Nathalie Arthaud in die TV-Kameras, man sei gegen Diskriminierung und Hetze da und „das Schlimmste wäre, den reaktionären Islamisten allein das Feld zu überlassen“.

Die Wucht der Debatte und Agitation in vielen Medien konnten diese Erwägungen nicht abmildern; ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Spitze der Demonstration ein Lied (nach einer bekannten Kindermelodie) anstimmte: „In den Straßen von Paris – singen die Muslime – Laizismus, wir lieben Dich! – Du (Laizismus) sollst die Muslime beschützen.“

Vgl. etwa in der bürgerlichen Presse zum Widerhall dieser Debatten im Vorfeld der Demo:

Gegenkampagne

Die veritable Kampagne in Teilen der bürgerlichen Presse, aber auch Fernsehsender ebbte aber auch nach der Demonstration nicht ab, obwohl weitgehend festgestellt wurde, dass es „friedlich“ zugegangen sei und keine sichtbaren Probleme gegeben habe. Man fand dann doch noch ein paar Angriffspunkte (gut, bei linken Demos hätte man herausgefunden, dass auch fünfeinhalb echte Stalinisten mitgelaufen wären…). Beim Infoportal Orange.fr im Internet bspw. – also auf der Webplattform der privatisierten französischen Telekom, eines bedeutenden Internetzugang- und Mobiltelefon-Anbieters -, bei dem üblicherweise Artikel der wichtigsten etablierten Zeitungen sowie Meldungen der Nachrichtenagentur AFP übernommen werden, prangten am Abend und am Tag nach der Demo ein halbes Dutzend längerer Artikel zum Thema auf der Seite. Kein einziger kam jedoch in der Einleitung oder im „Anlese“-Absatz zur Kennzeichnung der Demo ohne das Adjektiv „umstritten“ (controversée) aus, das offensichtlich systematisch gestreut worden war.

Zum Einen empörte sich der konservative Law & Order-Politiker Eric Ciotti (Abgeordneter von Nizza) darüber, dass auf einem Plakat „Das xenophobe und brandstiftende Gesocks“ verbal attackiert worden sei. Er forderte sogar den amtierenden Innenminister dazu auf, gegen diesen „Hassaufruf“ vorzugehen. (Vgl. https://www.lefigaro.fr ) Betrachtet man sich die Namen der solcherart „beleidigten“ armen Opfer, nimmt es eine/n hingegen mitnichten wunder. Unter ihnen firmiert an prominentester Stelle der bekannte TV-Journalist Eric Zemmour. Letzterer (im März 2010 in anderem Zusammenhang wegen „Aufstachelung zur Rassendiskriminierung“ rechtskräftig verurteilt) hatte u.a. Ende September d.J. an einer „Konvention der Rechten“ betitelten Veranstaltung im 15. Pariser Bezirk teilgenommen, deren prominenteste Rednerin die neofaschistische frühere Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen war. Zemmour hatte dort unter anderem erklärt, der Nationalsozialismus habe zwar „einige Härten“ aufgewiesen, erscheine ihm jedoch als vergleichsweise harmlos im Vergleich zu „dem Islam“. Hammerhart… (Seine eigene jüdische Abstammung ändert daran nichts!) Infolge solcher Aussprüche werden derzeit bei mehreren Medien, für welche Zemmour häufig arbeitet – wie der Tageszeitung Le Figaro und dem TV-Sender CNews – in Teilen des abhängig beschäftigten Personals massiv Unterschriften gesammelt, um ein Hinausdrängen des Hetzers zu fordern. Neben ihm prangte auch das Konterfei von Zineb al-Rhazoui, die früher für die Wochenzeitung Charlie Hebdo arbeitete, jedoch im Clinch mit ihrer Redaktion liegt. El-Rhazoui, ursprünglich ein Abkömmling der sozialdarwinistischen marokkanischen Oberklasse, benutzt Religionskritik gerne auch als Distinktionsmerkmal gegenüber ihren „unaufgeklärten“ Ex-Landsleuten; jüngst forderte sie bei einer TV-Debatte auf CNews - und wiederholte trotz energischen Widerspruchs sogar des Moderators mehrfach ausdrücklich -, in französischen Banlieues müsse die Polizei „mit scharfer Munition“ auf jugendliche Übeltäter (es ging bei der Debatte um vorausgegangene Angriffe auf die Polizei in Trabantenstädten wie Mantes-la-Jolie) schießen dürfen. (Vgl. https://www.dailymotion.com/video/x7nly5r ) Der Begriff „Gesocks“ fiel an dieser Stelle vielleicht noch zu edel aus…

Zum Zweiten fand man infolge akribischer Bildstudie bei den Sendern heraus, ein circa zehnjähriges Mädchen habe bei der Demo einen Aufkleber getragen, das „einen gelben Stern“ zeige. Dadurch habe sie sich mit jüdischen Opfern des Staats-Antisemitismus (im 20. Jahrhundert) verglichen, was wiederum ein Skandal sei. In Wirklichkeit zeigte ihr Aufkleber allerdings keinen sechszackigen so genannte Judenstern, sondern einen fünfzackigen Stern in Begleitung eines Halbmonds, also ein muslimisches Symbol, wie Nahaufnahmen belegten. Unterdessen war bereits die grüne Senatorin Esther Benbassa in TV-Sendungen und Twitter-Nachrichten scharf angegriffen worden, weil sie in der Nähe des Mädchens stand und mit ihm photographiert wurde. Benbassa – selbst jüdischer Herkunft, und Autorin mehrerer Bücher über jüdische Leben und auch jüdisches Leid – reagierte verblüfft, hatte sie den Aufkleber doch schlichtweg nicht gesehen und seine Trägerin wohl auch nicht näher beachtet, jedenfalls nicht eingehend optisch untersucht. Vgl. zu den weiteren Reaktionen dazu auch: https://www.lefigaro.fr/

(Tatsächlich stimmt es auch, dass eine Reihe von Muslimen sich vor dem Hintergrund realer Hetze und Diskriminierung heute – laut einer vorige Woche publizierten Umfrage weisen 42 % der französischen Muslime persönliche Diskriminierungserfahrung auf – manchmal leichtfertig mit „den Juden gestern“ vergleichen. Dieser Vergleich ist ausgesprochen schief, u.a, weil der Antisemitismus, in Teilen des 20. Jahrhundert staatliches Programm in einer Reihe von Ländern, nicht einfach ein Rassismus neben anderen war: Dem „modernen“ Antisemitismus des 20. Jahrhundert wohnt inne, dass er keine Diskriminierung einer religiösen Minderheit war wie der aus dem Mittelalter überkommene christliche Antijudaismus, sondern eine Weltverschwörungsideologie. Eine komplette und in sich geschlossene Weltanschauung, welche u.a. das Wirken des Finanzsystems, der Medien.. zu erklären behauptete. Daraus resultierte, jedenfalls historisch, eine besonders mörderische Dynamik. Zu oberflächliche und simple Vergleiche, die heutigen Rassismus damit gleichzusetzen versuchen, sind deswegen notwendig inhaltlich falsch. Solche Vergleiche sind falsch – aber nicht antisemitisch oder moralisch skandalös, sondern diskutier- und widerlegbare Irrtümer.)

Alles in allem hat man beinahe Lust, angesichts dessen, was tagelang in bürgerlichen Leitmedien infolge der Demonstration skandalisiert wurde, festzustellen: Wenn sich daran eine Kampagne entzündet, dann belegt es vor allem, dass es definitiv keine schlimmeren Probleme gab, sonst hätte man sie gefunden…

Unterdessen geht die Angstdebatte weiter. Am Dienstag, den 12. November 19 hatten Medien wie der Privatfehsender BFM TV ein neues Thema gefunden, das doch nur das alte fortsetzt: „Kommunitaristische“ (d.h. ungefähr: parallelgesellschaftliche, konfessionell gebundene) Listen wollten in manchen Städten zu den Kommunalwahlen antreten. Damit war nicht die, entgegen ihrem Namensanschein nicht in der rechten Mitte, sondern am reaktionären Rand stehende „Christliche demokratische Partei“ (le PCD) unter Jean-François Poisson gemeint, die es seit langem gibt – seit 2001 – und mit der stärksten konservativen Partei Les Républicains in einem festen Partnerschaftsabkommen verbunden ist; sondern im Visier stehen kleine, von muslimischen Personen gebildete Listen. Auch das ist übrigens nicht verboten. Als Vertreter einer dieser Listen (Union des démocrates musulmans français; vgl. https://www.liberation.fr hockte dann der Herkunftsfranzose Jean Préaud im Fernsehstudio, ein seelenruhig auftretender Herkunftsfranzose mit gestutztem Bärtchen im bunten Hippie-Hemd, dem auch in seinen Argumenten nichts von einem Fundamentalisten anhaftet. Er musste sich von geifernden Konservativen wie einem jungen LR-Abgeordneten – Robin Reda - sagen lassen, man sei für ein Verbot solcher Listen (…für die es allerdings keine gesetzliche Grundlage gibt). Und ferner werde man sie zwingen, eine „Charta für den Laizismus“ zu unterschreiben, und sie dabei schonungslos „entlarven“. Überhaupt wolle man wissen, ob im Falle einer Wahl muslimischer Listenkandidaten in der Stadtbibliothek danach noch Charlie Hebdo ausliege… als ob die Wochenzeitung in allen konservativen Rathäusern abonniert würde… Hinzu kam das Argument des Angriffs auf die französische nationale Souveränität, weil hier ein „Teilvolk“ Souveränitätsrechte (wählen und gewährt werden) an Stelle des dazu berufenen Volkes ausüben wolle.

Spürbarer konnte man kaum werden lassen, wie das „Laizismus“-Argument heute jedenfalls bei manchen Protagonisten in ein echtes Erpressungsinstrument umgeformt wird. Ein echtes politisches Dilemma, wenn man ansonsten – zu Recht – auf die Trennung von Staat und Religion(en) Wert legen möchte. Und der Schlamassel geht garantiert weiter…!

Post scriptum:

Auch die Debatte um diese Themen darf und sollte weitergehen. In der innerlinken und demokratischen Diskussion* ist es ebenso zulässig wie wünschenswert, dass aus unterschiedlichen Sichtweisen Position bezogen wird, sofern man auf die Argumente aus anderen Blickwinkeln eingeht und alle Problemstränge berücksichtigt.

(* Nein, die Begriffe „innerlinke“ und „demokratische Diskussion“ beziehen sich selbstverständlich nicht auf irgendwelches Bahamas-Geschmeiß: Um an einer Debatte teilzunehmen zu können, muss man ein Minimum an intellektueller Satisfaktionsfähigkeit aufweisen, was in diesem Falle nicht gegeben ist.)

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.