Leitkonzept Rezeptionsvorgabe [1]
von Richard Albrecht12/2019
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onlinezeitungWenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn [...]. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. (Robert Musil)
In westlichen literaturwissenschaftlichen Publikationen gab es ab Mitte der 1960er Jahre eine Hinwendung zum Leser, etwa zum impliziten (auch im Text versteckten, vom Autor imaginierten) Leser bei Wolfgang Iser. Oder später, konzeptionell erweitert, als "Rezeptionsästhetik" von Hans Robert Jaus.
In der damaligen DDR wurden diese Weiterungen im herkömmlichen auf Autoren/Produktion zentrierten Literaturverständnis einerseits krititisch wahrgenommen und öffentlich diskutiert[2]. Andererseits entwickelten Autoren im Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR einen theoretischen Rahmen zum Literaturverständnis als dialektischen Zusammenhang von Autor/en und Leser/n und Einbezug der auch hier weitgehend vernachlässigten sozialen Handlungsfigur Leser.
Eine erste theoretisch orientierte Studie unter Leitung von Manfred Naumann[3] (1925-2014) erschien 1973: Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht[4]. Ebenfalls im Aufbau-Verlag erschienen drei Folgebände (darunter zuletzt eine empirische Untersuchung) 1978, 1981, 1983[5]). In der von Peter Zimas Ansatz zur Textsoziologie[6] wahrgenommenen Leitstudie zur Rezeptionsvorgabe, die auch gesellschaftliche Produktionsverhältnisse von Literatur einvernimmt, wird Rezeptionsvorgabe als "Kategorie, die ausdrückt, welche Funktionen ein Werk potentiell von seiner Beschaffenheit her wahrnehmen kann" gesehen und als wertfrei vorgestellte Annäherung an Wirksamkeiten im Musilschen Möglichkeitssinn bestimmt; dabei gilt Lesen/Aufnahme/Rezeption mitder Sozialfigur des Lesers als aktiv "tätiges Subjekt".[7]
Einer der wenigen, der in der Alt-BRD zeitnah die Bedeutung des Leitansatzes zur Rezeptionsvorgabe erkannte, war Fritz J. Raddatz, Editor der dreibängigen Dokumention Marxismus und Literatur[8]. Unter der provokanten Frage Schreibt der Leser die Bücher mit? wertete er die Studie zur Rezeptionsvorgabe formal als "ungewöhnliche Leistung von intellektueller Brisanz wie logischer Stringenz" und begrüßte inhaltlich die Hinwendung zur "emotionalen Produktivität des Lesens" als Ausdruck von "Literatur als Experimentierfeld der sozialen Phantasie". Im Rückbezug auf Gedankensplitter von Marx´ Grundrisse wertete er das neue Modell Rezeptionsvorgabe als "Ausdruck einer dialektischen Beziehung, innerhalb derer Leser nicht nur ein Werk in Empfang nehmen, sondern ein Publikum sich auch seine Autoren schafft. Der Produzent als Produkt – nun eben nicht mehr nur dieser oder jener Klassenlage im Sinne irgendeiner vulgär-soziologischen Äquivalenztheorie – der Leser als Co-Autor vielmehr, im Sinne einer Interpendenz unzähliger, oft imponderabiler ´Einflüsse´."[9] Hier könnte der Grundansatz zum Mit- und Nachdenken über eine – zugegeben: subjektorientierte[10] - marxistische Rezeptionsästhetik liegen – auch wenn die Textanalysen im Band selbst den gesetzten Anspruch nicht einlösen können.
Anmerkungen
[1] Erweiterte Netfassung des im Linzer Fachmagazin soziologie heute, 11.Jg. 2019, Heft 68, Dezember 2019, gedruckten Betrags.
[2] Zusammenfassend Manfred Naumann, Das Dilemma der "Rezeptionsästhetik" [1976]; in ders., Blickpunkt Leser. Literaturtheoretische Aufsätze. Leipzig 1984: 171-190.
[3] Anstatt weiterer von Naumann: Werner Mittenzwei (1927-2014); in: Das Argument, 307/2014: 158-169; über diesen die Laudatio von Wolfgang Klein: Wissen und Leben; in: Lendemains, 140/2010: 123–134.
[4] Berlin-Weimar 1975², 584 p.; dort auch modellhafte Textanalysen von Dieter Schlenstedt zu Rezeptionsvorgaben in Bertolt Brechts Kurzpoem Der Rauch (1953) und in Anna Seghers Exilroman Das siebte Kreuz (1942).
[4] Dietrich Sommer u.a., Leseerfahrung – Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen. Berlin-Weimar 1983, 426 p.; zur theoretischen und empirischen Kritik dieses literatursoziologischen Ansatzes Richard Albrecht, Leseverhalten, Lektüreinteressen und Leseerfahrungen in der DDR; in: Siegener Periodikum für internationale empirische Literaturwissenschaft, 3 (1984) 1: 99-118; ebda. die öffentliche Kontroverse Sommer/Walter vs. Albrecht: 4 (1985) 1: 198-204.
[6] Stuttgart: Metzler, 1980: 25.
[7] Naumann u.a. 1975²: 35-99; s. auch als allgemeinen handlungsbezogenen Ansatz Klaus Hurrelmann, Das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung; in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 3 (1983): 91-103.
[8] Reinbek 1971, drei Bände: 374, 305, 352 p.
[9] DIE ZEIT 25.10.1974; Netzversion https://www.zeit.de/1974/44/schreibt-der-leser-die-buecher-mit/komplettansicht?print
[10] http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Subjektmarxismus.pdf; https://d-nb.info/1065529066/34; https://de.scribd.com/document/172499072/X-Albrecht-Richard-Subjektmarxismus
Editorische Hinweise
Dr. Richard Albrecht, Sozialwissenschaftsjournalist. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Letzterschienes Buch HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren (2011)Alle Rechte beim Autor (2019)