Corona und der Zwang zu politischen Entscheidungen
Überlegungen von einem medizinischen Laien zu einem gesellschaftlichen Grundsatzproblem

von systemcrash

12/2020

trend
onlinezeitung

Ich habe mich bislang ziemlich aus der Corona-Diskussion herausgehalten, weil ich kein medizinischer Fachmann bin, und schon gar nicht verstehe ich was von Statistik. Den Statistik-Part überlasse ich daher gerne der Replik von TaP (siehe den Artikel von DGS in der Novemberausgabe ). Ich werde mich meinerseits auf die politische Bewertung der Pandemie-Schutzmassnahmen konzentrieren. Es erübrigt sich eigentlich zu erwähnen, dass meine Einschätzung der Gefährlichkeit des Corana-Virus (und die daraus abgeleitete Unterstützung der Schutzmassnahmen nach der AHA-Formel[1]) dabei rein subjektiv ist. Aber dieses Problem dürfte ja mehr oder weniger jeder medizinische Laie haben und selbst die sogenannten 'Experten' sind sich ja nicht einig[2].

Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass ich eine wissenschaftliche Diskussion um die Einschätzung der Gefährlichkeit von Corona und die Bewertung der Schutzmassnahmen für notwendig halte und eine gewisse Hegemonialisierung von 'herrschenden Meinungen' [in den mainstream-Medien] kritisiere. Darum ist von linker Seite eine doppelte Abgrenzung erforderlich: einerseits gegen die 'Querdenker' und die Anhänger der sog. Hygiene-Demos, als auch gegen eine unkritische Übernahme der staatlichen Schutzmassnahmen, die offensichtlich auch in 'linken' Kreisen vorzufinden ist.

Wenn ich aber in einem 'linken' Blog so einen Satz finde:

"Die bisherige Corona-Politik bedeutet praktisch, dass wir uns auf einen permanenten Lockdown einstellen müssten, der je nach „Bedarf“ hoch und runter gefahren wird. Egal, wie wirksam ein solches Vorgehen gegen einen Virus sein mag – es unterminiert letztlich die sozialen und ökonomischen Grundlagen jeder Gesellschaft!" (Aufruhrgebiet: Vor einem neuen Lockdown?) dann frage ich mich doch, warum ausgerechnet die [herrschende] 'bürgerliche Politik' in der BRD ein Interesse an der 'Unterminierung der ökonomischen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft' haben sollte (nebenbei gesagt, würde es einem 'linken' Blog gut anstehen, zumindest zu erwähnen, dass die sozialen und ökonomischen Grundlagen 'kapitalistische' sind; auch wenn die Frage der Systemtransformation alles andere als 'aktuell' zu bezeichnen ist). Fakt ist aber, dass zumindest bislang die bürgerliche Politik den Pandemie-Schutz über wirtschaftliche Erwägungen gestellt hat, auch wenn diese Massnahmen zugestandenermassen nicht immer widerspruchsfrei gewesen sein mögen.

Aufruhrgebiet kritisiert:

"Die Linke tritt korrekt dafür ein, die Corona-Hilfen für die Lohnabhängigen zu verbessern, plädiert aber zugleich für Lockdown-Maßnahmen, die dazu führen, dass die Wertschöpfung ruiniert [sic!!] wird und die (steuerlichen) [sic!!!] Quellen aller Hilfen versiegen. Dieser Unfug nennt sich dann „antikapitalistisch“."

Die Formulierung ist, milde ausgedrückt, doch recht ambivalent. Natürlich sollten Linke nicht dafür plädieren, eine wirtschaftliche Ruinierung zu befördern (das wäre ja auch politisch kontraproduktiv entgegen von existierenden Theorien der 'revolutionären Akzeleration') – aber dies machen ja (und zwar auch in der gegenwärtigen Situation!) gar keine Linken. Andererseits sollten sich Linke aber auch nicht unbedingt Sorgen um eine – klassenneutral formulierte, aber letztlich kapitalistische – 'Wertschöpfung' [sic!!] machen – und zwar schon gar nicht, wenn der bürgerliche Staat [berechtigterweise!] den Gesundheitschutz vor wirtschaftliche Erwägungen stellt (berechtigt insofern, als auch politische und – vor allem – persönliche Freiheitsrechte sich ohne Leben und Gesundheit doch recht stark 'relativieren').

Von daher wäre es tatsächlich die Aufgabe der 'linken' (sofern sie überhaupt ein sichtbarer politischer Faktor sind, - was aus meiner Sicht schon fraglich ist) die staatlichen Schutz-Massnahmen kritisch zu unterstützen, und Inkonsequenzen und 'falsche' [lobbyistische] politisch-ökonomische Rücksichtnahmen anzuprangern.

Die Gefahr, dass Teile der 'radikalen linken' in das Querdenker-Lager abdriften, scheint mir hingegen erfreulicherweise eher gering zu sein. Zu offensichtlich ist die 'Rechtsoffenheit' dieser 'Hygiene-Demos!

Aber kommen wir zurück zu dem aufruhrgebiet-Artikel!

Meines Erachtens scheint es eine Tendenz unter 'linken' zu geben, gewisse 'technizistische' illusionen in der Corona-Frage zu verbreiten. So kritisierte Detlef Georgia Schulze – ebenfalls in der November-Ausgabe von trend – zurecht Peter Nowaks einseitiges Setzen auf ein besseres Gesundheitssystem, das ignoriere, dass es „für viele Menschen angenehmer sein dürfte gar nicht erst infiziert zu werden als im Krankenhaus (eventuell) gerettet zu werden“ (Alles nur Angsthasen, S. 6.

Eine andere Art von Technizismus liegt vor, in der in dem aufruhrgebiet-Artikel vorgebrachten Kritik: "Es lässt auch tief blicken, wenn der Gesundheitsminister gar kein Mediziner ist."

Darin drückt sich ein ziemlich erschütterndes Unverständnis (zumindest für selbsternannte linke) für den Umstand aus, dass politische Entscheidungen und [wissenschaftliche] Expertise (zumindest zunächst einmal) zwei verschiedene Dinge sind. Sicherlich ist es nicht zu bestreiten, dass es für einen Gesundheitsminister nicht verkehrt wäre, auch was von Medizin zu verstehen. Aber GesundheitsministerInnen ‚behandeln‘ nicht Kranke, sondern das Gesundheitssystem. Letzteres ist deren Handlungsgegenstand – darauf bezogen sollten sie Fachwissen haben.

Oder anders gesagt: Für gesundheitspolitische Entscheidungen ist nicht das medizinische Fachwissen entscheidend, sondern gesellschaftliche Faktoren. So heisst es in dem aufruhrgebiet-Artikel ja selbst:

"Die Unterschiede der Auswirkungen von Corona (in den Medien wird fast nur von stärker betroffenen Ländern berichtet) sind wesentlich a) auf das unterschiedliche Reagieren der Regierungen bzw. der Bevölkerung zurückzuführen und b) auf unterschiedliche Bedingungen hinsichtlich der Gesundheitssysteme, des allgemeinen Gesundheitszustands usw. Es sind also v.a. gesellschaftliche Ursachen, welche die Auswirkungen von Covid 19 u.a. Krankheiten verschlimmern." [herv. von mir, systemcrash]

aher lässt die Tatsache, dass der Gesundheitsminister kein Mediziner ist, in gar nix 'tief blicken', ausser in den Verlauf seiner Bildungs- und Erwerbsbiografie.

Corona und die Linke

Auch wenn die politische Situation für die (radikale) linke im Moment alles andere als günstig ist, so ist umso wichtiger, dass sie ihre Alleinstellungsmerkmale bewahrt. Bei aller Notwendigkeit, die Schutzmassnahmen zu unterstützen, so muss man auch wachsam dafür bleiben, dass Gesundheitsschutz und politische Freiheitsrechte auch mal in ein Konfliktverhältnis geraten können.

Sicherlich kann man darüber streiten, ob die Leugnung eines Virus schlimmer als als die Leugnung des Klimawandels (wenn es einen Wettbewerb in Sachen Obskurantismus geben sollte). Allerdings, die Folgen des Klimawandels wird die Generation, der ich ich angehöre, nur (noch) an milderen Temperaturen des Wetters mitkriegen. Aber das Corona-Virus könnte mich als über 60-jährigen mit Asthma als Vorerkrankung auf die Intensiv-Station mit künstlicher Beatmung befördern. Da trage ich dann doch lieber eine Mund-Nase-Maske, auch wenn deren Anwendung nicht ganz unproblematisch sein sollte! Daher freue ich mich, wenn andere Mund-Nase-Maske tragen – und trage sie auch selbst in den gebotenen / beengten Situationen.

In einer Hinsicht muss ich allerdings dem Text absolut recht geben:

"Ein Mehr an wirklicher Kooperation [linker Gruppen] würde häufig genug zeigen, dass die politischen Differenzen zwischen den Gruppen und ihren Ismen bzw. der jeweiligen Variante ihres Ismus genauso große sind wie die innerhalb jeder Gruppe, deren vermeintliche politische Stringenz v.a. dadurch gewahrt bleibt, dass man sich immer nur im eigenen ideologischen Glashaus aufhält und die Kümmerpflanzen darin für die Natur hält." [her. v. mir, systemcrash]

Wie dieses 'Mehr an wirklicher Kooperation' allerdings 'hergestellt' werden kann (unabhängig von der Frage was diese Gruppen zusammenhält – wenn sie doch ‚eigentlich‘ (angeblich) so große interne Differenzen haben), - diese Antwort bleibt uns der Artikel freilich schuldig.

Eigentlich schade.

Anmerkungen:

[1] Abstand halten, Hygiene beachten und Alltagsmaske (Mund-Nasen-Bedeckung) tragen
[2]
„Die Aufgabe des Laien ist es, anhand von einigen Kriterien, die man meint gerade noch beurteilen zu können, die Glaubwürdigkeit dieser Vordenker bzw. Experten einzuschätzen. Wir alle nutzen diese Art des Vorgehens täglich, ohne es zu bemerken.“ (https://www.heise.de/tp/features/Die-Vordenker-der-Querdenker-4950214.html)  

Quelle: Zusendung durch den Autor

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