Der 9. November ist der 25.
Todestag von Holger Meins. Das soll nicht vergessen werden, auch
wenn dieser Tag an noch so viele andere Ereignisse erinnert.
Holger Meins starb an den Folgen eines Hungerstreiks, mit dem die
RAF-Gefangenen die Isolationshaft bekämpfen wollten. Vieles
deutet darauf hin, dass es sich hier um einen "staatlich
kalkulierten Tod" handelte. Der damalige Anwalt von Holger
Meins, Otto Schily, nannte die Isolationshaft "legale
Folter" und "Verwesung bei lebendigem Leib". Dies
geschah zu einer Zeit, in der nicht nur Studenten glaubten, für
die westlichen Gesellschaften gäbe es nur die Alternative
Sozialismus oder Barbarei, und ein neuer Faschismus in Deutschland
sei nur durch revolutionären Kampf zu verhindern. Zu den
damaligen Revolutionären gehörten neben Mitgliedern der RAF auch
viele Menschen, die heute staatstragenden Professionen nachgehen,
u. a. der heutige Außenminister, der heutige Innenminister und
ein bisschen auch der heutige Bundeskanzler. Deren Einschätzung
des "kapitalistischen Unterdrückungszusammenhangs"
unterschied sich damals kaum von den Überzeugungen der RAF. Es
war ein schmaler Grat, der die militanten Revolutionäre von
anderen Linksradikalen trennte. Damals schien es eine notwendige
Folge humanistischen Denkens, sich dem wissenschaftlichen
Sozialismus zu verschreiben und für die revolutionäre Aufhebung
der bürgerlichen Gesellschaft zu kämpfen. Wenn Heiner Müller
nicht nur ironisch sagte "Der Molotowcocktail ist das letzte
bürgerliche Bildungserlebnis", konnte er mit mehr als nur
klammheimlicher Zustimmung rechnen. Heute ist das Geschichte und
ohne politische Relevanz. Die fortschreitende Globalisierung, das
Ende des Ostblocks, der neue Rechtsradikalismus und nicht zuletzt
die Erfahrungen der militanten Bewegungen selbst haben die
damaligen Überzeugungen und Strategien relativiert. Die RAF ist
spätestens nach ihrer Selbstauflösung kein Thema mehr. Und so
kommt es, dass auch die Häftlinge der RAF, die z. T. seit über
20 Jahren im Knast sitzen, aus dem öffentlichen Bewusstsein
verschwunden sind. Man hat sie einfach vergessen. Die ehemaligen
Mitstreiter und Anwälte, die jetzt zu den politischen
Entscheidungsträgern des Staates gehören, schweigen zu diesem
Thema, vielleicht, weil sie nicht an ihre eigene Vergangenheit
erinnert werden wollen. Das führt dazu, dass
Entlassungsverfahren, die in Deutschland jedem
langzeitinhaftierten Kriminellen zustehen und die auch
lebenslänglich Verurteilten nach zwölf oder 15 Jahren die
Freiheit wiedergeben, für diese Häftlinge nicht angewandt
werden. Diese offensichtliche Strafverschärfung für Verbrechen
mit einer moralisch- politischen Motivation entspricht zwar der
marktwirtschaftlichen Denkweise, die nur den privaten Egoismus
gelten lässt, ist aber durch kein Gesetz begründet und
widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz. Die Unterzeichner fordern
die Freilassung der noch einsitzenden Häftlinge der RAF, von
denen viele seit Jahren schwer krank sind. Es ist dies ein Gebot
des Resthumanismus, ohne den auch diese Gesellschaft nicht
existieren kann. Eigentlich ist die Forderung 25 Jahre nach dem
Tod von Holger Meins und in einer völlig veränderten Situation
nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit.
ErstunterzeichnerInnen:
Anna Badora (Generalintendantin, Düsseldorfer Schauspielhaus),
Martin Baucks (Künstlerische Leitung, Kammerspiele des
Deutschen Theaters Berlin), Claudia Bauer (Künstlerische
Leiterin, Theaterhaus Jena), Frank Baumbauer (Intendant,
Deutsches Schauspielhaus Hamburg), Sebastian Baumgarten
(Oberspielleiter Musiktheater Staatstheater Kassel), Thomas
Bischoff (Regisseur, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Berlin), Michael Börgerding (Dramaturg, Schauspielhaus
Hannover), Res Bosshart (Künstler. Leiter, Kampnagel Hamburg),
Frank Castorf (Intendant, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz,
Berlin), Roberto Ciulli (Intendant, Theater an der Ruhr,
Mülheim), Volkmar Clauß (Intendant, Theater der Stadt
Heidelberg), Michael Eberth (Chefdramaturg, Düsseldorfer
Schauspielhaus), Ralf Fiedler (Chefdramaturg, Staatstheater
Kassel), Henning Fülle (Dramaturg, Kampnagel Hamburg), Dietmar
Goergen (Chefdramaturg, Theater der Landeshauptstadt Magdeburg),
Wilhelm Großmann (Programmdirektor Podewil Berlin), Reinhard
Hauff (Leiter Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin),
Leander Haußmann (Intendant, Schauspielhaus Bochum), Carl G.
Hegemann (Dramaturg, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Berlin), Nele Hertling (Intendantin, Hebbel-Theater Berlin),
Jens Hillje (Künstlerische Leitung, Schaubühne am Lehniner
Platz Berlin), Knut Hirche (Intendant, Kammertheater
Neubrandenburg), Max K. Hoffmann (Generatintendant, Theater der
Landeshauptstadt Magdeburg), Gisela Kahl (Chefdramaturgin,
Staatstheater Cottbus), Ulrich Khuon (Intendant, Schauspielhaus
Hannover), Zebu Kluth (Künstlerischer Leiter, Theater am
Halleschen Ufer Berlin), Johann Kresnik (Leiter
Choreographisches Theater an der Volksbühne am
Rosa-Luxemburg-Platz Berlin), Frank Kroll (Chefdramaturg,
Theaterhaus Jena), Jürgen Kruse (Künstler. Leitung,
Schauspielhaus Bochum), Harry Kupfer (Opemdirektor, Komische
Oper Berlin), Thomas Langhoff (Intendant, Deutsches Theater
Berlin), Matthias Lilienthal, Volker Ludwig (Direktion, GRIPS
Theater Berlin), Peter Lund (Künstler. Leiter, Neuköllner Oper
Berlin), Joachim Lux (Dramaturg, Burgtheater Wien), Paula
Bettina Mader (Intendantin, Thalia Theater Halle), Eva-Maria
Magdon (Dramaturgin, Ukkermärkische Bühnen Schwedt), Christoph
Marthaler, Ingo Metzmacher (Musikalische Leitung, Hamburgische
Staatsoper), Heike Müller-Merten (Chefdramaturgin,
Staatsschauspiel Dresden), Bert Neumann (Chefbühnenbildner,
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin), Christoph Nix
(Intendant, Staatstheater Kassel), Andreas Oberbach (Stellv. des
Intendanten, Theater Heilbronn), Piet Oltmanns (Chefdramaturg,
Vorpommersche Landesbühne Anklam), Thomas Ostermeier
(Künstlerische Leitung, Schaubühne am Lehniner Platz Berlin),
Stefan Otteni (Künstlerische Leitung, Kammerspiele des
Deutschen Theaters Berlin), Matthias Pees (Dramaturg,
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin), Armin Petras
(Schauspieldirektor, Staatstheater Kassel), Michael Propfe
(Stellv. Intendant, Schauspiel Staatstheater Stuttgart), Michael
Raabe (Künstler. Betriebsdirektor, Volksbühne am
Rosa-Luxemburg-Platz Berlin), Oliver Reese (Chefdramaturg, Maxim
Gorki Theater Berlin), Roman Rösener (Geschäftsführer,
Theaterhaus Jena), Jochen Sandig (Künstlerische Leitung,
Schaubühne am Lehniner Platz Berlin), Friedrich Schirmer
(Intendant, Schauspiel Staatstheater Stuttgart), Christoph
Schlingensief (Regisseur, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Berlin), Manuel Schöbel (Intendant, carrousel Theater Berlin),
Udo Schoen (Intendant, Theater der Stadt Aalen), Christoph
Schroth (Intendant, Staatstheater Cottbus), Nils Steinkrauss
(Dramaturg, Neuköllner Oper Berlin), Klaus Stephan (Intendant
Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau), Reinhold Stövesand
(Intendant, Mitteldeutsches Landestheater Wittenberg), Marion
Tiedtke (Dramaturgin, Burgtheater Wien), Sasha Waltz
(Künstlerische Leitung, Schaubühne am Lehniner Platz Berlin),
Martin Vöhringer (Dramaturg, Theater der Stadt Aalen), Knut
Weber (Intendant Landestheater Württemberg-Hohenzollern
Tübingen), Wolfgang Wiens (Dramaturg, Burgtheater Wen), Bernd
Wilms (Intendant, Maxim Gorki Theater Berlin), Hermann Wündrich
(Dramaturg, Schauspiel Bonn), Udo Zimmermann (Intendant, Oper
Leipzig)
Wer diesen Aufruf unterstützen will, sollte
eine entsprechende Mitteilung
an folgende Adresse senden: Libertad! (Berlin), Yorckstr. 59, 10965 Berlin, Fax:
030/78899902.
Quelle: ak - analyse
& kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis Nr. 433 /
16.12.1999.
|