Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

5/6-12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Irgendwie revolutionär mit Selbstermächtigung
Eine Antwort von Frank Braun  auf den Avanti-Brief zum Thema ‚naO’
(1)

Liebe Avanti-GenossInnen,

ich bin aktiv u.a. in der Sozialistischen Kooperation (SoKo) und als strömungs-übergreifendes Kollektiv unterstützen wir die naO-Idee und den von der SIB angestoßenen Prozeß.

Eure Gedanken dazu habe ich aufmerksam gelesen und empfand Zufriedenheit über Euren solidarischen Umgangston - gleichwohl auch Verwirrung über einige strategischen Aspekte in Eurem Antwortschreiben(2) .

Die Hoffnungen, die Ihr im Zusammenhang mit der IL zum Ausdruck bringt, kann ich so kaum nachvollziehen. Zumal Euer eigener Anspruch recht hoch ist, wenn Ihr formuliert: „Wir verstehen uns als Projekt mit dem Hauptziel des Aufbaus einer bundesweiten revolutionären Organisation.“

Denn immerhin sind ja schon gut vier Jahre verstrichen, seitdem sich hierzulande in 2007 zwei Projekte aufmachten, in denen sich einige Tausend Linke für eine antikapitalistische Perspektive zusammentaten. Eines davon war/ist die IL, das andere war/ist die Partei DIE LINKE (PDL).

Niemand kann guten Gewissens behaupten, daß die Situation für AntikapitalistInnen heute günstiger ist als seinerzeit, obwohl unsere Gegner einige nennenswerte Legitimationsprobleme plagen. Scheinbar arbeitsteilig segelten und segeln die beiden Strukturen nebeneinander her. Die einen, die PDL, hauptsächlich irgendwie links-parlamentarisch orientiert. Die anderen, die IL inkl. Avanti, ohne erkennbare strategische Zielstellung von Kampagne zu Kampagne hangelnd, hauptsächlich irgendwie links-außerparlamentarisch orientiert - beide aber doch offenbar mit negativer Bilanz.

Die parlamentarische Orientierung machte und macht aus der PDL eine kaum profiliertere Variante von Sozialdemokratie – sie scheint gemächlich dahin zu implodieren. Aber auch das event-hopping der IL vermittelt trotz ‚Schottern ist Handarbeit’ den Leuten keinen Vorschlag für eine Alternative zum real-existierenden Kapitalismus und auch nicht, wie man es strategisch und taktisch dahin schaffen kann. Die von Euch aufgeführten Kampagnen von Heiligendamm bis Dresden, an deren gewissermaßen operativ erfolgreiches Gelingen gerade Ihr Avantis einen großen Anteil hattet, krankten unter strategischen Gesichtspunkten allesamt zudem an einem Makel von Selbstreferenzialität, dem Schmoren im eigenen Saft.

Und auch programmatisch ist aus der IL kein antikapitalistisches Projekt geworden. Nichts dergleichen ist zu vernehmen. Wenn aber aus der IL schon nicht wenigstens ansatzweise ein programmatisch und theoretisch antikapitalistisches Projekt wurde, ist dann - rein interventionistisch gesehen, also auf der Ebene praktischer Sozialkritik – wenigstens ein nennenswerter dynamischer gesellschaftlicher Impuls zugunsten der IL zu verzeichnen ? Dazu hört man von Euch nichts Konkretes. Lediglich eine Hoffnung bringt Ihr zum Ausdruck: „Bei allen Problemen, welche die IL kennzeichnen, denken wir doch, dass die IL die Chance einer handlungsfähigen und im wahrsten Sinne „bewegenden“ Organisation hat.“

„Hauptziel bundesweite revolutionäre Organisation“...

..., so schreibt Ihr. Das mit dem Hauptziel paßt ja. Auch die naO-Initiative will das am Ende schaffen. Ihr schreibt weiter: „Der wesentliche und wahrscheinlich auch grundlegende Unterschied zwischen unserer Herangehensweise und der, die sich mit dem Diskussionsprozess zur Neuen Antikapitalistischen Organisation präsentiert, ist unsere Praxisbezogenheit. Wir können und wollen weder die potentiellen Diskussions- bzw. Organisationspartner auf theoretischer Ebene bestimmen, noch die Inhalte der Organisation zuerst en detail festlegen, und uns auf dieser Ebene zusammenschließen.“

Nun, die fünf Essentials(3) , auf die sich im NaO-Prozeß alle Beteiligten nach einem gediegenen Verständigungsprozeß vereinbaren sollen, als „en detail“ zu kennzeichnen, ist schon etwas sehr übertrieben. Hinter diesen Essentials verbergen sich zwar Ausschlußkriterien gegenüber ‚Kapitalismus-Zähmern’ nicht aber gegenüber ‚Kapitalismus-Abschaffern’! Und es heißt im genannten Papier der SIB lapidar: „Über alles andere müssen wir reden.“

Was bitte, ist daran „en detail“?

Und so richtig genau scheint Ihr das angesprochene Papier in puncto Parlamentarismus und Bedeutung von Wahlen darin auch nicht gedeutet zu haben. Gerade weil v.a. die PDL als ideelle Gesamtsozialdemokratie inkl. Staatsräsön, Mitwirken am Krisenmanagement, Kritik an ‚Profitdominanz’ und Brosamensozialismus nicht Fokus eines antikapitalistischen Attraktionspols ist, gerade weil aber andererseits solch ein autonomer Pol für diesen Teil der Linken unbedingt benötigt wird, wider allem Entrismus-Quark, ist so eine naO-Initiative erforderlich. Ich wiederhole zitierend: „Über alles andere müssen wir reden.“

Revolutionäre Organisation: Wofür, wogegen?

In Eurem Schreiben ist von Eurem Plan die Rede, am Aufbau einer „undogmatischen revolutionären Organisation“ mitwirken zu wollen, möglichst im Zusammenhang mit der IL und, im Falle des Scheiterns dieses Projekts, auch als Avanti allein. Ist es ein Zufall, daß Ihr die Qualität dieser anzustrebenden Organisation lediglich mit ‚undogmatische Linke’ qualifizieren möchtet ? Glaubt Ihr, das reicht?

Einige Male habe ich AktivistInnen der IL sozusagen sinnlich erlebt und zuletzt ist mir im Zusammenhang mit den Besprechungen im Vorfeld der Demos und Aktionen in Frankfurt/M. berichtet worden, daß diese GenossInnen praktisch nicht gerade zu den überzeugenden und auch nicht zu den schärfsten KritikerInnen des kapitalistischen Krisenmanagements a la Troika gehören, sondern eher zu denjenigen, die systematische Kritik eher unterbelichtet lassen wollten (4). Eben eher in der milden Form von Kritik gegen die Macht von Banken. Ist es ein Zufall, daß in dem von Euch mitgetragenen Aufruf zu den ‚Maifestspielen’(5) die Kritik an der ausgesprochen kapitalistischen ‚Lösung’ der sozialen und ökologischen Probleme der Zeit vollständig unterbleibt?

Gesetzt den nicht unwahrscheinlichen Fall, liebe Avanti-GenossInnen, daß uns BdA und BdI und ihre wie auch immer zusammengesetzte Regierung, daß uns die deutsche Kapitalistenklasse qua fortgesetztem Krisenmanagement nicht nur einen verschärften deutschen Chauvinismus gegenüber den Südeuropäern, sondern auch weitere neue soziale Grausamkeiten beschert - mit Zuckerbrot und Peitsche gegenüber den Lohnabhängigen, mit Gentrifizierung der Städte, mit geplanter Würdelosigkeit im Alter etc. Könnt Ihr diese Erscheinungsformen anders interpretieren als solche einer Waren produzierenden Gesellschaft, deren Maßstab der Tauschwert und dessen Realisierung ist, deren kapitalistische Produktionsverhältnisse mehr und mehr zum gesellschaftlichen Hemmnis werden, wo gesellschaftlich produziert aber privat verfügt wird, wo die Art politisch zu verwalten, also parlamentarisch-repräsentativ, viel zu viele ausschließt, die auch Interessen haben und diese berücksichtigt sehen wollen ?

Wie wollt ihr das als Avanti oder auch als IL darstellen, wenn Ihr Euch heute nicht zwischen pro oder kontra Kapitalismus entscheiden wollt - in Theorie, in alltäglicher Praxis und ausdrücklich programmatisch? Ist da nicht ‚Selbstermächtigung’, wovon in Eurem Papier die Rede ist, als Impuls widerständiger Aktivität und quasi strategische Option eine viel zu windige Instanz, um diesen Kapitalismus systematisch bekämpfen zu können? Ist es nicht ferner so, daß auch etliche aus der IL diese Leerstelle inzwischen empfinden und sich als antikapitalistische Linke eher einen theoretischen und programmatischen Konsens in diese Richtung wünschen ?

Was liegt da näher, als gemeinsame und verbindliche Anstrengungen für die Erarbeitung von Antworten auf diese und andere Fragen zu unternehmen? Wie gesagt: Über alles andere müssen wir reden...

Solidarische Grüße
Frank Braun, Köln

Anmerkungen

1) Auf Initiative der Sozialistischen Initiative Berlin (SIB) wurde die Gruppe Avanti zu einer Stellungnahme hinsichtlich dem von SIB u.a. Gruppen befürworteten Prozeß für eine ‚neue antikapitalistische Organisation (naO)’ gebeten. Nach einiger Zeit, im März 2012, gab es einen Brief der Avantis an die SIB. Dieser Brief ist Grundlage meiner Einlassung.

2) Ich habe dazu auch das Avanti-Grundsatzprogramm von 2006 noch einmal gelesen und entdecke zwischen ihm und dem Antwortschreiben an die SIB einige Unterschiede.

3) Im SIB-Papier vom März 2011,worauf die Avantis antworten, lauteten die Essentials: Konzept des revolutionären Bruchs, keine Mitverwaltung der kapitalistischen Krise, Klassenorientierung, Einheitsfront-Methode, (eine gewisse) organisatorische Verbindlichkeit

4) Siehe dazu der Kommentar eine/r IL-Sympathisanten/in, der/die im ak 570 unter der Zwischenüberschrift ‚Schwammig ist richtig!’ nolens-volens seinen/ihren Teil zur strategischen Unterbelichtung beitragen möchte; vgl. dazu unter http://www.akweb.de/ak_s/ak570/44.htm

5) Vgl. dazu unter http://www.avanti-projekt.de/news/blockupy-frankfurt

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Stellungnahme vom Autor. Erstveröffentlicht wurde sie bei Scharf-Links. Dort fehlen die Anmerkungen des Autors.