Tunesien
Neue Bedrohungen für Meinungsfreiheit. Hartes Gerichtsurteil gegen bekennende Atheisten

von Bernard Schmid

5/6-12

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Siebeneinhalb Jahre Haft und 1.200 tunesische Dinar – umgerechnet rund 600 Euro – Geldstrafe für zwei 28jährige, deren „Schuld“ in der Veröffentlichung von Texten und Karikaturen besteht. Um die Freiheit der Meinungsäußerung ist es im „neuen Tunesien“ nach dem Ende der Ben Ali-Diktatur offenkundig noch immer, gelinde ausgedrückt, nicht zum Besten bestellt.

In dem neuen Fall tritt jedoch die Besonderheit hinzu, dass die verfolgten Meinungsäußerungen mit Atheismus und Religionskritik in Verbindung gebracht werden. Und dies in einem politischen und gesellschaftlichen Klima, das von einem wachsenden Druck aus islamistischen Kreisen geprägt ist. Auch wenn die tunesische Regierungspartei En-Nahda - die islamistische Bewegung ist die stärkste der Koalitionsparteien - am 25. März anlässlich einer Vorstandssitzung entschieden hat, auf das Vorhaben zu verzichten, die Scharia in die derzeit verhandelte neue Verfassung des Landes aufzunehmen. Stattdessen will die Regierung nun einfach den seit 1958 in der Verfassung stehenden Artikel Eins beibehalten, der besagt: „Tunesien ist ein souveräner, freier und unabhängiger Staat, der Islam ist seine Religion und Arabisch seine Sprache.“ Unter dem damaligen Präsidenten Habib Bourguiba war dies eine Kompromissformulierung, die einen stärkeren Einfluss der Religion auf die Politik damals eher unterbinden sollten. Aber heute könnte es anders ausgelegt werden.

Das Ende März dieses Jahres in der Küstenstadt Mahdia ergangene erstinstanzliche Urteil belegt, dass – auch ohne Scharia - andere Texte und juristische Instrumente dazu dienen können, Abweichlern ein so genanntes „gesundes Sittenempfinden“ notfalls auch mit staatlichen Sanktionen aufzuzwingen.

Das Urteil, das gegen die beiden jungen Männer, Ghazi el-Béji – in Abwesenheit – und Jaber el-Majri erging, beruht auf Gesetzesartikeln aus der Ära der alten Diktatur. Diese sind jedoch hinreichend schwammig formuliert, um unterschiedlichen politischen und ideologischen Zwecken dienen zu können. Zu je fünf Jahren wurden die beiden nach dem tunesischen Telekommunikationsgesetz wegen „Verbreitung von Publikationen und Schriften, die die öffentliche Ordnung beeinträchtigen und gegen die Moral verstoßen“, verurteilt. Diese gesetzliche Bestimmung, die vordergründig technisch wirken soll – da im Gesetz über Telekommunikationsmittel verankert -, diente unter dem alten Regime quasi ausschließlich der Strafverfolgung politischer Kritiker und Gegner. Nach diesen Regeln wurden etwa der Literaturprofessor und Chef der „Kommunistischen Werktätigenpartei Tunesiens“ (PCOT), Hamma Hamami – zu über neun Jahren -, der Rechtanwalt Mohamed Abdou wegen seiner Kritik an Folterpraktiken zu dreieinhalb Jahren, oder der Journalist Taoufik Ben Brik bei mehreren Anlässen verurteilt.

Weiter je zwei Jahre Haft kamen noch wegen „Schädigung von Dritten durch Nutzung der Telekommunikationsmittel“, und je sechs Monate Haft wegen „Verstoßes gegen die Moral in Wort und Schrift“ hinzu.

Hinter der „Drittschädigung“ verbirgt sich das Wirken eines Anwalts, Foued Cheikh Al-Zouali, aus der Stadt Madhia. Er hatte am 2. März dieses Jahres Strafanzeige bei Gericht erstattet, angeblich auf Beschwerden von „einfachen Bürgern“ hin, nachdem er Karikaturen auf der Facebookseite des jungen Englischlehrers Jaber el-Mejri erblickt hatte. Al-Zouali erklärte zwar gegenüber Journalisten, er habe keineswegs gegen Meinungsdelikte vorgehen wollen – die beiden jungen Männer könnten seinetwegen „denken, was sie wollen“ - , sondern nur gegen „die Verletzung der Gefühle von Anderen durch aktive Handlungen“. Insbesondere meinte er damit offenbar sich selbst, denn laut dem bekannten tunesischen Webblog Nawaat erklärte der Anwalt, er sei durch das Ansehen der Karikaturen „erniedrigt“ worden und habe „psychologischen Schaden“ davongetragen. Al-Zouali erklärte der örtlichen Polizei aber auch, die beiden jungen Männer seien Atheisten, und was sie getan hätten, sei – so wörtlich - „schlimmer als Mord“. Dies drückt eine ziemlich klare Wertehierarchie aus. Die Polizeibeamten notierten daraufhin in ihre Akten, zur Beschreibung der Strafsache: „Anzweifeln der Existenz Gottes, Anzweifeln der Existenz einer Religion namens Islam, Anzweifeln der Existenz des Propheten Mohammed, unter Hinzufügen von Beweisen für den Zweifel durch den Autor.“

Am 28. März 12 fällte das örtliche Gericht dann sein Urteil. Bis die Nachricht darüber in breiteren Kreisen bekannt wurde, vergingen noch mehrere Tage. Eine Reihe von Beobachtern notierten, seit dem Antritt der Regierungskoalition unter führender Beteiligung von En-Nahda seien derart viele Kritiken und düstere Prophezeiungen in den – mehrheitlich gegen die Islamistenpartei eingestellten – Medien erschienen, wahre und falsche, dass man zunächst an ein Gerücht unter vielen geglaubt habe. Erst nach Wochenfrist habe sich herausgestellt, dass die Information über das ergangene Urteil wirklich zutraf.

Was aber wurde den beiden jungen Männern konkret vorgeworfen? Dass sie Atheisten sind, bestreiten El-Béji und El-Majri nicht, vielmehr bekannten sie sich seit langem dazu. Auch auf die Gefahr hin, Ärger mit Arbeitskollegen – der in seinem Ausbildungsberuf arbeitslose Biochemiker El-Béji hatte einen Job bei den Verkehrsbetrieben von Tunis – zu bekommen oder in ständige Diskussionen verwickelt zu werden. Im März 2011 hatte El-Béji, laut eigenen Worten in der Überzeugung, nach der Revolution gegen das Ben Ali-Regime sei nun eine neue Ära der Diskussionsfreiheit angebrochen, ein kleines Buch unter dem Titel „Die Illusion des Islam“ verfasst und in seiner Umgebung kreisen lassen. Er stellte die Schrift auch ins Internet.

Der seinerseits erwerbslose El-Majri machte wiederum im Netz seinen Frustrationen über seine soziale Situation Luft. Um Dampf abzulassen, und sicherlich auch auf der Suche nach einer symbolischen „Provokation“, die möglichst viel von sich reden machen sollte, stellte er Zeichnungen und Kommentare auf seine Facebookseite. Dort konnte man etwa eine Schweinsfigur auf der Kaaba in Mekka thronen sehen. Wohl in der Erwartung, dass dies Aufsehen erregen werde, fügte er auch hinzu, er „schwöre nur auf die jüdische Religion“, er „liebe Israel und seinen Premierminister Benjamin Netanyahu“. Inhaltlich handelt es sich dabei weniger um eine in der Sache ernst zu nehmende Position (die vom Inhalt her auch reichlich irre wäre), sondern um eine Form von ultimativer Provokation – kurz, um Punk.

Nicht nur der Anwalt Al-Zouali und die Staatsorgane wurden daraufhin aktiv. Es kam auch zu Morddrohungen von ortsansässigen Salafisten. Diese besonders radikale Strömung des politischen Islam machte in Tunesien in den letzten Monaten stellt zwar eine Minderheit dar – die Zahl ihrer aktiven Anhänger wird auf knapp 10.000 geschätzt, und anders als in Ägypten werden sie nicht durch eine auch bei Wahlen erfolgreich abschneidende Partei vertreten -, üben aber sehr viel Druck aus. An der Universität von Al-Manouba in der Nähe von Tunesien terrorisierten Salafisten Monate lang Lehrpersonal, um die Trennung von männlichen und weiblichen Studierenden sowie die Genehmigung der bislang an Hochschulen verbotenen Vollverschleierung durchzusetzen. Im Falle der prominent gewordenen Atheisten von Madhia erklärte der salafistische Prediger Sheikh Wannasse zwar gegenüber der Webseite Nawaat, er und seine Leute hätten die beiden nicht bedroht. Er fügte aber unmittelbar darauf hinzu, man könne „Muslime, die in ihrem Heiligsten berührt worden sind, nicht dafür kritisieren, wenn sie heftig reagieren“. Es klang wie eine offene Rechtfertigung der Drohungen.

Als Erster wurde El-Majri wegen der Veröffentlichungen auf seiner Webseite verhaftet. Polizisten öffneten die Seite während der Vernehmungen vor ihm. Den Angaben seines Freundes Ghazi El-Béji zufolge wurde er auch gefoltert. El-Béji selbst entschloss sich daraufhin zur Flucht, um nach eigenen Worten einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Er ging zunächst über die Grenze ins Nachbarland Libyen, wo aber die allgemeine Situation von Unsicherheit und Chaos geprägt ist. Kurz darauf wich er nach Algerien aus, wo Angehörige ihm etwas Geld schicken konnten, während die von ihm kontaktieren Vereinten Nationen nicht für ihn aktiv wurden. Er stieg darauf in ein Flugzeug in die Türkei und schwamm über den Grenzfluss Evros nach Griechenland. Sein Ziel war die Einreise in die EU, um zu einer in Frankreich lebenden Tante zu gehen. Den bisher letzten verfügbaren Informationen zufolge saß er jedoch als „illegaler Einwanderer“ in Griechenland fest und lebte dort in einem besetzten Haus zusammen mit algerischen Migranten.

Salafisten werden bedrohlich

Insbesondere der von Salafisten ausgehende Druck ist in den letzten Monaten in Tunesien stark gewachsen. Ende März schafften diese es, rund 8.000 Menschen zu einer Demonstration für die Einführung der Scharia und einen „islamischen Staat“ zu mobilisieren. Zuvor waren im Februar, während eines Streiks der Beschäftigten der kommunalen Müllabfuhren, ein halbes Dutzend Gewerkschaftsbüros der UGTT durch hauptsächlich salafistische „milizähnliche Gruppen“, wie Kritiker sie inzwischen bezeichnen, angegriffen worden. In einigen Fällen waren die Autokennzeichen der Angreifer identifiziert worden, doch die Polizei blieb weitestgehend untätig. Die Angriffe auf die UGTT lösten allerdings die erste größere Demonstration in Tunis aus, bei der offen der Abtritt der neuen Regierung gefordert wurde.

Die weiche Haltung der Behörden gegenüber den bedrohlichen Auftritten der Salafisten brachte die Regierungspartei En-Nahdha zunehmend ins Gerede. Ihr Parteichef Rachid Ghannouchi kündigte daraufhin Anfang April 12 in den französischen Zeitungen Le Monde und Le Figaro an, es stünden Zusammenstöße bevor und die Zeit der Geduld sei vorbei. Bis dahin hatte die Regierungspartei – in der es mehrere Flügel gibt, von denen jedoch mindestens einer mit den Salafisten in Verbindung steht – sich darauf berufen, sie wolle nicht Polizeieinsätze gegen die Unruhestifter provozieren, „um nicht Erinnerungen an die dunkle Ära der Polizeigewalt unter Ben Ali zu wecken“. Allerdings fiel die Reaktion der Polizei völlig anders aus, als am Montag vergangener Woche (= BEI ERSCHEINEN, also an diesem Ostermontag) laizistische Oppositionelle aus Anlass des „Tags der Märtyrer“ demonstriert. Dieser Gedenktag erinnert an 1939 durch die französische Kolonialmacht getötete Protestierer, doch in diesem Jahr ging es auch darum, staatliche Hilfen für die bei der Revolution 2010/11 Verletzten sowie die Hinterbliebenen von getöteten Demonstranten zu fordern .Dieses Mal kam es zu einer Orgie der Polizeigewalt, wofür die offizielle Begründung lautet, die Avenue Bourgiba im Zentrum von Tunis sei für Demonstrationen nicht freigegeben gewesen. Auch Journalisten wurden verletzt, darunter auch die ausländische Korrespondentin Julie Schneider, die über ihre Misshandlung durch Polizisten ausführlich berichtet hat. Seitdem ist erstmals eine breitere Diskussion über die Pressefreiheit dabei, in die Gänge zu kommen.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.