Siebeneinhalb Jahre Haft und 1.200
tunesische Dinar – umgerechnet rund 600 Euro –
Geldstrafe für zwei 28jährige, deren „Schuld“ in der
Veröffentlichung von Texten und Karikaturen besteht.
Um die Freiheit der Meinungsäußerung ist es im „neuen
Tunesien“ nach dem Ende der Ben Ali-Diktatur
offenkundig noch immer, gelinde ausgedrückt, nicht zum
Besten bestellt.
In dem neuen Fall tritt jedoch die
Besonderheit hinzu, dass die verfolgten
Meinungsäußerungen mit Atheismus und Religionskritik in
Verbindung gebracht werden. Und dies in einem
politischen und gesellschaftlichen Klima, das von einem
wachsenden Druck aus islamistischen Kreisen geprägt ist.
Auch wenn die tunesische Regierungspartei En-Nahda - die
islamistische Bewegung ist die stärkste der
Koalitionsparteien - am 25. März anlässlich einer
Vorstandssitzung entschieden hat, auf das Vorhaben zu
verzichten, die Scharia in die derzeit verhandelte neue
Verfassung des Landes aufzunehmen. Stattdessen will die
Regierung nun einfach den seit 1958 in der Verfassung
stehenden Artikel Eins beibehalten, der besagt:
„Tunesien ist ein souveräner, freier und unabhängiger
Staat, der Islam ist seine Religion und Arabisch seine
Sprache.“ Unter dem damaligen Präsidenten Habib
Bourguiba war dies eine Kompromissformulierung, die
einen stärkeren Einfluss der Religion auf die Politik
damals eher unterbinden sollten. Aber heute könnte es
anders ausgelegt werden.
Das Ende März dieses Jahres in der
Küstenstadt Mahdia ergangene erstinstanzliche Urteil
belegt, dass – auch ohne Scharia - andere Texte und
juristische Instrumente dazu dienen können, Abweichlern
ein so genanntes „gesundes Sittenempfinden“ notfalls
auch mit staatlichen Sanktionen aufzuzwingen.
Das Urteil, das gegen die beiden
jungen Männer, Ghazi el-Béji – in Abwesenheit – und
Jaber el-Majri erging, beruht auf Gesetzesartikeln aus
der Ära der alten Diktatur. Diese sind jedoch
hinreichend schwammig formuliert, um unterschiedlichen
politischen und ideologischen Zwecken dienen zu können.
Zu je fünf Jahren wurden die beiden nach dem tunesischen
Telekommunikationsgesetz wegen „Verbreitung von
Publikationen und Schriften, die die öffentliche Ordnung
beeinträchtigen und gegen die Moral verstoßen“,
verurteilt. Diese gesetzliche Bestimmung, die
vordergründig technisch wirken soll – da im Gesetz über
Telekommunikationsmittel verankert -, diente unter dem
alten Regime quasi ausschließlich der Strafverfolgung
politischer Kritiker und Gegner. Nach diesen Regeln
wurden etwa der Literaturprofessor und Chef der
„Kommunistischen Werktätigenpartei Tunesiens“ (PCOT),
Hamma Hamami – zu über neun Jahren -, der Rechtanwalt
Mohamed Abdou wegen seiner Kritik an Folterpraktiken zu
dreieinhalb Jahren, oder der Journalist Taoufik Ben Brik
bei mehreren Anlässen verurteilt.
Weiter je zwei Jahre Haft kamen noch
wegen „Schädigung von Dritten durch Nutzung der
Telekommunikationsmittel“, und je sechs Monate Haft
wegen „Verstoßes gegen die Moral in Wort und Schrift“
hinzu.
Hinter der „Drittschädigung“ verbirgt
sich das Wirken eines Anwalts, Foued Cheikh Al-Zouali,
aus der Stadt Madhia. Er hatte am 2. März dieses Jahres
Strafanzeige bei Gericht erstattet, angeblich auf
Beschwerden von „einfachen Bürgern“ hin, nachdem er
Karikaturen auf der Facebookseite des jungen
Englischlehrers Jaber el-Mejri erblickt hatte. Al-Zouali
erklärte zwar gegenüber Journalisten, er habe keineswegs
gegen Meinungsdelikte vorgehen wollen – die beiden
jungen Männer könnten seinetwegen „denken, was sie
wollen“ - , sondern nur gegen „die Verletzung der
Gefühle von Anderen durch aktive Handlungen“.
Insbesondere meinte er damit offenbar sich selbst, denn
laut dem bekannten tunesischen Webblog Nawaat erklärte
der Anwalt, er sei durch das Ansehen der Karikaturen
„erniedrigt“ worden und habe „psychologischen Schaden“
davongetragen. Al-Zouali erklärte der örtlichen Polizei
aber auch, die beiden jungen Männer seien Atheisten, und
was sie getan hätten, sei – so wörtlich - „schlimmer als
Mord“. Dies drückt eine ziemlich klare Wertehierarchie
aus. Die Polizeibeamten notierten daraufhin in ihre
Akten, zur Beschreibung der Strafsache: „Anzweifeln der
Existenz Gottes, Anzweifeln der Existenz einer Religion
namens Islam, Anzweifeln der Existenz des Propheten
Mohammed, unter Hinzufügen von Beweisen für den Zweifel
durch den Autor.“
Am 28. März 12 fällte das örtliche
Gericht dann sein Urteil. Bis die Nachricht darüber in
breiteren Kreisen bekannt wurde, vergingen noch mehrere
Tage. Eine Reihe von Beobachtern notierten, seit dem
Antritt der Regierungskoalition unter führender
Beteiligung von En-Nahda seien derart viele Kritiken und
düstere Prophezeiungen in den – mehrheitlich gegen die
Islamistenpartei eingestellten – Medien erschienen,
wahre und falsche, dass man zunächst an ein Gerücht
unter vielen geglaubt habe. Erst nach Wochenfrist habe
sich herausgestellt, dass die Information über das
ergangene Urteil wirklich zutraf.
Was aber wurde
den beiden jungen Männern konkret vorgeworfen? Dass sie
Atheisten sind, bestreiten El-Béji und El-Majri nicht,
vielmehr bekannten sie sich seit langem dazu. Auch auf
die Gefahr hin, Ärger mit Arbeitskollegen – der in
seinem Ausbildungsberuf arbeitslose Biochemiker El-Béji
hatte einen Job bei den Verkehrsbetrieben von Tunis – zu
bekommen oder in ständige Diskussionen verwickelt zu
werden. Im März 2011 hatte El-Béji, laut eigenen Worten
in der Überzeugung, nach der Revolution gegen das Ben
Ali-Regime sei nun eine neue Ära der Diskussionsfreiheit
angebrochen, ein kleines Buch unter dem Titel „Die
Illusion des Islam“ verfasst und in seiner Umgebung
kreisen lassen. Er stellte die Schrift auch ins
Internet.
Der seinerseits erwerbslose El-Majri
machte wiederum im Netz seinen Frustrationen über seine
soziale Situation Luft. Um Dampf abzulassen, und
sicherlich auch auf der Suche nach einer symbolischen
„Provokation“, die möglichst viel von sich reden machen
sollte, stellte er Zeichnungen und Kommentare auf seine
Facebookseite. Dort konnte man etwa eine Schweinsfigur
auf der Kaaba in Mekka thronen sehen. Wohl in der
Erwartung, dass dies Aufsehen erregen werde, fügte er
auch hinzu, er „schwöre nur auf die jüdische Religion“,
er „liebe Israel und seinen Premierminister Benjamin
Netanyahu“. Inhaltlich handelt es sich dabei weniger um
eine in der Sache ernst zu nehmende Position (die vom
Inhalt her auch reichlich irre wäre), sondern um eine
Form von ultimativer Provokation – kurz, um Punk.
Nicht nur der Anwalt Al-Zouali und
die Staatsorgane wurden daraufhin aktiv. Es kam auch zu
Morddrohungen von ortsansässigen Salafisten. Diese
besonders radikale Strömung des politischen Islam machte
in Tunesien in den letzten Monaten stellt zwar eine
Minderheit dar – die Zahl ihrer aktiven Anhänger wird
auf knapp 10.000 geschätzt, und anders als in Ägypten
werden sie nicht durch eine auch bei Wahlen erfolgreich
abschneidende Partei vertreten -, üben aber sehr viel
Druck aus. An der Universität von Al-Manouba in der Nähe
von Tunesien terrorisierten Salafisten Monate lang
Lehrpersonal, um die Trennung von männlichen und
weiblichen Studierenden sowie die Genehmigung der
bislang an Hochschulen verbotenen Vollverschleierung
durchzusetzen. Im Falle der prominent gewordenen
Atheisten von Madhia erklärte der salafistische Prediger
Sheikh Wannasse zwar gegenüber der Webseite Nawaat, er
und seine Leute hätten die beiden nicht bedroht. Er
fügte aber unmittelbar darauf hinzu, man könne „Muslime,
die in ihrem Heiligsten berührt worden sind, nicht dafür
kritisieren, wenn sie heftig reagieren“. Es klang wie
eine offene Rechtfertigung der Drohungen.
Als Erster wurde El-Majri wegen der
Veröffentlichungen auf seiner Webseite verhaftet.
Polizisten öffneten die Seite während der Vernehmungen
vor ihm. Den Angaben seines Freundes Ghazi El-Béji
zufolge wurde er auch gefoltert. El-Béji selbst
entschloss sich daraufhin zur Flucht, um nach eigenen
Worten einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Er ging
zunächst über die Grenze ins Nachbarland Libyen, wo aber
die allgemeine Situation von Unsicherheit und Chaos
geprägt ist. Kurz darauf wich er nach Algerien aus, wo
Angehörige ihm etwas Geld schicken konnten, während die
von ihm kontaktieren Vereinten Nationen nicht für ihn
aktiv wurden. Er stieg darauf in ein Flugzeug in die
Türkei und schwamm über den Grenzfluss Evros nach
Griechenland. Sein Ziel war die Einreise in die EU, um
zu einer in Frankreich lebenden Tante zu gehen. Den
bisher letzten verfügbaren Informationen zufolge saß er
jedoch als „illegaler Einwanderer“ in Griechenland fest
und lebte dort in einem besetzten Haus zusammen mit
algerischen Migranten.
Salafisten
werden bedrohlich
Insbesondere der von Salafisten
ausgehende Druck ist in den letzten Monaten in Tunesien
stark gewachsen. Ende März schafften diese es, rund
8.000 Menschen zu einer Demonstration für die Einführung
der Scharia und einen „islamischen Staat“ zu
mobilisieren. Zuvor waren im Februar, während eines
Streiks der Beschäftigten der kommunalen Müllabfuhren,
ein halbes Dutzend Gewerkschaftsbüros der UGTT durch
hauptsächlich salafistische „milizähnliche Gruppen“, wie
Kritiker sie inzwischen bezeichnen, angegriffen worden.
In einigen Fällen waren die Autokennzeichen der
Angreifer identifiziert worden, doch die Polizei blieb
weitestgehend untätig. Die Angriffe auf die UGTT lösten
allerdings die erste größere Demonstration in Tunis aus,
bei der offen der Abtritt der neuen Regierung gefordert
wurde.
Die weiche Haltung der Behörden
gegenüber den bedrohlichen Auftritten der Salafisten
brachte die Regierungspartei En-Nahdha zunehmend ins
Gerede. Ihr Parteichef Rachid Ghannouchi kündigte
daraufhin Anfang April 12 in den französischen Zeitungen
Le Monde und Le Figaro an,
es stünden Zusammenstöße bevor und die Zeit der Geduld
sei vorbei. Bis dahin hatte die Regierungspartei – in
der es mehrere Flügel gibt, von denen jedoch mindestens
einer mit den Salafisten in Verbindung steht – sich
darauf berufen, sie wolle nicht Polizeieinsätze gegen
die Unruhestifter provozieren, „um nicht Erinnerungen an
die dunkle Ära der Polizeigewalt unter Ben Ali zu
wecken“. Allerdings fiel die Reaktion der Polizei völlig
anders aus, als am Montag vergangener Woche (= BEI
ERSCHEINEN, also an diesem Ostermontag) laizistische
Oppositionelle aus Anlass des „Tags der Märtyrer“
demonstriert. Dieser Gedenktag erinnert an 1939 durch
die französische Kolonialmacht getötete Protestierer,
doch in diesem Jahr ging es auch darum, staatliche
Hilfen für die bei der Revolution 2010/11 Verletzten
sowie die Hinterbliebenen von getöteten Demonstranten zu
fordern .Dieses Mal kam es zu einer Orgie der
Polizeigewalt, wofür die offizielle Begründung lautet,
die Avenue Bourgiba im Zentrum von Tunis sei für
Demonstrationen nicht freigegeben gewesen. Auch
Journalisten wurden verletzt, darunter auch die
ausländische Korrespondentin Julie Schneider, die über
ihre Misshandlung durch Polizisten ausführlich berichtet
hat. Seitdem ist erstmals eine breitere Diskussion über
die Pressefreiheit dabei, in die Gänge zu kommen.
Editorische Hinweise
Den Text erhielten wir vom Autor für diese
Ausgabe.