Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

5/6-12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Vorbemerkung red. trend: Obwohl sich die Marxo-SyndikalistInnen um Robert Schlosser & Wal Buchenberg explizit unpolitisch vom SIB inspirierten revolutionär-antikapitalistischen Programm- und Organisationsdiskurs abgrenzen (siehe dazu auch den hilflosen Verweis in der Klammer im 1.Absatz des Textes von R.Schlosser) sehen wir es als unsere "strömungsübergreifende" ChronistInnenpflicht an, deren programmatische (Weiter-?) entwicklung zu dokumentieren.

Bochumer Programm: Gibt es was zu verbessern?
von Robert Schlosser

Hallo zusammen,
hier ein erster Versuch, die wichtigsten Kritiken am jetzigen Stand des Bochumer Programms, die man im weiten Sinn als konstruktiv ansehen kann, kurz zusammenzufassen und eine erste Bewertung vorzunehmen. (Unsere Einsortierung in Reformismus, Gradualismus, Syndikalismus, Verfechter von Zwangsarbeit etc. interessieren dabei natürlich nicht.)

Aus meiner Sicht lassen sich die Ernst zu nehmenden Kritiken wie folgt unterscheiden:

1. recht allgemeine Kritiken die auf die ungenügende Berücksichtigung besonderer Interessen von Frauen, MigrantInnen abzielen, eine Kritik an Rassismus und Diskriminierung von Frauen vermissen
2. recht allgemeine Kritiken, die die Berücksichtigung der „Ökologiefrage“ vermissen
3. Kritiken, die sich an bestimmten Formulierungen stoßen und darin eine unzulässige Personalisierung des Kapitalverhältnisses sehen
4. Kritiken, die eine Präzisierung der Forderungen nach „Kommunalisierung und Demokratisierung“ verlangen
5. Kritiken, die Forderungen vermissen, die speziell auf das Finanzkapital abzielen und dem Widerstand gegen die sozialen Folgen der Krise Orientierung geben
6. Kritiken an einzelnen Forderungen bzw. zur Ergänzung bestimmter Forderungen (das überschneidet sich teilweise mit Punkt 1, 5)

Folgende kurze Kommentare dazu:

Zu Punkt 1 und 2:
Diese Kritiken zielen meiner Meinung nach darauf ab, den Charakter des Bochumer Programms zu ändern; und zwar in Richtung eines Grundsatzprogramms, das Festlegungen treffen soll in theoretisch sehr umstrittenen Fragen: Kapitalverhältnis und Rassismus, Kapitalverhältnis und Frauenunterdrückung, Kapitalverhältnis und Umweltzerstörung. Konkrete Formulierungsvorschläge liegen nicht vor, aber die Tendenz geht immer dahin, vor allem Rassismus und Frauenunterdrückung neben den Warencharakter der Arbeitskraft zu einem Wesensmerkmal kapitalistischer Produktionsverhältnisse zu erklären, den angeblich „unvollständigen“ Kapitalbegriff also zu ergänzen. Diese Kritiken sind eher Teil einer grundsätzlichen Ablehnung eines solchen „revolutionären Minimalprogramms“, wie es uns vorschwebt.
Trotzdem sollten wir noch einmal überprüfen, ob unsere konkreten Forderungen nicht zu ergänzen sind. Ich komme darauf weiter unten noch zurück.

Zu Punkt 3:
Zu einem Teil zielten die Kritiken darauf ab, jede Formulierung, die das Kapitalverhältnis im Kapitalisten personalisiert sieht, für falsch zu erklären. Darüber muss man wohl nicht weiter diskutieren. Andere wollten in diesen Eingangsformulierung berücksichtigt wissen, dass das Kapital eben ein gesellschaftliches (Produktions-)Verhältnis ist. Soweit ich das sehen kann, war Uwe in seinem Posting vom 12.04.2012 der einzige, der sich an einem Formulierungsvorschlag gewagt hat:

Vielleicht so: "Noch immer werden wir von gesellschaftlichen Kräften (oder Mächten oder einer Gesellschaft) beherrscht, in denen Kapitalisten wie Könige mit den Mitteln der (dann der zweite Satz) agieren."

Das ist zwar keine Formulierung, die ich unterstützen würde, aber darüber sollten wir jedenfalls nochmals diskutieren, um zu überprüfen, ob Missverständnisse nicht durch bessere Formulierung ausgeschlossen werden können. Im übrigen aber macht das Programm natürlich deutlich, dass wir die Lohnarbeit abschaffen wollen!

Zu Punkt 4:
Aus meiner Sicht der „größte Brocken“, auch wenn unter uns – den bisherigen UnterzeichnerInnen des Programms - in der vorliegenden Form kaum umstritten. Auch hier gibt es ja keine konkreten Vorschläge zur Veränderungen, aber das kritische Verlangen nach Konkretisierung. Sofern ich in Köln oder auch hier in Bochum darauf angesprochen wurde, bezog sich das auf Fragen wie:
Warum fehlt das Wohungswesen? Warum wird die Wasserversorung nicht ausdrücklich angesprochen? Wie steht ihr zum Parlamentarismus auf kommunaler Ebene, also den bestehenden Gemeinde- und Stadträten etc.? Was heißt überhaupt „Demokratisierung? Dass immer alle alles entscheiden? Ist die teilweise Rekommunalisierung der Energieversorgung, wie sie jetzt läuft schon in Eurem Sinne?
Ich jedenfalls bin sicher, dass – vorausgesetzt, eine nennenswerte Zahl von Leuten würde auf der Grundlage unseres Programmvorschlages praktisch politisch unterwegs sein – sie mit einem Sack solcher Fragen konfrontiert wären. Darum ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir solche Fragen diskutieren und uns fragen ob und wie Konkretisierungen eingearbeitet werden könnten.

Zu Punkt 5:
In Köln wurde ich mit dieser Frage ganz allgemein konfrontiert. Auf dem Tisch liegt Wals Vorschlag, die „Streichung aller Staatsschulden“ zu verlangen. (Posting vom 01.11.2011). Das ist ein Punkt, der im Forum jetzt weiter intensiv diskutiert wird und vielleicht liegt die Lösung unserer „Streitigkeiten“ ja darin, dass man die Bedingungen unter denen diese Streichung aller Staatsschulden gefordert werden muss, so klar herausarbeitet, dass es möglich ist, sie mit in die Formulierung der Forderung selbst aufzunehmen.

Zu Punkt 6:
Die wichtigsten Kritiken/Vorschläge aus meiner Sicht:
Posting Bernd
vom 22.01.2012
„Wenn ich meine Lebensverhältnisse betrachte, dann sticht eines in Auge: ich wohne in einer Gegend mit 37 % Migrantenanteil. Kommunalisierung und Demokratisierung ohne die Migranten mit aktuellem Deutschpass und ohne solchen? Ohne Forderungen zur Einbürgerung und Unterricht in Deutsch? Der Auschluß aus dem politischen Bildungsprozess ist doch längst auch aus bürgerlichen Sicht ein Relikt aus dem 19. oder 20. Jahrhundert. Nichtsdestotrotz immer noch real.“
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Aus meiner Antwort an KHS:
"Überdenken oder berücksichtigen:
In das Programm aufnehmen sollten wir die Forderung nach einem politischen Streikrecht.
Überdenken und diskutieren sollten wir seine Kritik am von uns verwendeten Begriff der„Ausbildung“
Überdenken und diskutieren sollten wir seine Kritik an der Forderung „Abzug aller deutschen Truppen aus dem „Ausland“. (Austritt aus der NATO fordern?)
Auch wenn jemand einen ebenso detaillierten wie polemischen Verriss des Bochumer Programms vorlegt, sollten wir als UnterzeichnerInnen aufgeschlossen genug sein, um Anregungen für eine Verbesserung aufnehmen zu können."


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Abschließend zum Punkt 6 möchte ich noch eine Sache ergänzen, die bisher noch kaum im Gespräch war. Das betrifft ebenfalls der Punkt Bildung/Ausbildung/Erziehung. Aus meiner Sicht fehlen bisher Forderungen zur sogenannten „frühkindlichen Erziehung“, also Krabbelstuben, Kindertagesstätten etc., evtl. auch Erziehungszeiten von Eltern. Es fehlt aus meiner Sicht ferner die Forderung nach einer allgemein eingeführten Ganztagsschule. Das sind aus meiner Sicht ganz elementare Anliegen der Lohnabhängigen, speziell der lohnabhängigen Frauen, die es zu unterstützen gilt.


Mit dieser kurzen Aufstellung und Bewertung will ich es erst einmal bewenden lassen und hoffe auf kritische Kommentare, Ergänzungen und Diskussion. Es gibt nichts, was nicht noch zu verbessern ist! ;-)

Herzliche Grüße
Robert

Editorische Hinweise

Wir spiegelten den Text vom Marx-Forum, wo er am 29.4.2012 veröffentlicht wurde. Er kann dort diskutiert werden.