Entwicklung der Produktivkräfte und nachkapitalistische Gesellschaft

von Meinhard Creydt

5/6-12

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In Diskussionen zu einer im emanzipatorischen Sinne verstandenen nachkapitalistischen Gesellschaft stellt sich die Frage: War eine befreite Gesellschaft, so wie wir sie wollen, immer möglich oder bildet der Entwicklungsstand der Mittel für die praktisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur ein maßgebliches Moment? Viele Vertreter von small-is-beautiful-Vorstellungen und Subsistenzkonzepten erachten die Entwicklung der Produktivkräfte als k e i n e wesentliche Bedingung der anstrebenswerten Gesellschaft. Dabei fragt sich: Was habe ich von einer Gesellschaft, in der es wenig oder keine Ungleichheit und Herrschaft gibt, aber die durchschnittliche Lebenserwartung bei 30 liegt, jede Geburt für die Mutter Todesgefahr einschließt, die Arbeit schwer ist und ihre Erträge kärglich ausfallen, Bevölkerungswachstum und Hungersnöte einander abwechseln?

THESE: Die Abwesenheit von Ungleichheit und Herrschaft ist nur e i n Attribut der anstrebenswerten Gesellschaft. Es handelt sich dabei um eine notwendige, aber nicht um eine hinreichende Bedingung.

ARGUMENTE:

1) Eine gedeihliche Existenz setzt ein gesellschaftliches MEHRPRODUKT voraus, das verausgabt werden kann

  • für die Erleichterung von Arbeit durch Technik

  • für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung

  • für Erziehungs- und Gesundheitswesen

  • für allgemeine gesellschaftliche Infrastrukturen (Kanalisation, Versorgungsnetze (Strom), die Reserven vorhalten, Kommunikationsnetze, ÖPNV, Eisenbahnen)

2) Gewiss gibt es ggw. in kapitalistischen Gesellschaft mannigfache Fehlentwicklungen von Technik, Forschung und Entwicklung aus kapitalismusspezifischen Ursachen. Aus dieser Fehlentwicklung (oder aus der Überreife i. S. von Fäulnis) der Produktivkräfte folgt aber nicht der Schluss: Die anstrebenswerte Gesellschaft ist immer, bei jedem Stand der Produktivkräfte möglich. (Anm. 1)

3) Der ENTWICKLUNGSSTAND VON PRODUKTIVKRÄFTEN stellt nicht allein eine äußere Bedingung des Lebens der Individuen dar, sondern hat KONSTITUTIVE FOLGEN FÜR DIE SUBJEKTIVITÄT:

  • Entängstigung durch Eindämmung negativer Effekte der Natur auf das menschliche Leben (Entdeckung des Blitzableiters erst 1752). Vgl. Delumeaus Schilderung der „Angst im Mittelalter“.

  • Verringerung der Verhärtung, die im Verhältnis zu sich und anderen solange notwendig ist, wie harte Arbeit, harte Lebensbedingungen (in Bezug auf Lebensmittel, Heizen, Waschen u. a.) und fehlende Medizintechnologie (z. B. Anästhesie) vorherrschen.

  • Überwindung der Lokalbornierung durch Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen. (Wie soll eine Beratschlagung öffentlicher Angelegenheiten unter den Mitgliedern eines über kleine Gemeinschaften hinausreichenden Gemeinwesens möglich sein, wenn dafür allein Briefe und für deren Beförderung lediglich Postkutschen zur Verfügung stehen?)

4) Bäuerliche Lebensweise war, solange sie gesellschaftlich dominiert, oft verbunden mit

  • räumlicher Isolation in kleinen Dörfern, zwischen denen es wenig Bedürfnis und Notwendigkeit für Kommunikation gibt

  • weitgehender Autarkie der Bauern. Sie sind für ihre Lebensweise meist nur auf sich und ihre Familie angewiesen.

  • geringer Arbeitsteilung. (Anm. 2)

Die im emanzipatorischen Sinne verstandene nachkapitalistische G e s e l l s c h a f t setzt bei allen Präferenzen für Dezentralisierung die Wirklichkeit einer gesellschaftlichen Vernetzung der verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft voraus – im Unterschied zu segmentären Gesellschaften, die aus weitgehend autarken dörflichen G e m e i n s c h a f t e n bestehen. (Anm. 3).

Im einschlägigen Band von Haude und Wagner („Herrschaftsfreie Institutionen“) nennen die Autoren nur ein Beispiel für Gesellschaften außerhalb von (vorschriftlichen) Stammesgesellschaften, auf das ihres Erachtens das Prädikat „herrschaftsfrei“ zutrifft: Israel in der Richterzeit (ca. 1250 bis 1000 v. Chr.).

5) Der für Zeiten, in denen die bäuerliche Lebensweise gesellschaftlich dominierte, charakteristische restriktive Zusammenhang zwischen dem Stand der Produktivkräfte und den sozialen Handlungsperspektiven wirft die Frage nach den unter diesen Voraussetzungen vorhandenen Grenzen von Bauernbewegungen auf. Eine These: „BAUERNREBELLEN haben … nicht den Fortschritt der Gesellschaft als ganzer zum Ziel, sondern nur eine gerechte Aufteilung der allgemeinen Armut. Sicher sind das egalitäre Ziele; aber diese Form des Egalitarismus ist eine von … kaum voneinander unterschiedenen Angehörigen einer festen Gemeinschaft, nicht der kollektivistische Egalitarismus, der unabhängige, aber durch Arbeitsteilung organisierte Menschen voraussetzt“ (Nigel Harris: Die Rolle der Bauern in der Revolution. In: International Socialism H. 41 Dezember 1969, Jan. 1970). Mit dieser These ist keine Aussage verbunden zu Bauernbewegungen im kapitalistischen Weltsystem.

6) Die umstandslos positive Bewertung früherer Entwürfe einer herrschaftsfreien Gesellschaft von den tschechischen Taboriten Anfang des 15. Jh., den Levellers und Diggers im England des frühen 17. Jh. bis zu den Frühsozialisten weist verschiedene Probleme auf: Diese positive Bewertung ist oft selektiv und nimmt nur das wahr, was mit unseren heutigen Vorstellungen eine positive Resonanz aufweist. Sie projiziert oft heutige Wünsche in die damaligen Vorstellungen hinein. Sie verbleibt oft im Horizont der Ideen-Rede befangen und fragt nicht materialistisch, „was an wirklichen Befähigungen bei den Prozessbeteiligten verschiedener Provenienz ausgebildet gewesen ist: was an zivilisatorisch-produktivem Leistungs- und Organisationsvermögen, was an personaler Eigenständigkeit und was an Befähigungen zu sozialer Kooperation und Integration“ (Fleischer 1989, 620). In diesem Horizont ergibt sich die Einsicht, „dass die Menschen sich jedesmal so weit befreiten, als nicht ihr Ideal vom Menschen, sondern die existierenden Produktivkräfte ihnen … erlaubten“ (Deutsche Ideologie). PRODUKTIVKRÄFTE beinhalten nicht nur den technischen Fortschritt, sondern auch „die produktiven Energien, Qualifikationen und Betätigungsansprüche maßgebender Produzentengruppen“ (Fleischer 1987, 29).

7) Die Neigung, es auf herrschaftsfreie Gemeinwesen abzusehen und zugleich vom Stand der Produktivkräfte abzusehen, ist Teil einer (Fehl-)Verarbeitung von Erfahrungen mit der Moderne und dem Kapitalismus. Diese Erfahrungsverarbeitung hat zu tun mit einer für die gesellschaftliche Moderne und den Kapitalismus charakteristischen, bisher ungelösten und in ihrem Kontext auch unlösbaren Problematik.

Moderne und Kapitalismus zeichnen sich aus durch den „doppelseitigen Charakter“ ihres Fortschritts: „Auflösung auf der einen Seite niedrigerer Formen der lebendigen Arbeit – auf der anderen Seite Auflösung glücklicherer Verhältnisse derselben“ (Marx 1974, 368). „Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat“ (Ebd., 80). „Die kindisch alte Welt“ erscheine als das Höhere. Sie sei es auch tatsächlich „in alledem, wo geschlossene Gestalt, Form und gegebene Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornierten Standpunkt, während die Moderne unbefriedigt lässt“ (Ebd., 388). Marx spricht hier – entsprechend dem Anliegen, die Analyse der Gegenwart als Kapitalismus- u n d Modernetheorie zu betreiben (vgl. Creydt: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M. 2000) – von „der Moderne“! Marx zufolge ist die romantische Sehnsucht nach „ursprünglicher Fülle“ die notwendige Begleiterin des Kapitalismus: „So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen, und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten“ (Ebd., 80). „Die einen wollen den Gegensatz des Kapitalismus verewigen seiner Frucht wegen. Die anderen sind entschlossen, um den Gegensatz loszuwerden, die in dieser antagonistischen Form sich herausbildenden Früchte aufzuopfern“ (MEW 26.3, 257).

ANMERKUNGEN

Anm. 1
Vgl. bspw. die aberwitzig verschwenderische Absorption von Ressourcen und Ingenieursknowhow in einer Autoindustrie und Autokultur, die nur unter der Voraussetzung floriert, dass Mobilität gesellschaftlich zum großen Anteil mit privaten Verkehrsmitteln bewerkstelligt wird und das Auto ein Objekt der Kultur (über-)kompensatorischer Subjektivität bildet. Vgl. zum Stellenwert der Autoindustrie und -kultur die Kontroverse zwischen Winfried Wolf und mir in der ‚Sozialistischen Zeitung’ 2008. (s. www.meinhard-creydt.de ).

Anm. 2
Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfacher Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie zu wechselseitigem Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern. Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, lässt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse zu. Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinahe sich selbst, produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Gesellschaft. …

Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen, keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muss zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor anderen Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt. Der politische Einfluss der Parzellenbauern findet also darin seinen letzten Ausdruck, dass die Exekutivgewalt sich die Gesellschaft unterordnet“ (MEW 8, 198).

Anm. 3
Und sicher ist dieser sachliche Zusammenhang ihrer Zusammenhanglosigkeit vorzuziehen oder einem auf Bluturenge, Natur und Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse gegründeten nur lokalen Zusammenhang. Es ist ebenso sicher, dass die Individuen sich ihre eignen gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht unterordnen können, bevor sie dieselben geschaffen haben” (Marx 1974, 79).

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.

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