1. Mai 1987
Zwischen Huddelduddel und Straßenschlacht


von
Karl Müller

5/6-12

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: In den Medien wird zur Zeit an die Kreuzberger Riots vom 1. Mai 1987 erinnert. Die klassenpolitische Situation der damaligen Zeit bleibt allerdings auch bei linken Erinnerungen völlig ausgeblendet. Der Autor stellte uns seinen Kommentar zur Verfügung, den er vor 25 Jahren für das "westberliner info" geschrieben hatte. Wir veröffentlichen dieses Zeitdokument, weil es ein authentisches Beispiel der damaligen politischen Einordnung der Mai-Ereignisse ist und Zusammenhänge sichtbar macht, die in heutigen Berichten ausgeblendet werden. Als zusätzliche  Illustration zu diesem Artikel der "Kasten", der damals auf Seite 31 des "wi" neben den Kommentar gestellt wurde. / red. trend

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Die "Wahrheit" - Zeitung der revisionistischen SEW - schwelgte in Optimismus, als sie am Folgetage von den 1.-Mai-Aktivitäten in Westberlin berichtete. 50.000 Westberliner seien auf der Straße gewesen und hätten Frieden und Arbeit gefordert. In ihrer Berichterstattung hob sie besonders die Forderungen der Einzelgewerkschaften des DGB hervor, die auf ihrer ideologischen Hauptlinie "Frieden" lagen. Daß gerade die Metalltarifrunde mit einem üblen Kompromiß zuendegegangen war, blieb weitgehend unerwähnt. Stattdessen entblödete sich die SEW nicht, am 4.5. die Reden von Wagner, Pagels, Wulf-Mathies und Karlberg in der "Wahrheit" nachzudrucken.

Die revolutionären Gruppierungen wie die KPD(ML), "Gegen die Strömung", "Neue Einheit", FAU(R) und Volksfront-BWK , sowie die MLPD fristeten ein exotisches Schattendasein am Rande der Kundgebung vor dem Reichstag. Ein nahezu unübersehbares Spektrum von ausländischen Kleinstorganisationen mischte sich unter Demo- und Kundgebungsteilnehmer.

Etwas Aufsehen hatte nur wie im Jahr zuvor der "schwarz-rote Betroffenen-block" erzeugt, der unter dem Zeichen "Fahne Schwarze Katze" sich morgens an den ÖTV/GEW- Block drangehängt hatte. Unter den Klängen von Rockmusik der "Scherben" wie weiland in den 70ern wurden Parolen und Flugblätter verbreitet, die anknüpfend an der 35-Stunden-Forderung, eine "radikale Arbeitszeitverkürzung und existenzsicherndes Einkommen" zum Inhalt hatten. Am DGB-Mai wurde zu Recht herumkritisiert: "Die Verengung des gewerkschaftlichen Blicks auf die nationale Situation heißt den Imperialismus zu akzeptieren." Am Reichstag bot sich letztlich das Bild eines Jahrmarktes. Würstchen und Dönerbuden, viel Schnaps und Bier, Rockmusik und Kleinkunst sowie gewerkschaftliche PR-Arbeit an den Ständen der Einzelgewerkschaften, untermalt von den offiziellen Maireden, denen keiner zuhörte. Dazwischen Jusos, SEWler und ALer die nächste Kampagne ankurbelnd: Volksabstimmung für die Mietpreisbindung.

Wenn das Geld fließt

Ein Glück, daß eine Stadt ein Jubileum hat. Da das Datum historisch nicht genau auszumachen Ist, stützen sich die Initiatoren der 750-Jahr-Aktivitäten auf die Recherchen, die dazu im Faschismus gemacht wurden und addieren auf 1937 einfach 50 drauf und schwupp, Ost- und Westberlin erstrahlen im mindestens dem selben Glanz wie die "alte Reichshauptstadt".

120.000 Sozialhilfempfänger
93.408 registrierte Erwerbslose
40.000 nicht-registrierte Erwerbslose
60.000 Tagelöhner
10.000 Obdachlose

konnten in Westberlin keinen Wunschzettel einreichen, um ihn aus der reichlich fließenden Staats- und Privatknete erfüllt zu kriegen. Sie stehen nicht auf der 65 Seiten umfassenden Liste, wo stets interessierte Kreise Anfang des Jahres ihre Spendenanliegen kundtaten. Ein kurzer Blick in die Wunschliste:

  • 6.000.000 DM für das Wrangelschlößchen

  • 10.000 DM pro Fenster der Peter und
    Paul-Kirche in Nikolskoe

  • 100.000 DM für das Künstlerhaus Bethanien

  • 35.000 DM für das Tempodrom

  • 175.000 DM für Sitzbänke auf der Pfaueninsel

  • 70.000 DM für die Tanzfabrik

  • 150.000 DM für eine Aufführung der Neuköllner Kammeroper

  • 1.500 DM für eine Bahnhofswaage

AL-Kritik an diesem Sachverhalt: "Dadurch wird nur vertuscht, daß sich der Staat zuwenig um die kleinen Gruppen kümmert."

Also mehr Knete in die Hinterhofselbstausbeuterprojekte oder was ?

 

Ja, und die Kollegen, die in den Wochen zuvor im Wartestand auf große Kampfmaßnahmen geharrt hatten, sie gingen unter in diesem Huddelduddel. Ihre zahlreichen Warnstreiks, die Aktionsausschüsse, die VL-Schulungen, vertane Zeit? Drei Jahre Ruhe soll herrschen, so wollen es die Druck- und Metallkapitalisten und die IGM-und Drupa-Führung. Legt man die krisenhafte Entwicklung des westdeutschen Kapitalismus zugrunde, dann werden allerdings keine ruhigen Jahre folgen.

Der 1. Mai 1987 ist gelaufen. Für die revolutionären Kräfte heißt dies: So einen Kampftag der Arbeiterklasse darf es 1988 nicht wieder geben. Und die Chancen dafür sind nicht schlecht.

1968 fand in Westberlin die 1. Rote Mai-Demo nach dem "Mauerbau" statt. Die Forderung auf einen radikalen Sturz des Kapitalismus war Konsens der 30 000. Der DGB befand sich im Saal. Wir waren auf der Straße. Voraussetzung des Erfolgs vor 20 Jahren war die Verbindung unser radikalen Forderungen mit den Alltagerfahrungen - insbesondere der Arbeiterjugend, daß der DGB keine Handlungsperspektive zu bieten hatte. Heute ist es genau umgekehrt. Es existieren keine Forderungen, die sich verbinden lassen mit den Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen, da sie bereits alle vom DGB unter sozialdemokratischer und revisionistischer Vorherrschaft vereinnahmt sind. Die Forderungen, die uns geblieben sind, sind so allgemein, daß sie richtig und zugleich uninteressant für die Kolleginnen und Kollegen sind. Die revolutionären Kräfte Westberlins sollten das vor ihnen liegende Jahr nutzen, um anknüpfend an den konkreten Erfahrungen der Kollegen ein gewerkschaftliches Forderungspaket zu entwickeln, das das allgemeine politische Ziel "Sozialismus" nicht mehr als völlig losgelöst von ihren ökonomischen Forderungen erscheinen läßt. Der Weg dorthin geht nur über die Kolleginnen und Kollegen selber.

Der 1. Mai 87 in Westberlin war aber nicht nur gekennzeichnet durch den DGB-Rummel, sondern auch durch die Aktivitäten der sogenannten neuen sozialen Bewegungen. Am zugespitztesten zu beobachten in den Kreuzberger Ereignissen. In der Nacht zum 1. Mai hatten starke Polizeikräfte den Mehringhof heimgesucht, um gegen Volkszählungsboykottaktivitäten vorzugehen. Ausgehend vom Lausitzer Platz-Fest war in der Nacht zum 2. Mai Straßenschlacht angesagt. Das "Lausitzer" ist traditionell Treffpunkt der Autonomen, die ihren Forderungen bekanntermaßen die entsprechende Militanz hinzufügen. Der Gewaltcharakter des Staates tritt ihnen dann ohne Verkleidung gegenüber und die Betroffenen wehren sich demgemäß.

In der der Nacht zum 2.Mai geschah jedoch etwas Unvorhergesehenes. Die Militanz der Autonomen griff auf Teile der Kreuzberger Bevölkerung über. Hunderte von Anwohnern aus dem Gebiet rund um den Lausitzer Platz vollzogen etwas, was man als "gesellschaftliche Umverteilung" bezeichnen könnte. Für Stunden waren "Recht und Ordnung" vergessen. Der Kiez gehörte seinen Bewohner und die bestimmten, was auf der Straße passiert. AL und andere Rathausparteien reagierten auf ihre Weise verwirrt und natürlich betroffen.

Welche Lehren aus den Kreuzberger Kämpfen und den Kämpfen der westberliner Arbeiterbewegung in der Drupa-und Metalltarifrunde zu ziehen sind, daß heißt festzustellen, wo vielleicht auch Gemeinsamkeiten liegen, steht als Aufgabenstellung noch an, wenn mit der Vorbereitung des 1. Mai 1988 jetzt begonnen werden sollte.