Vorbemerkung: In den Medien wird zur Zeit an
die Kreuzberger Riots vom 1. Mai 1987 erinnert.
Die klassenpolitische Situation der damaligen
Zeit bleibt allerdings auch bei linken
Erinnerungen völlig ausgeblendet. Der Autor
stellte uns seinen Kommentar zur Verfügung, den
er vor 25 Jahren für das "westberliner
info" geschrieben hatte. Wir
veröffentlichen dieses Zeitdokument, weil es ein
authentisches Beispiel der damaligen politischen
Einordnung der Mai-Ereignisse ist und
Zusammenhänge sichtbar macht, die in heutigen
Berichten ausgeblendet werden. Als zusätzliche
Illustration zu diesem Artikel der "Kasten", der
damals auf Seite 31 des "wi" neben den Kommentar
gestellt wurde. / red. trend
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Die "Wahrheit" - Zeitung der revisionistischen SEW -
schwelgte in Optimismus, als sie am Folgetage von den
1.-Mai-Aktivitäten in Westberlin berichtete. 50.000
Westberliner seien auf der Straße gewesen und hätten
Frieden und Arbeit gefordert. In ihrer
Berichterstattung hob sie besonders die Forderungen
der Einzelgewerkschaften des DGB hervor, die auf ihrer
ideologischen Hauptlinie "Frieden" lagen. Daß gerade
die Metalltarifrunde mit einem üblen Kompromiß
zuendegegangen war, blieb weitgehend unerwähnt.
Stattdessen entblödete sich die SEW nicht, am 4.5. die
Reden von Wagner, Pagels, Wulf-Mathies und Karlberg in
der "Wahrheit" nachzudrucken.
Die revolutionären Gruppierungen wie die KPD(ML),
"Gegen die Strömung", "Neue Einheit", FAU(R) und
Volksfront-BWK , sowie die MLPD fristeten ein
exotisches Schattendasein am Rande der Kundgebung vor
dem Reichstag. Ein nahezu unübersehbares Spektrum von
ausländischen Kleinstorganisationen mischte sich unter
Demo- und Kundgebungsteilnehmer.
Etwas Aufsehen hatte nur wie im Jahr zuvor der
"schwarz-rote Betroffenen-block" erzeugt, der unter
dem Zeichen "Fahne Schwarze Katze" sich morgens an den
ÖTV/GEW- Block drangehängt hatte. Unter den Klängen
von Rockmusik der "Scherben" wie weiland in den 70ern
wurden Parolen und Flugblätter verbreitet, die
anknüpfend an der 35-Stunden-Forderung, eine "radikale
Arbeitszeitverkürzung und existenzsicherndes
Einkommen" zum Inhalt hatten. Am DGB-Mai wurde zu
Recht herumkritisiert: "Die Verengung des
gewerkschaftlichen Blicks auf die nationale Situation
heißt den Imperialismus zu akzeptieren." Am Reichstag
bot sich letztlich das Bild eines Jahrmarktes.
Würstchen und Dönerbuden, viel Schnaps und Bier,
Rockmusik und Kleinkunst sowie gewerkschaftliche
PR-Arbeit an den Ständen der
Einzelgewerkschaften, untermalt von den offiziellen
Maireden, denen keiner zuhörte. Dazwischen Jusos,
SEWler und ALer die nächste Kampagne ankurbelnd:
Volksabstimmung für die Mietpreisbindung.
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Wenn das
Geld fließt
Ein Glück, daß eine Stadt ein
Jubileum hat. Da das Datum historisch nicht
genau auszumachen Ist, stützen sich die
Initiatoren der 750-Jahr-Aktivitäten auf die
Recherchen, die dazu im Faschismus gemacht
wurden und addieren auf 1937 einfach 50 drauf
und schwupp, Ost- und Westberlin erstrahlen im
mindestens dem selben Glanz wie die "alte
Reichshauptstadt".
120.000 Sozialhilfempfänger
93.408 registrierte Erwerbslose
40.000 nicht-registrierte Erwerbslose
60.000 Tagelöhner
10.000 Obdachlose
konnten in Westberlin keinen
Wunschzettel einreichen, um ihn aus der
reichlich fließenden Staats- und Privatknete
erfüllt zu kriegen. Sie stehen nicht auf der
65 Seiten umfassenden Liste, wo stets
interessierte Kreise Anfang des Jahres ihre
Spendenanliegen kundtaten. Ein kurzer Blick in
die Wunschliste:
-
6.000.000 DM für das
Wrangelschlößchen
-
10.000 DM pro Fenster der
Peter und
Paul-Kirche in Nikolskoe
-
100.000 DM für das
Künstlerhaus Bethanien
-
35.000 DM für das Tempodrom
-
175.000 DM für Sitzbänke auf
der Pfaueninsel
-
70.000 DM für die Tanzfabrik
-
150.000 DM für eine
Aufführung der Neuköllner Kammeroper
-
1.500 DM für eine
Bahnhofswaage
AL-Kritik an diesem Sachverhalt: "Dadurch
wird nur vertuscht, daß sich der Staat zuwenig
um die kleinen Gruppen kümmert."
Also mehr Knete in die
Hinterhofselbstausbeuterprojekte oder was ?
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Ja, und die Kollegen, die in den Wochen zuvor im
Wartestand auf große Kampfmaßnahmen geharrt hatten,
sie gingen unter in diesem Huddelduddel. Ihre
zahlreichen Warnstreiks, die Aktionsausschüsse, die
VL-Schulungen, vertane Zeit? Drei Jahre Ruhe soll
herrschen, so wollen es die Druck- und
Metallkapitalisten und die IGM-und Drupa-Führung. Legt
man die krisenhafte Entwicklung des westdeutschen
Kapitalismus zugrunde, dann werden allerdings keine
ruhigen Jahre folgen.
Der 1. Mai 1987 ist gelaufen. Für die revolutionären
Kräfte heißt dies: So einen Kampftag der
Arbeiterklasse darf es 1988 nicht wieder geben. Und
die Chancen dafür sind nicht schlecht.
1968 fand in Westberlin die 1. Rote Mai-Demo nach dem
"Mauerbau" statt. Die Forderung auf einen radikalen
Sturz des Kapitalismus war Konsens der 30 000. Der DGB
befand sich im Saal. Wir waren auf der Straße.
Voraussetzung des Erfolgs vor 20 Jahren war die
Verbindung unser radikalen Forderungen mit den
Alltagerfahrungen - insbesondere der Arbeiterjugend,
daß der DGB keine Handlungsperspektive zu bieten
hatte. Heute ist es genau umgekehrt. Es existieren
keine Forderungen, die sich verbinden lassen mit den
Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen, da sie
bereits alle vom DGB unter sozialdemokratischer und
revisionistischer Vorherrschaft vereinnahmt sind. Die
Forderungen, die uns geblieben sind, sind so
allgemein, daß sie richtig und zugleich uninteressant
für die Kolleginnen und Kollegen sind. Die
revolutionären Kräfte Westberlins sollten das vor
ihnen liegende Jahr nutzen, um anknüpfend an den
konkreten Erfahrungen der Kollegen ein
gewerkschaftliches Forderungspaket zu entwickeln, das
das allgemeine politische Ziel "Sozialismus" nicht
mehr als völlig losgelöst von ihren ökonomischen
Forderungen erscheinen läßt. Der Weg dorthin geht nur
über die Kolleginnen und Kollegen selber.
Der 1. Mai 87 in Westberlin war aber nicht nur
gekennzeichnet durch den DGB-Rummel, sondern auch
durch die Aktivitäten der sogenannten neuen sozialen
Bewegungen. Am zugespitztesten zu beobachten in den
Kreuzberger Ereignissen. In der Nacht zum 1. Mai
hatten starke Polizeikräfte den Mehringhof
heimgesucht, um gegen Volkszählungsboykottaktivitäten
vorzugehen. Ausgehend vom Lausitzer Platz-Fest war in
der Nacht zum 2. Mai Straßenschlacht angesagt. Das
"Lausitzer" ist traditionell Treffpunkt der Autonomen,
die ihren Forderungen bekanntermaßen die entsprechende
Militanz hinzufügen. Der Gewaltcharakter des Staates
tritt ihnen dann ohne Verkleidung gegenüber und
die Betroffenen wehren sich demgemäß.
In der der Nacht zum 2.Mai geschah
jedoch etwas Unvorhergesehenes. Die Militanz der
Autonomen griff auf Teile der Kreuzberger Bevölkerung
über. Hunderte von Anwohnern aus dem Gebiet rund um
den Lausitzer Platz vollzogen etwas, was man als
"gesellschaftliche Umverteilung" bezeichnen könnte.
Für Stunden waren "Recht und Ordnung" vergessen. Der
Kiez gehörte seinen Bewohner und die bestimmten, was
auf der Straße passiert. AL und andere Rathausparteien
reagierten auf ihre Weise verwirrt und natürlich
betroffen.
Welche Lehren aus den Kreuzberger
Kämpfen und den Kämpfen der westberliner
Arbeiterbewegung in der Drupa-und Metalltarifrunde zu
ziehen sind, daß heißt festzustellen, wo vielleicht
auch Gemeinsamkeiten liegen, steht als
Aufgabenstellung noch an, wenn mit der Vorbereitung
des 1. Mai 1988 jetzt begonnen werden sollte.
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