"Wozu denn Initiative ergreifen?“
Über Argumentation und Mentalität gesellschaftlicher Tatenlosigkeit- Teil 1

von Sunny Sangaré

5/6-12

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Die klotzigen und klobigen Hürden der Mainstreampropaganda, der politisch vorherrschenden Diskurse und der großen Medien liegen zunächst mal vor denen, die in Basisinitiativen wirken. Das liegt in der Natur der Sache. Viel unklarer sind die Verhältnisse im gesellschaftlichen Umfeld einer Initiative, eines Bündnisses. Der Austausch mit dem Umfeld zählt ja zu den wichtigen und auch interessanten Umsetzungsschritten, er zeigt sich als besonders unberechenbar, schillernd und schwierig. In der gesellschaftlichen Resonanz auf Basistätigkeiten und neue Initiativen sind Zugänglichkeit und Polemik gemischt. Und in der Polemik wiederum äußert sich ein misstrauisches "Was bringt' s?", das uns sehr geläufig vorkommt, das die Sinnlosigkeit von Institutions-fernem Handeln unterlegen möchte. Daraus scheint eine gesellschaftspolitische Müdigkeit zu sprechen. Die Begründungen dafür werden selten ganz ausformuliert. Ich behaupte, dass es immer noch unterschiedliche Haltungen sind, die hier erörtert werden können, und dass diese Haltungen nur in einem übereinstimmen: nämlich darin, der verkürzten Logik der marktwirtschaftlichen Gesellschaft Recht zu geben. Diese verschatteten Argumente, als ein Konsens der Tatenlosigkeit, sind anfechtbar. Deshalb will ich hier, in einer Erörterung, die gesellschaftlich realiter gar nicht mehr stattfindet, den Motiven für die misstrauischen oder müden Argumenten gegen Basistätigkeit nachgehen, ebenso wie den Begründungen für Basistätigkeit selbst.

Ein Blick auf gegenwärtiges gesellschaftspolitisches Tätigsein

Mir geht es weniger um den Blick auf Initiative in Massenprotesten, auch wenn diese natürlich immer mehr an Bedeutung zunehmen, und ebenfalls eine Erörterung wert wären:

Die Blockaden und Platzbesetzungen der Occupy-Bewegung in den USA, der WohnraumaktivistInnen in Israel und Spanien, die den Bedarf nach Wohnen und sozialer Sicherheit als verbindende Handlungsmotive der kapitalistischen Industrie-Gesellschaften verdeutlichen, die Demonstration gegen die Herrschaft der Banken ( in Frankfurt), und der große Generalstreik in Spanien und die Streiks, die auch hierzulande häufiger stattfinden. Die Bürgerrechtlerin Angela Davis sah in der Occupy-Bewegung eine mögliche neue Internationale, um den fatalen Auswirkungen des Kapitalismus die Stirn zu bieten, zum erstenmal "seit der Auflösung der sozialistischen Staatengemeinschaft in Europa"1. Und die Protestmärsche und öffentlichen Erklärungen der landlosen BäuerInnen, die bei "La Via Campesina" das Landgrabbing und den Monopolismus des westlichen Agrar-Investments anprangern, nenne ich hier auch, wenngleich noch wenige Verbindungen zwischen den Wohnraum-Bewegungen der einen und den Anti-Landgrab-Bewegungen der anderen zu bemerken sind.

Dabei bleibt die Frage zu stellen, ob die proklamierten 99 Prozent der Occupy-AktivistInnen in den USA und in Europa zutreffen. Manchmal habe ich, in dem Lebensalltag, der immer noch nicht von den verschärften restriktiven Sparkursen bei der Finanzmarkt-Erhaltung betroffen ist, (nämlich etwa in Deutschland), den Eindruck, dass die großen Massenprotest-Ereignisse wie Gewitterwolken beeindrucken, und ebenso wieder verdampfen und in Vergessenheit geraten.

Durch tägliche Erfahrung beziehe ich mich hier auf ein anderes Phänomen: Auf „unspektakulärere“ Initiativen. Im alltäglichen Gang der Dinge sind zwiespältige Botschaften zu vernehmen: Viele Menschen begeben sich auf eine gesellschaftspolitische Suche entgegen den lebensfeindlichen Mechanismen des Kapitalismus, entgegen den sozialfeindlichen Umsetzungen, die der Kapitalismus durch die politischen und wirtschaftlichen Institutionen tätigt, oder entgegen rechtstendierenden Verbreitungen einzelner Polit-Personen – trotz einem gesellschaftlichen Konsens, der solche Suche für sinnlos erklärt. Es erscheint naturgemäß in der Marktwirtschaft „unattraktiv“, Initiative zu ergreifen, und begegnet immer wieder einer Argumentation gesellschaftlicher Tatenlosigkeit. Diese Argumentation wird allerdings selten ausgeführt – sie hat unterschiedliche anfechtbare Begründungen und gibt, wie mir scheint, Aufschluss über die Verfasstheit der Gesellschaft, die sich eigentlich viel weniger nur noch als Gesellschaft versteht, denn als verwalteter Raum individualistischer Karrieren bzw. Existenzkämpfe (unter dem fortgeschrittenen kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Konzept). Und diese Begründungen erklären, warum allgemein nur auf „große“ Ereignisse vertraut wird, während das gängige Erwerbs- und Sozialleben wie geschützte Biotope aufgefasst werden. Und sie könnten mit desillusionierenden hilfreichen Sätzen erwidert werden.

Wenn viele Leute täglich die Initiative ergreifen, meine ich damit, dass sie unabhängig nach Wegen aus den Sachzwängen, oder auch grundsätzlicher, aus dem Sachzwangdenken suchen.

Gemeint ist damit, dass Menschen von der Basis aus sprechen und handeln.

Zum Beispiel hatten sich nach Sarrazins islamophober und migrantenfeindlicher Hetzschrift, die noch in zahlreichen Talkshow- und Presse-Verbreitungen à la "Man muss das doch mal sagen dürfen" gestützt worden war, und nach den islamophoben "Pro"-Bewegungen, und kulturrassistischen Gesellschaftstendenzen, eine ganze Reihe von Aktionsbündnissen gegen Ausgrenzung und Rassismus gegründet wie die Initiative „Integration- nein danke!“ der "Plattform gegen Rassismus", und das Bündnis "Rechtspopulismus stoppen!". Ein anderes Beispiel gebe die Berliner "Kampagne gegen Hartz IV" sowie weitere Initiativen, die sich gegen den Angriff auf die erwerbsarme und erwerbslose Klasse mit den Hartz IV-Gesetzen samt medialer "Schmarotzer"-Diffamierungen organisierten. Gegen Behördenrassismus, Ausgrenzung und strukturelle Diskriminierung arbeiten seit Jahren die „Karawane für das Recht der Flüchtlinge und MigrantInnen“, die „Flüchtlingsinitative Brandenburg“, die „Flüchtlingsinitiative Möhlau“, die „No Lager“-Gruppen in Halle und Bremen und weitere. Eine Erwiderung auf politische und wirtschaftliche Planvorhaben sehen wir bei dem Bau des neuen Großflughafens Schönefeld, wenn die acht Stunden Nachtruhe der AnwohnerInnen dabei nicht interessieren – eine Initiative "Fluglärm stoppen" gründet sich. Und weil zugleich eine Asyl-Internierungsanstalt mit entrechtenden und diskriminierenden Flughafen-Asylverfahren auf dem betreffenden Gelände geplant wird, beginnen die "Chipkarteninitiative", das "Bündnis gegen Lager" und weitere Gruppen eine Kampagne dagegen.

So unterschiedlich die Initiativen sein mögen, verallgemeinere ich sie hier unter einem gewissen Blickwinkel: Natürlich unter dem des Tätigseins im Unterschied zur Tatenlosigkeit. Und, genauer noch, unter dem Blickpunkt der Organisierung entgegen den medial verbreiteten und den politisch verbreiteten Diskursen, und damit auch entgegen den politisch angebotenen Diskussionszirkeln in „Bürgerbeteiligungen“. Jene Initiativen suchen mit grundlegender Kritik eine Gegenöffentlichkeit und formulieren kompromisslos die konkreten Forderungen für Lebensverhältnisse einer Klasse oder Gruppe. Und dabei geht es um eine Botschaft und einen Belang, die gesellschaftspolitisch marginalisiert oder unterdrückt werden. Dabei vertraut mensch eben nicht auf den Überbau einer großen Gewerkschaft oder Organisation – und erst recht nicht auf den institutionellen Parteienweg. In manchen Fällen sind es Vereinsformen.

Verallgemeinern lassen sich die bestehenden Initiativen auch nicht in Bezug auf ein „demokratisches Vertrauen“, einen Versuch gesellschaftlicher Einflussnahme, um Demokratie sozusagen wieder zu reparieren. Maßgeblich sehe ich in ihnen nur eine Übereinstimmung, nämlich, dass das Abwarten verweigert wird, und dass durch tätige Selbstorganisierung vom miserablen kapitalistischen Ist-Zustand her die Handlung gesucht wird. Bis hin zum Rückaneignen von sozialen Rechten. Und vom „guten Leben“? Vielleicht. In einigen Fällen wird zwar auch ein Gedankenkonzept für die Gesellschaft aufgestellt – das steht jedoch an zweiter Stelle hinter der Tätigkeit für den konkreten Belang. In einigen Fällen wird vielleicht auch eine Alternative zur Geldwirtschaft gesucht, in anderen Fällen gibt es keine Zeit oder kein Interesse für große Entwürfe.

Was heißt Tätigsein?

Exkurs: Eigenmächtigkeit

Einige der genannten Initiativen würden vielleicht eine Nähe zu anarchistischem Denken vehement zurückweisen. Und das, obwohl sie doch so charakteristisch die institutionelle Politik verwerfen! Ich will jedoch in einem Exkurs über den oft schlechtgeredeten Anarchismus eine wichtige Eigenschaft von Basistätigkeit demonstrieren: die Eigenmächtigkeit. Und ich möchte die Eigenmächtigkeit hier an zwei historischen Persönlichkeiten verdeutlichen, die kompromisslos von der Basis aus agierten. Entgegen einem alten Klischee von anarchistischen "Chaoten" und vermeintlichen Gewalt-Anhängern waren sie gewaltlose Anarchistinnen: Im 19. Jahrhundert unter dem französischen Second Empire gab es noch keinen demokratischen Raum für Initiativen und Vereine. Damals agierte und schrieb die Anarchistin und Erzieherin Louise Michel gegen die Zensur des selbstherrlichen Napoleon III., für freie Schulen abseits vom staatlichen Lehrprogramm, für die Bildung und die Berufstätigkeit von Frauen, für die soziale Absicherung der IndustriearbeiterInnen und für deren Recht auf gewerkschaftliche Kämpfe. Im Zuge der Pariser Commune begab sie sich zwar aktiv in die Straßenkämpfe, an der Seite der fahnenflüchtigen Soldaten und der verarmten Bevölkerung. Doch von dieser Zeit abgesehen, in der der Kommandant Thiers mit einem Massaker die Ordnung in Paris behauptete, war ihr jede Gewaltanwendung ferne. Ihre Tätigkeit bis zum Tod in 1905 umfaßte die Gründung mehrerer Schulen, Demonstrationen auf der Straße, und ungezählte Vorträge und Dichtungen. ( hierzu: Frauen in der Revolution: Louise Michel, Karin-Kramer-Verlag, Berlin-West 1976, Silke Lohschelder, Anarchafeminismus. Auf den Spuren einer Utopie, Unrast, Berlin 2000.)

Mit Gewaltaufrufen hatte auch Emma Goldman ( 1869- 1940) nichts zu tun, die seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr den Anarchismus als die Grundhaltung sah, in der Menschen aus ihrer Deklassierung als Arbeitskraft-Reservearmee und als wählende Staatstreue heraustreten, und öffentlich für ein soziales und herrschaftsfreies Miteinander eintreten. Maßgeblich für ihre Positionierung war, zwanzigjährig, dass sie bei Vorträgen von den jüngsten Chicagoer Ereignissen erfuhr: von dem Martyrium der sechs anarchistischen Arbeiterkämpfer, die in einem Schauprozeß zu Unrecht eines Attentats beschuldigt und hingerichtet wurden. Goldman trat mit Essays, Vorträgen und der Gründung von finanziellen Unterstützungskomitees für Streiks in Amerika zum Beispiel für diese Ziele ein: Die Erwerbstätigkeit von Frauen, das Recht auf Verhütung, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, Arbeitsschutz, höhere Löhne und soziale Sicherheit für ArbeiterInnen, und den Schutz der WanderarbeiterInnen vor rassistischer Diskriminierung. ( hierzu: Emma Goldman, Gelebtes Leben. Biographie in 3 Bänden, Karin Kramer Verlag 1990). Es geht bei diesem Anarchismus um Herrschaftslosigkeit im Wort selbst und im Wirken zahlreicher VertreterInnen. Was, nach meiner Ansicht, den – erklärten - Anarchismus in den Leben von Michel und Goldman ausmachte, war die Illusionslosigkeit und ein Lebensinhalt, der sich im sozialen "Selbermachen" begriff. Allerdings knüpften sie daran ein Denkkonzept von Anti-Staatlichkeit. Dass dieses Denkkonzept mit Gewaltideologie gleichgesetzt wird, entspricht einem gängigen Klischee. Und wie auch immer mensch zu diesem Denkkonzept stehen mag, so kann doch nicht darüberhinweggesehen werden, dass die eigenmächtige Tätigkeit dieser Frauen durch ihr unabhängiges Wirken und ihren menschlichen und kulturellen weiten Horizont in den geschichtlichen Überlieferung sozialer Emanzipationsbestrebungen herausragt.

Tätigsein im marktwirtschaftlichen System - freies Handeln oder Freihandel?

Was bedeutet eigenmächtiges „Selbermachen“, und was kann tätige Initiative im Vergleich zu einer Untätigkeit definieren? Suchen wir hierzu eine Definition von „Initiative“ bei Hannah Arendt:

Sprechend und handelnd unterscheiden sich Menschen aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift“2. Und : „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“ (S. 166) Zunächst kann ich damit nur interpretieren, dass es mir nicht genügt, in meinem So-Sein zu leben - gewissermaßen in meine vier Wände zurückgezogen oder in meinen gegebenen Verhältnissen ruhend.

Nun sind wir einen vermeinten liberalen Grundzug in der marktwirtschaftlichen Lebenskultur der reichen Industriestaaten gewohnt. Demnach, so wird vermeint, regulierten wir unser tägliches Leben über unmittelbares Handeln und Sprechen. Demnach bestimme dann Diskussionskultur, welche Handlung und welches Argument das bessere sei. Und über den Erfolg, so glaubt mensch, würden die Akte der Selbstverwirklichung reguliert.

Wie äußert sich diese Auffassung? Zum Beispiel wird mir, gemäß einer sehr verbreiteten Ansicht, ein Designer es als eine Art des Handelns präsentieren, dass er einen neuen Hut entworfen und hergestellt hat. Und er wird mir sein fertiges Produkt mit Stolz als das Resultat seiner individuellen Kunstfertigkeit und Persönlichkeit zeigen- als einen Akt der Selbstverwirklichung. Vor dem Hintergrund der schon gegebenen Formen und Farben der Hüte-Produktion ist sein Hut wohl wirklich eine Neuheit. Aber vor dem Hintergrund der marktwirtschaftlichen Mode-Industrie und der Vermarktung von Ideen ist sein Selbstverwirklichungs-Akt keine Neuheit. Er ist sogar, gerade heute bei der Vervielfachung der vervielfachten Gewinne, und der Steigerung der gesteigerten Produktion, ein deutlich vorbestimmter Akt.

Handeln wird üblicherweise heute in erster Linie als - Handel verstanden! Und freies Handeln, allerdings! - als Freihandel. Die Buchstäblichkeit in der allgemeinen Auffassung ist längst durchgesetzt! Und nach der Feststellung, dass Geld unleugbar reale Prozesse umsetzen könne, wird mir hierbei auch noch ein Effekt vermeinter Handlung vor Augen geführt. Und der Hut-Designer wird mir den Erfolg seiner Kreation über den Verkaufseffekt beweisen. Natürlich, muss ich eingestehen, hat er einen sichtbaren Verkaufserfolg. Aber ist denn kommerzielles Handeln ein unabhängiger Akt, wenn die Sorge um seine Mietzahlung den Designer einen Geldpreis für seine Kreation festsetzen lässt- und wenn ihn die Sorge um gesellschaftliche Anerkennung dazu brachte, den kommerziellen Weg zu beschreiten? Wohl kaum. Ist das kommerzielle Handeln denn ein Akt, in dem sich "das Menschsein selbst offenbart"? Das nun ganz gewiß nicht!

In der zeitgemäßen Auffassung vom Handeln scheint sich doch eher darzulegen, was der Psychologe und Soziologe Erich Fromm als "das Wesen der Entfremdung" in der modernen Lebenskultur beobachtete: "die Routinisierung und die Verdrängung der Grundprobleme menschlicher Existenz aus dem Bewusstsein."3 Und diese Grundprobleme wachsen in der fortgeschrittenen Kommerzialisierung der menschlichen Lebensräume und- ressourcen immer deutlicher an. So muss auch eine immer größere Verdrängung getätigt werden, will mensch diese Grundprobleme übertönen und übersehen. Das tägliche kommerzielle Handeln und Konsumieren bringen einen immer deutlicheren Widerstreit mit unmittelbarem Menschsein. Ja, sie sind nur möglich auf der Grundlage von Ressourcenausbeutung, die das unmittelbare Menschsein ganz gehörig angreifen. Und nicht genug damit, diese Kommerzialisierung der Lebensbereiche wird dem Menschen als die einzig gangbare Gesellschaftsform heute aufgenötigt.

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Nahrungsmittelspekulation eine Erhöhung der Nahrungsmittelpreise bedingt, die für die armen Länder des Südens ein Desaster mit sich bringen, und dass die Überfischung der westafrikanischen und der somalischen Gewässer durch europäische Industrieschiffe dortigen BewohnerInnen die Lebensgrundlage entziehen. Ein weiteres Beispiel: Dass die Rohstoffproduktion für die westliche Elektronik- und Geräte-Industrie "kaum an Menschenrechtsverletzungen vorbei" führe, belegte ein jüngerer Zeitungsartikel des Magazins "Telepolis"4. Dass bei Firmen-Tätigkeiten im Kongo und in Kolumbien Umweltverletzungen stattfinden, und dass die verarmte Bevölkerung der Staaten des Südens bei Ressourcen-Ausbeutung westlicher Konzerne nicht beteiligt wird, ist eine wiederholt von NGO `s angeprangerte Erkenntnis. Ebenso, dass Steuerhinterziehungen im großen Maßstab stattfinden (im Konsens der westlichen Berichterstattung heißt es dann immer nur, Unrecht und Armut würde von der Korruption der Staatschefs jener Länder bedingt). Dass ein Weltbank-gefördertes Investment Landraub und Verdrängung und Zerstörung von Wasserquellen für die ansässigen Bäuerinnen und Bauern mehrerer Dörfer in Mali bedeutete, verlautete in einer jüngsten Miteilung der Organisation "La Via Campesina"5.

Das heißt zwar nicht für unseren Hut-Designer, dass er über seine Hut-Produktion sogleich vors Tribunal für ökologische und soziale Belange zu zerren und für eine zerstörerische Produktionslogik zu verdammen wäre. Es heißt nur, dass er an einer kommerziellen Logik teilhat, die heute als die absolut gültige unser Sein vorbestimmt und das Sein aller Menschen bestimmen will ( "Wollen" meint hier die Reglementierung über die herrschenden Mechanismen der Weltmärkte, über die institutionellen und politischen Organen für die Vermarktungslogik, aber auch über die Intendierung durch politische und wirtschaftliche SprecherInnen und Think-Tanks), und die uns in einen fatalen Prozess einbindet – in einen umweltzerstörerischen, hegemoniellen, ausbeuterischen Prozess. Der Hutmacher ist "nur" ein Händler und ein Seine-Existenz-Sichernder, so wie wir anderen, die ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen und im Supermarkt Produkte erwerben. Doch in dem Maße, in dem er eine menschliche Selbstverwirklichung mit seiner Hutkreation verfechten möchte und nichts weiter, würde er zu einem Ideologen. Doch wir Menschen sind fähig, über unsere Vorbestimmung zu reflektieren- und über die Ideologie hinwegzuweisen. Und vor den menschlichen Katastrophen und menschenverachtenden Verwaltungs- und Verwertungsplänen, die wir heute infolge der zerstörerischen Geld (und Profit-)-Erwirtschaftungsprozesse bezeugen können, sind wir auch entschieden dazu aufgerufen, zu reflektieren.

Immerwährendes Wirtschaftswachstum gilt als maßgebliche Grundlage für die allgemeine materielle, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung heute. Und ist damit Vorbedingung für das, was wir machen, was wir planen oder vielleicht auch, was wir sein lassen. Zugleich beeinflusst sie unser Denken, wenn wir bestimmte Wege für akzeptabel erachten und andere nicht. Und wenn wir nur noch das Gangbare für das einzig Mögliche ansehen. Dies der Automatismus, dem wir hier auf den Grund gehen müssen.

Dass wir gar keine frei Handelnden mehr seien, die wir zeitgenössisch an einer fortschreitenden Produktindustrie und –technologie weiter arbeiten, vermeinte der Philosoph Günther Anders in seinen gesammelten Abhandlungen über "Die atomare Drohung". Er formulierte in umgekehrter Weise von der modernen Industriegesellschaft, dass sie fortwährend Handlungen tätige – aber ohne es zu wissen. Dabei bezog er sich speziell auf die fatale Entwicklung der Gesellschaft mit fortschreitender atomarer technologischer Produktion und Forschung:

"Entscheidend für unsere Situation ist, dass wir aufgehört haben, im eigentlichen Sinne des Wortes zu "handeln", dass wir vielmehr durch das, was wir gemacht haben (denn das Machen hat das Tun verschlungen), ohne es zu wissen, immer schon gehandelt haben Das heißt: Unsere Werke, unsere Produkte, kommen den Taten, die wir mit Hilfe dieser Werke durchführen könnten, immer schon zuvor. Unsere Produkte sind bereits, ob wir das wollen oder nicht, unsere Taten."6 Und gemeint sind hier die atomaren Produkte. So betonte Anders wiederholt in seinen Werken, dass wir Menschen heute der Tragweite unserer eigenen Produkte nicht mehr gewachsen seien, dass wir uns diese Tragweite nicht mehr vorstellen könnten und wollten.

In Bezug auf die Forschungstätigkeit und die der atomaren Produktion dienenden Berufszweige appelliert Anders deshalb an die ZeitgenossInnen: "'Hole dich selbst wieder ein!' - eine wahrhaft maßlos große Aufgabe, da ja, was 'eingeholt' werden muss: unsere Machwerke und deren Effekte, maßlos geworden sind." (S. 39). Gemäß seiner Betrachtung der zeitgenössischen Lebenskultur (die die fünfziger Jahre betrifft) und der Erwerbsarbeit, die dem Funktionieren einer fortgesetzten atomaren Entwicklung verschrieben ist, sei freies Handeln "am Feierabend", also zum Beispiel eine kritische Tätigkeit und Reflektierung der eigenen Berufsfunktion, nicht erwünscht: "Denn gleich, worin unsere Freizeitbeschäftigung besteht, ob in Fernsehen, Sport oder in was auch immer, uns zugestanden ist sie als ein Zustand, in dem wir frei von Verantwortung sein sollen." (S. 85)

So fordert Anders, dass die ZeitgenossInnen wieder beginnen sollen, ihr berufliches "Machen" mit Blick auf die Auswirkung zu prüfen und infrage zu stellen. Als ein Beispiel hierfür nennt er die Gruppe von Göttinger Physikern, die in einer öffentlichen Erklärung von der menschheitlichen Gefahr der atomaren Forschung sprachen. Seinerzeit wurden sie dafür vom Kanzler Adenauer für ihre "politische Einmischung" gerügt. Günther Anders ruft in seinem Buch ganz unmissverständlich zum atomaren "Produktstreik" und zur dauerhaften öffentlichen Bewegung gegen die atomare Rüstung und Produktion auf.

Es geht uns also an dieser Stelle um die Geltung des Handelns und des Sprechens, die von unmittelbar menschliche Relevanz sind. Wenn aber unmittelbare menschliche Lebensgüter und -verhältnisse vom bestehenden Konsens, von kapitalistischer Verwertungslogik, gefährdet und angetastet sind, werden Handeln und Sprechen konsequent kritisch sein. Initiative ergreifen, das wird also bedeuten, Zusammenhänge zu suchen, die verschlechterte menschliche Lebensperspektiven und ihre Ursachen verbinden – und zu versuchen, auf diese Zusammenhänge einzuwirken. Das heißt zugegebenermaßen sehr viel. Am Anfang kann das womöglich nur bedeuten, von diesen Zusammenhängen zu sprechen. Und gegen Verstellungen und Verunklärungen dieser Zusammenhänge zu wirken, und Gegenöffentlichkeit zu schaffen.

Einen eigenen Standpunkt finden und vertreten

Das Sprechen soll hier natürlich ebenfalls erörtert werden. Was kann es in unserer Definition bedeuten? Sicherlich zunächst mal, ihre/seine unverfälschte Meinung zu äußern. Beziehungsweise, ihre/seine Ansicht vorzubringen, die von eigenen Erfahrungen, Wissen und Gedankentätigkeiten herrührt. Nun gilt wiederum üblicherweise in der marktwirtschaftlichen Gesellschaft, und in der demokratischen Ordnung, dass jedeR das Recht auf unverfälschte Meinungsäußerung habe. Und dass das Äußern von Meinungen allgemein freistehe, und dass das Argumentieren auch von einer liberalen Diskussionskultur reguliert würde.

Wir wissen allerdings heute auch, dass diese schöne "Liberalität" von einer reißerischen Einflussnahme großer Medien gehörig verzerrt wird, und dass Stimmungen und Meinungen gemacht und in die Köpfe geliefert werden, wie etwa im März dieses Jahres, als der Bericht der Bundesagentur für Arbeit geliefert wurde, der mehr Erwerbslosen-Sanktionierungen im sogenannten "Hartz-IV-System" dokumentierte- und von der Bild-Zeitung mit der ungerechtfertigten Hetze gegen vermeintliche Hartz-IV-"Trickser"- und "Betrüger" übermittelt wurde. Meinungen werden heute auch in großem Maßstab vorfabriziert.

Die Apparatur für das Fabrizieren von Meinungen ist allerdings kaum überschaubar! Und es ist im Gespräch nicht einfach festzustellen, ob mein/e Gesprächspartner/in sich auf jüngst Gehörtes aus dem "Maischberger"-Talk oder aus "Zeitmagazin" oder "Tagesthemen" bezieht, wenn sie/er von einer entspannten Arbeitsmarktsituation spricht – oder ob sie/er sich dabei auf den Bekanntenkreis bezieht, indem plötzlich mehr Beschäftigung und angenehme Arbeitsverhältnisse Einzug hielten. Die "Jobwunder"-Behauptung der jüngeren Zeit in den Medien etwa wurde von der großen Regierungskoalition lautstark übermittelt. Dass dabei 30 bis 40 Prozent der Arbeitenden in Leiharbeitsverhältnissen beschäftigt sind, also in sehr prekären und in befristeten Verhältnissen, war eine an den Rand gedrängte Tatsache, und wurde etwas später beispielsweise im Deutschlandradio-Interview mit dem Soziologen Klaus Dörre ausgeführt. Die eigene Meinung kann ich mir nicht durch Aufgeschnapptes bilden, sondern nur durch gezieltes Lesen und Hören bei verschiedenen Instanzen.

Unsere Meinung gestaltet sich allerdings aus dem, was wir wissen (und reflektieren), und auch aus dem, was wir nicht wissen (und nicht reflektieren). Fabriziert wird auch das Unwissen, das, was wir nicht reflektieren und nicht denken. Das Unwissen über bestimmte Verhältnisse wird von großen Medien nämlich gleichfalls reguliert wie das Halbwissen über bestimmte andere Verhältnisse. Was wissen wir europäischen KonsumentInnen über die Arbeitsverhältnisse in den Zulieferfirmen, von denen wir unsere kostengünstige Kleidung geliefert bekommen? Die Kampagne "Saubere Kleidung" berichtet immer wieder von der Verletzung von Arbeitsrechten (Arbeitssicherheit, gewerkschaftliche Organisierung) in Betrieben, die tausende Kilometer entfernt für "unsere", die hier auf den Markt gebrachte, Kleidung tätig sind. Und sie nennt dabei auch Markennamen und konkrete Zusammenhänge. Freilich werden diese Missstände nicht in den großen Fernsehanstalten und großen Zeitungen berichtet- oder nur alle paar Jahre einmal, zu einem bestimmten Anlass! Also bleibt dieses Wissen randständig. Es ist nun allerdings ein Unwissen über alltägliche Dinge, das hierbei wirkt und in unseren fabrizierten Meinungen für Meinungslücken sorgt -oder für verkürzte Gedankengänge. Da stellt sich nun tatsächlich die Frage: Welches Wissen ist denn wichtig?. Und ich behaupte hier, dass genau solches Wissen, das z. B. die Herstellung unserer alltäglichen Konsumprodukte betrifft, zum Wichtigen zählt. Warum?

Weil es wiederum (siehe oben!) die "Grundprobleme menschlicher Existenz" (E. Fromm) betrifft. Nämlich die menschliche Existenz in der Konsumwirtschaft, die heute global umgesetzt wird. Und das heißt hier: die Existenz bestimmter Menschengruppen, die für "unsere", hierzulande wirkende Konsumtion zu sorgen haben. Denn dieses Wissen zu suchen, heißt, sozial zu denken. Und genau das heißt auch: einen Zusammenhang zu suchen. Und mit dem Erkennen dieses Zusammenhanges ist z. B. eine gewisse Polemik der Marktwirtschaftsgesellschaft entkräftet: Die Meinung nämlich, dass die gesamte Menschheit heute der Produktwirtschaft unter allgemein freien und gleichheitlichen Bedingungen frönen könnte, und dass es eine Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, wie sie Marx anprangerte, heute nicht mehr gebe, sondern allgemeine hohe Arbeitsstandards, und allgemeine freie Berufswahl.

Um mir eine Meinung zu machen, muss ich also selbständig Wissen (zusätzlich zu eigenen Erfahrungen) aufsuchen. Es ist tatsächlich ein ständiges Abgleichen und Kombinieren des Gelesenen, Gehörten mit anderem Gelesenen, Gehörten- und mit eigenen Erfahrungen. Ein Abgleichen und Kombinieren, das einen langen Prozess bedeutet. Vielleicht einen lebenslangen Prozess. Aber wenn ich in diesem Prozess zu bestimmten Stationen gelange, in denen ich einige Gewissheiten habe, dann kann ich diese als meine Ansichten – oder Meinungen- bezeichnen.

Und während diesem lebenslangen Prozess und dem Suchen nach eigenen Ansichten will ich auch sprechen. "Ich habe eine Meinung, und die kann ich auch jederzeit sagen", gilt als übliche Auffassung von heutiger liberaler Redefreiheit. Gewiß kann ich sie heute unter gewissen Umständen unbehelligt sagen. Aber kann ich – nach unserer Definition- Initiative ergreifen und etwas Neues in die Wege leiten? Das heißt- einen Standpunkt vertreten? Das ist vielleicht gar nicht so selbstverständlich, wie es scheint. Und dass wirklich so viel diskutiert werde, wie heute allgemein behauptet wird, das wage ich zu bezweifeln. Wie schon erörtert, sind wir in gewisse Bahnen gedrängt- die Bahnen von Kauf und Verkauf, von Erwerbstätigkeit, Konsum und Freizeit. Angenommen, ich habe eine kritische Sicht von den Produktionsbedingungen für Arbeitende der Kleidungsindustrie, der Billigwirtschaftsindustrie. Wo kann ich sie äußern? Wenn mein Alltag sich zwischen einem Angestelltenverhältnis z. B. bei der Post, zwischen dem Elternabend an einer Schule, zwischen Einkauf, Freundestreff und Sportfreizeit bewegt, werde ich in keinem dieser Bereiche meine Meinung loswerden. Weil sie nicht interessiert. Weil sie in dem jeweiligen Bereich nicht relevant, "aus der Luft gegriffen", erscheint. Weil der Zusammenhang, den ich erkannt habe, ein "zu großer", ein allgemeingesellschaftlicher ist. Ich bleibe auf dem Gebiet von "Smalltalk".

Ich muss also, um meine Meinung zu kommunizieren, ein Forum suchen, das einen allgemein gesellschaftlichen Zusammenhang transportiert. Also zum Beispiel eine Basisgruppe für Nord-Südgerechtigkeit oder Konsumkritik (wie die "Kampagne Saubere Kleidung"), eine Initiative, eine kritische Zeitung, einen freien Radiosender. Ich muss also den Weg meines privaten Individualismus- zumindest zeitweise- verlassen. Und das heißt bereits, Initiative zu ergreifen. Also, den Weg zu beschreiten, der oftmals der Polemik "Was bringt`s denn?" von meinem persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld ausgesetzt ist. Und schon bin ich dabei, unverhofft, Position gegen einen gewissen Konsens zu beziehen.

Denn hier sei die Frage gestellt, was anderenfalls mit meiner Meinung passiert? Was passiert, wenn ich mir zu größeren Zusammenhängen eine Meinung bilde, die ich nie äußern kann? Was geschieht dann mit meiner Meinung und mit mir? Vielleicht, dass meine Meinung und ich in den eigenen vier Wänden verbleiben. Dann kann ich nur über eine eigene Internet-Veröffentlichung noch agieren, bei der ich meine Meinung äußere. Und das wird ja auch in vielen Fällen gemacht. Doch wie kann ich auf diesem Weg Gewißheit erlangen, gehört zu werden? Wie kann ich erfahren, ob meine Meinung in den Weiten der BloggerInnen-Szene wahrgenommen wird? Über den Internet-Chat, über die Facebook-Portale. Hier ist allerdings der perfekte demokratische Meinungsaustausch erreicht. Denn er ist so uferlos wie er individualistisch ist. Denn hier docken Individuen weltweit in Gesprächen mit anderen Individuen an, und hier regulieren einander wiederum Wissen, Aufgeschnapptes und Halbwissen. Hier kann unter Pseudonymen eine Diskussion mit jeglicher Person weltweit über jegliches Thema geführt werden.

Kann mir das Genugtuung geben? Nicht, wenn ich nur einen individualistischen "Meinungsblog" aufstelle und mit anderen Individuen drauflos diskutiere. Denn nun verbleibe ich, vor dieser Uferlosigkeit, im Virtuellen. Aber mein Ausgangspunkt war doch ein Verhältnis in der Lebenswirklichkeit gewesen! Das, was mich empörte oder zu einer eigenwilligen Ansicht gebracht hat, war ja ein Misstand in der Lebenswirklichkeit. Und in die Lebenswirklichkeit will ich zurück.

Denn ich will meine Meinung nicht nur äußern, sondern auch einen Stein des Anstoßes haben. Denn mit dem Anstoß bemerke ich, dass ich lebe. Und da suche ich wirklich nach einer Änderung. Denn das bloße Äußern meiner Meinung in einem endlos sich selbst regulierenden virtuellen Talk mit pseudonymen GesprächspartnerInnen ist für mich genauso gut und schlecht wie ein privates Hegen meiner Meinung. Und hier in diesem Internettalk ist auch die Verantwortung, die meine Unruhe begründet hat, ja wieder verworfen. Und das entspricht ja eben der üblichen, der marktwirtschaftlich und medial geförderten Auffassung: Dass es genüge, dass ich eine Meinung habe. Dass es genüge, wenn ich mich in den Bahnen von Erwerbsarbeit und meiner Freizeittätigkeit bewege. Und dass eine kritische Äußerung und Kontroverse (mit dem Lebensumfeld!) nicht nötig seien. Was geschieht aber mit meinen Meinungen ohne Kontroverse?

Vielleicht das, was mit meinen Beinmuskeln geschieht, wenn ich wochenlang im Bett liegen bleibe: sie verkümmern.

Fraglich ist nämlich, ob Meinungen überdauern können, wenn sie nie geäußert werden. Und ob sie noch Meinungen bleiben, wenn sie nicht auf Steine des Anstoßes stoßen. Fraglich ist, ob ich mich nicht vielmehr selbst verbiegen werde, wenn ich mit meinen Meinungen permanent haushalte und stillhalte, und zugleich permanent dem Einfluss von anderen Seiten ausgesetzt bin. Denn mag ich allein es schwer haben, mit meinen Meinungen nach außen zu wirken- die fabrizierten Meinungen haben es nicht schwer, zu mir zu kommen. Tatsächlich kann ich mich ihnen kaum verschließen, denn die fabrizierten Meinungen werden ja durch die großen Medien und durch die verbreiteten Klischees ständig an mich herangeschwemmt und -trompetet. Ihnen kann ich mich kaum verschließen, denn sie werden ja öffentlich transportiert, und ich will ja am öffentlichen Leben teilhaben, will ja nicht verkümmern. Ich habe deshalb nur zwei Möglichkeiten: Meine Meinung privat behaltend, vor dem Einfluss der Meinungs-Fabriken in die Knie zu gehen. Oder diese anderen Meinungen und die Meinungs-Fabriken aktiv zu erwidern – und die Kontroverse zu suchen. Und die Kontroverse zu suchen, das würde eben wiederum bedeuten, meinen "Privatismus" aufzugeben, ein gesellschaftsliches Forum zu suchen und Initiative zu ergreifen- ein Miteinander zu suchen, das für einen Belang, für eine Sache eintritt.

Der Schriftsteller Jurek Becker schreibt in seinem Roman "Schlaflose Tage" über fabrizierte Meinungen:

"So hatte er mit der Zeit die Fähigkeit verloren, eigene Meinungen zu bilden, wie eine Katze, der nur tote Mäuse vorgesetzt werden, nach und nach das ihr angeborene Geschick verliert, lebende zu jagen."7 Der Autor Becker hat sich in vielen seiner Werke dem Problem gewidmet, wie mensch aktiv streiten und vor verkrusteten Verhältnissen integer bleiben kann. Und seine Hauptfigur Simrock, um die es hier geht, will beileibe nicht nur dabei bleiben, Meinungen zu bilden und in den eigenen vier Wänden zu pflegen und zu hegen. Er sorgt sich um seine Integrität im Denken wie auch im Handeln. Simrock ist Lehrer im DDR-Staat, und sehnt sich danach "jemand zu sein, der an den wenigen wichtigen Angelegenheiten, die es gab, identisch mit sich selbst teilnahm" (S. 66). Und das heißt hier, dass er sich zwischen den staatlich verordneten Regeln des Unterrichtens und seiner eigenen Beziehung zum Unterrichten aufgerieben fühlt. Im Verlauf der Erzählung wird er Position beziehen, und wird wegen kritischer Fragestellungen in Bezug auf das Militär beim Unterrichten seiner Klasse schließlich aus dem Beruf entlassen werden. (Was würde heute ein zeitgenössischer Lehrer erleben, der sich kritisch gegenüber einer Bundeswehr-Werbe-Veranstaltung verhält?) Dass es nötig sei, angesichts großer Verhaltensnormen und Regeln immer wieder die eigene Gewissensprüfung zu betreiben, und dabei auch eine kämpferische Haltung gegenüber dem Lebensumfeld einzunehmen, hat Becker in mehreren seiner Romane deutlich gemacht. Und zwar ganz unprätentiös. Denn der Vorzeige-Dissident für die marktwirtschaftlich-kapitalistische westliche Welt, der wollte er nie sein. In 1989 sollte sich Becker deutlich auch gegen gewisse Erwartungen und Verhaltensnormen der Bundesrepublik aussprechen, die immer nur DDR-kritische Literatur und eine unkritische lobhudelnde Bezugnahme auf den Westen von ihm verlangten8.

Resumee: Unabhängiges Handeln und Sprechen bedeutet, Vorbestimmungswege und die Sachzwanglogik zu verlassen – und damit auch, das menschlich hemmende, einengende und zerstörerische Moment dieser Logik zu kritisieren. Es bedeutet außerdem, die großen Fabrikationen von Meinung zu verlassen- und zugleich die Gegenöffentlichkeit zu suchen. Und damit begibt sich mensch, in welcher Form auch immer, in eine Initiative, um unverfälscht von Lebenswirklichkeit zu sprechen, ob in einem größeren Zusammenschluss von Menschen oder nur alleine oder zu zweit mit einer eigenen Zeitung. Es ist der Ausgangspunkt ohne Label und ohne gewährten Erfolg. Der Ausgangspunkt, an dem mensch immer wieder mal polemische Sätze konfrontieren wird, die von "Windmühlenkämpfen" reden oder das krittelnde "Was bringt' s" einwerfen. Das wird leider nicht ausbleiben. Aber an diesem Punkt ist ein tätiges Miteinander möglich, und ein Zuwachs an Erkenntnissen. Und – eine Eigenschaft, die noch weiter ausgeführt werden soll- es wird zugunsten anderer Errungenschaften auf Prestige verzichtet.

Fortsetzung folgt.

Anmerkungen

1 "Unsere Bewegung wächst noch", Angela Davis im Interview, Neues Deutschland 24./25. 12.2011

2H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben., München 1960, S. 165

3 Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, Ullstein, Frankfurt am Main 1981, S. 141.

4 "Bei metallischen Rohstoffen führt kaum ein Weg an Menschenrechtsverletzungen vorbei", Christoph Mann, Telepolis 20.04.12

5 "Land grabbing in Mali: Farmers arrested", Erklärung von La Via Campesina am 24.4.12)

6 G. Anders, Die atomare Drohung, München 1981, S. 38

7 J. Becker, Schlaflose Tage, Frankfurt am Main 1978, S. 65

8 J. Becker, Warnung vor dem Schriftsteller. Fünf Vorlesungen, Frankfurt/Main 1989

 

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.