Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Dreierlei Maifeiertag
Rechts, rechtsextrem und links/gewerkschaftlich

5/6-12

trend
onlinezeitung

Paris, am 1. Mai dieses Jahres.

Um 11.45 Uhr: Ankunft auf dem Vorplatz der Pariser Oper. Dort wird in diesem Jahr um die Mittagszeit die rechtsextreme Parteivorsitzende Marine Le Pen vom Front National (FN) zu ihren Anhänger/inne/n reden.

Erstmals seit dem Jahr 2007 wird der FN wieder den Opernplatz für die Abschlusskundgebung seines jährlichen Aufmarschs zu Ehren der „Nationalheiligen“ Jeanne d’Arc nutzen. In den vergangenen Jahren war der Platz dafür schlicht zu groß geworden: In den Jahren 2010 und 2011 konnte der FN dazu respektive 2.000 bzw. 3.000 Anhänger/innen mobilisieren, dabei wäre der Opernplatz teilweise leer erschienen. Im zurückliegenden Jahrzehnt hatte der FN eine zunehmend schwere Krise durchlaufen, weil es ihm lange Zeit nicht gelungen war, wichtige Strategiefragen (u.a. gegenüber dem konservativen Block unter Nicolas Sarkozy) zu entscheiden und die Nachfolge des alternden Jean-Marie Le Pen an der Spitze zu regeln. Seine Tochter Marine Le Pen folgte ihm dann im Januar 2011 nach.

Als ich auf dem Platz ankomme, ist dieser bereits gefüllt, der Umzug „für Jeanne d’Arc“ ist also bereits vorüber und vor der Oper angekommen. Schätzungen fallen schwer, da die Menge in diesem Jahr relativ unregelmäßig verteilt ist, es dürfte sich aber um circa 5.000 bis 6.000 Menschen handeln. Nach dem Wahlerfolg Marine Le Pens ist der extremen Rechten also ein relativer Mobilisierungserfolg gelungen.

Dem Augenschein nach gehören wenige Menschen auf diesem Platz zur gesellschaftlichen Elite. Einige Zahnlücken fallen auch bei jüngeren Menschen auf. Die Kleidung ist insgesamt eher ärmlich, auch wenn einige wenige Herrschaften in Anzug und Krawatte erschienen. Vor allem unter den jüngeren Teilnehmern finden sich relativ viele auffällige Symbole – „Thorhammer“ (unter faschistischen Neuheiden beliebtes Abzeichen) um den Hals, unter Neonazis beliebte Lonsdale-Klamotten. Manche Teilnehmern tragen Militärklamotten, der zeitweilig vor mir stehende und bereits ältere Herr ein T-Shirt einer Garnison von Fallschirmjägern. Die durch die Parteiführung angestrebte bürgerliche „Normalisierung“ im Erscheinungsbild ist bislang nur in Ansätzen gelungen.

Um Punkt 12 Uhr setzte Marine Le Pen zu ihrer, circa einstündigen, Rede an. Die FN-Chefin wiederholt, was sie bereits im April in der Pariser Konzerthalle Le Zénith ausführte (vgl. Teil C unseres Artikels): „Ich war die einzige Kandidatin des französischen Volkes bei dieser Wahl.“ Die beiden für die Stichwahl übrig gebliebenen Kandidaten, François Hollande und Nicolas Sarkozy, seien „nur Anwärter auf den Gouverneursposten in einem von Europäischer Zentralbank und EU-Bürokraten beherrschten Frankreich“. Doch diese Oligarchie zeige heute „eine bleiche Miene“, eben weil die rechtsextreme Kandidatin gut abgeschnitten habe. Nicht ungeschickt bringt sie sich gegen die etablierten Kandidaten, die als Sachwalter der „Sachzwänge“ auftreten, in Stellung: „Wir sprachen von der Nation, sie antworteten: EU-Verträge. Wir sprachen von Männern und Frauen, von ihrem Ängsten, Leiden, von ihren Nöten. Sie antworteten uns: (Wachstums-, Statistik-)Kurven, Finanzmärkte, Aktienindex.“

Es folgt um kurz vor 13 Uhr die Stimmempfehlung für die Stichwahl am kommenden Sonntag, auf welche die – zahlreich anwesenden – Medienvertreter so dringlich warteten. Marine Le Pens Empfehlung besteht jedoch darin, dass sie keine Wahlempfehlung abgibt: „Ihr seid frei, erwachsene Bürger, mündig!“ Doch, fügt sie hinzu, sie selbst werde ungültig wählen, und keinem der beiden Sachwalter des Systems am Sonntag ihre Stimme erteilen.

Mittagessen, Métro. Um kurz vor 14 Uhr: Ankunft im großbürgerlichen sechzehnten Arrondissement, auf der Place du Trocadéro. Schon im Métro-Abteil ändert sich die Atmosphäre von Station zu Station. Viele Leute, die blau-weiß-rote Nationalflaggen in ihren Händen halten, steigen zu: Anhänger/innen von Noch-Präsident Nicolas Sarkozy. Das Publikum ist offenkundig ein ganz anderes als am späten Vormittag. „Hier werden wir weniger verfaulte Zähne antreffen als vor zwei Stunden“, flüstert ein befreundeter Begleiter mir zu. Es dominiert der Look „Herr in Anzug und Krawatte“ sowie „Großbürgerschnepfe mit über-auffälliger & teurer Dauerwelle“.

Einige Tage zuvor rief Nicolas Sarkozy – für allgemeine Überraschung sorgend – zunächst dazu auf, zu einem „Feiertag der wahren Arbeit“ am 1. Mai auf die Straße zu mobilisieren. Dies war neu und unerhört, da die konservative Rechte seit Jahrzehnten zum Arbeiterfeiertag nicht auf der Straße war (im Unterschied freilich zum Front National, der alljährlich an diesem Datum „für die Nationalheilige Jeanne d’Arc“ aufmarschiert). Dieser Begriff der „wahren Arbeit“, den Sarkozy später offiziell zurücknahm und den er nunmehr durch den Ausdruck „wahrer Tag der Arbeit“ ersetzen sehen mochte, sollte „diejenigen, die früh aufstehen und sich anstrengen“ ansprechen. Diese sollen in Gegensatz zu Faulenzen, Sozialschmarotzern, aber auch zu Staatsbediensteten wie Krankenschwestern und Lehrer/inne/n – da öffentlich Bediensteten laut Sarkozy „nicht der Konkurrenz ausgesetzt sind“ – gerückt werden.

Viele linke und gewerkschaftliche Reaktionen betonten daraufhin, Sarkozy trete hier in die Fußstapfen des Marschalls Pétains; tatsächlich war der frühere „Internationale Arbeiterfeiertag“ der Arbeiterbewegung unter diesem ab 1940 zum „Tag der Arbeit“ umgewidmet und erstmals zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden. Alsbald zirkulierten im Internet allenthalben Plakate, die zum 1. Mai 1941 als „Tag der echten/wahren Arbeit“ aufriefen und die historische Tradition, in welche Sarkozy sich stelle, belegen sollten. Allerdings handelte sich um eine kleine Fälschung, da das Originalplakat retuschiert und das Wörtchen ,vrai’ (für „wahr/echt“) hineingeschmuggelt worden war. Unabhängig davon betonten sowohl der Präsidentschaftskandidat des Linksbündnisses, Jean-Luc Mélenchon, als auch die grün-linksliberale Präsidentschaftskandidatin Eva Joly in den vergangenen Tagen offen die „pétainistische Wortwahl“ Nicolas Sarkozys.

Um 14.30 Uhr: Auf dem Platz finden sich circa 40.000 Menschen; ihre Zahl wird später auf annähernd 50.000 wachsen, als auch die Anfänge der Seitenstraßen gefüllt sind. Mehr als 40- bis 50.000 Leute passen, von den räumlichen Dimensionen her, objektiv nicht auf den Platz (weshalb die Angaben der Veranstalter, „200.000 Menschen“ hätten teilgenommen, ein pures Fantasieprodukt sind, über das sogar Anhänger auf dem Platz lachen mussten).

Als Vorredner spricht unter anderem Ex-Premierminister Jean-Pierre Raffarin, französischer Regierungschef von 2002 bis 2005. Er zieht eine Parallele zwischen dem, in Sichtweite liegenden, Platz der Menschenrechte – wo er selbst (als junger Liberalkonservativer unter Valéry Giscard d’Estaing) im Laufe der Jahre gegen Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR, in der VR China, und angeblich auch unter der brasilianischen Militärdiktatur sowie in Südafrika, demonstriert habe – und dem heutigen Tag. Er bezieht sich positiv auf die als „BRICS-Staaten“ bezeichneten „Schwellenländer“ (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), wo man die Demokratie errungen habe und wo man die Ärmel zum Arbeiten hochkrempele. Er lobt die brasilianische Demokratie, im selben Atemzug (und nicht ganz so explizit) auch das chinesische Modell. „Der Westen leidet an einem Defizit an Arbeit“ gegenüber den vorgenannten Ländern, behauptet Raffarin.

Auch der Chef der Regierungspartei UMP, Jean-François Copé, wird kurz nach ihm ausrufen, es sei nötig, „mehr zu arbeiten und weniger Staatsausgaben zu haben“. Er mokiert sich über Arbeitszeitverkürzung und dem Streben nach früher Rente. Und er wird Arbeit – wohlgemerkt, die Rede ist von abhängiger Lohnarbeit unter real existierenden Verhältnissen - wörtlich als „Mittel der Emanzipation“ bezeichnen. Zahllose Spötter/innen stellen daraufhin in den folgenden Tagen dann eine, wohl durchaus übertriebene, Assoziation mit dem berüchtigten Slogan „Arbeit macht frei“ her. (Natürlich ging es Copé nicht um die Einrichtung von Vernichtungslagern, sondern darum, ein moralisch durchseuchtes „Arbeitsethos“ zu propagieren. Aber auch ein solches war bei den Nazis angelegt...)

Nun kommt der Chef selbst ans Mikrophon. Um solchen Einwänden wie den zuvor geschilderten (1. Mai 1941 – 1. Mai 2012) zu begegnen, beruft sich Starredner Nicola Sarkozy zu Eingang seiner Ansprache auf einen anderen 1. Mai von rechts, der nicht durch Marschall Pétain organisiert wurde. Am 1. Mai 1950 nämlich, dies hatte mutmaßlich sein laut eigenem Bekunden „sozialgaullistischer“ und schwämerisch-patriotischer Redenschreiber Henri Guaino ausgegraben, habe Charles de Gaulle den Maifeiertag mit einer eigenen Kundgebung begangen.

Sarkozys Ansprache ist eine pure Kampfrede. Er beginnt mit scharfen Attacken auf die zur selben Stunde im Pariser Süden beginnende Gewerkschaftsdemonstration: „Dort demonstriert François Hollande unter roten Fahnen. Wir dagegen versammeln uns hier unter blau-weiß-roten Fahnen.“ Was nicht einmal stimmt, Hollande nahm am diesjährigen 1. Mai an überhaupt keiner Demonstration teil. Sondern an einer Gedenkfeier in Nevers für den früheren sozialdemokratischen Premierminister Pierre Bérégévoy, welcher am 01. 05. 1993 Selbstmord beging. Aber die Landesverräter sind nunmehr markiert: „Ich werde immer diejenigen bevorzugen, die ihr Vaterland gegenüber ihrer Partei vorziehen“, gemeint sind offenbar Parteien mit roten Fahnen. Denn die rote Fahne stehe „für die schlimmsten Tyranneien“ (Copé), „für einige der schlimmsten Verbrechen im 20. Jahrhundert“ (Sarkozy). Jene des Faschismus und Nazismus erwähnt der Redner an der Stelle nicht.

Dann kommt die Sprache auf die Gewerkschaften. „Ich sage zu den Gewerkschaften: Legt Eure rote Fahne nieder, und arbeitet für Frankreich!“ Sarkozy verteidigt offensiv die Idee der so genannten „Abkommen für Wettbewerbsfähigkeit“, welche er im Falle eines Wahlsiegs durchsetzen möchte – Betriebsvereinbarungen sollen in Krisenzeiten Abweichungen nach unten sowohl gegenüber dem Gesetz als auch dem Kollektivvertrag (Tarifvertrag) ermöglichen -, und nimmt bei „Öffnungsklauseln“ im deutschen Tarifwesen Modell. Und er wirbt für diejenigen, die „arbeiten und bereit sind, Risiken einzugehen“, und die deswegen „ihr Vermögen in Ruhe genießen dürfen“, statt Neidern anheimzufallen. Wobei er allem Anschein nach vor allem unternehmerische Risiken und Vermögen im Auge hat, die von ihm verteidigte „Arbeit“ also vor allem bei so genannten Arbeitgebern ansiedelt.

Um circa 15.45 Uhr verlasse ich den Platz, um die nachmittägliche Demonstration von Linken und Gewerkschaften nicht völlig zu verpassen. Der Hauptredner ist noch nicht fertig, so dass ich Sarkozy nicht mehr persönlich die „christlichen Wurzeln“ Frankreichs loben und gegen Einwanderer agitieren höre. Auch bekomme ich nicht selbst mit, wie eine Journalistin der Internetzeitung ,Médiapart’ – die in den Tagen zuvor neue Dokumente über eine Finanzierung des Wahlkampfs Sarkozy in 2007 durch das damalige libysche Regime Muammar Al-Qadhafis (Gaddafis) publiziert hatte – auf dem Platz körperlich angegriffen wird. (Am Donnerstag Abend - zwei Tage später - wurden übrigens abermals zwei JournalistInnen des Fernsehsenders BFM TV, die bekannte TV-Journalistin Ruth Elkrief und ihr Kollege Thierry Arnaud, von aufgeheizten UMP-Anhänger angegriffen. Am Rande einer Wahlkundgebung Nicolas Sarkozy. Ihr Sender hat inzwischen die Aufsichtsbehörde für das französische Fernsehen, den CSA, eingeschaltet. Viele Anhänger der UMP fühlen sich derzeit als angebliche „Opfer der Medienberichterstattung“, einer „Lynchberichterstattung“ über den armen Nicolas Sarkozy.)

Um kurz nach 16.15 Uhr treffe ich an der Place de la Bastille ein, wo kurz darauf die ersten Reihen der Gewerkschaftsdemonstration zum Arbeiterfeiertag eintreffen. In Gegenrichtung gehe ich die Demonstration hoch, die in diesem Jahr sehr durchmischt und viel von Einzelpersonen und kleinen Gruppen dominiert wird, nicht so sehr von den organisierten Gewerkschafterblöcken. Angestachelt durch die Herausforderung, zusehen zu müssen, wie die politische Rechte den 1. Mai zu besetzen versucht, sind viele Bürger/innen und Anhänger/innen der Linken unterschiedlicher Schattierung allein, mit FreundInnen oder Kindern gekommen.

Nur einzelne, sehr wenige Aufrufe und Schilder für den sozialdemokratischen Kandidaten François Hollande („H wie Hoffnung“ laut einem mitgeführten Schild) sind zu sehen. Dagegen überwiegend Kritik an der Verwaltung der kapitalistischen Krise, auch personenbezogene Kritik gegen Nicolas Sarkozy. In vielen Fällen wird er in die Nähe von Pétain gerückt, u.a. aufgrund seines „Tags der wahren Arbeit“. Auf Hollande setzen offenkundig nur extrem wenige Menschen aktiv ihre Hoffnungen. Auch wenn die Mehrzahl der Anwesenden sicherlich für ihn stimmen wird – aber wohl in dem Bewusstsein, dass man wohl in wenigen Monaten auch gegen seine Politik demonstrieren dürfte.

Um kurz nach 19 Uhr erreiche ich, in Gegenrichtung laufend, das Ende der Demonstration: Soeben ziehen die letzten Teilnehmer/innen vom Ausgangspunkt, der Place Denfert-Rochereau, aus los. Deren Gesamtlänge dürfte, von einem fixen Ort aus betrachtet, also circa vier Stunden betragen haben – denn von der Bastille bis zur Place de Denfert-Rochereau waren es, in Gegenrichtung zur Demo, in jedem Falle über eine Stunde Fußweg.

Insgesamt waren damit schätzungsweise 100.000 Menschen unterwegs – rund doppelt so viele wie bei den Parteigängern Nicolas Sarkozys. Die französische Polizei wird jedoch behaupten, es seien nur 48.000 Menschen bei der nachmittäglichen Demo von Linken und Gewerkschafter/inne/n gewesen (was immer noch hieße, vier mal so viele wie am 01. 05. 2011); und sie werde die Zahl der Anwesenden bei der Sarkozy-Kundgebung „nicht kommentieren“. Damit bleib für Letztere die, fantasievolle, Veranstalterangabe von „200.000“ offiziell stehen. Um dem gegenzuhalten, wird die CGT durch ihre eigene Veranstalterzahl für den gewerkschaftlichen 1. Mai („250.000“) diese Behauptung ihrerseits wieder übertrumpfen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.