Um 11.45
Uhr: Ankunft auf dem Vorplatz der Pariser
Oper. Dort wird in diesem Jahr um die Mittagszeit die
rechtsextreme Parteivorsitzende Marine Le Pen vom
Front National (FN) zu ihren Anhänger/inne/n
reden.
Erstmals seit dem Jahr 2007 wird der
FN wieder den Opernplatz für die Abschlusskundgebung
seines jährlichen Aufmarschs zu Ehren der
„Nationalheiligen“ Jeanne d’Arc nutzen. In den
vergangenen Jahren war der Platz dafür schlicht zu groß
geworden: In den Jahren 2010 und 2011 konnte der FN dazu
respektive 2.000 bzw. 3.000 Anhänger/innen mobilisieren,
dabei wäre der Opernplatz teilweise leer erschienen. Im
zurückliegenden Jahrzehnt hatte der FN eine zunehmend
schwere Krise durchlaufen, weil es ihm lange Zeit nicht
gelungen war, wichtige Strategiefragen (u.a. gegenüber
dem konservativen Block unter Nicolas Sarkozy) zu
entscheiden und die Nachfolge des alternden Jean-Marie
Le Pen an der Spitze zu regeln. Seine Tochter Marine Le
Pen folgte ihm dann im Januar 2011 nach.
Als ich auf dem Platz ankomme, ist
dieser bereits gefüllt, der Umzug „für Jeanne d’Arc“ ist
also bereits vorüber und vor der Oper angekommen.
Schätzungen fallen schwer, da die Menge in diesem Jahr
relativ unregelmäßig verteilt ist, es dürfte sich aber
um circa 5.000 bis 6.000 Menschen handeln. Nach dem
Wahlerfolg Marine Le Pens ist der extremen Rechten also
ein relativer Mobilisierungserfolg gelungen.
Dem Augenschein
nach gehören wenige Menschen auf diesem Platz zur
gesellschaftlichen Elite. Einige Zahnlücken fallen auch
bei jüngeren Menschen auf. Die Kleidung ist insgesamt
eher ärmlich, auch wenn einige wenige Herrschaften in
Anzug und Krawatte erschienen. Vor allem unter den
jüngeren Teilnehmern finden sich relativ viele
auffällige Symbole – „Thorhammer“ (unter faschistischen
Neuheiden beliebtes Abzeichen) um den Hals, unter
Neonazis beliebte Lonsdale-Klamotten. Manche Teilnehmern
tragen Militärklamotten, der zeitweilig vor mir stehende
und bereits ältere Herr ein T-Shirt einer Garnison von
Fallschirmjägern. Die durch die Parteiführung
angestrebte bürgerliche „Normalisierung“ im
Erscheinungsbild ist bislang nur in Ansätzen gelungen.
Um Punkt 12
Uhr setzte Marine Le Pen zu ihrer, circa einstündigen,
Rede an. Die FN-Chefin wiederholt, was sie bereits im
April in der Pariser Konzerthalle Le Zénith ausführte
(vgl. Teil C unseres Artikels): „Ich war die
einzige Kandidatin des französischen Volkes bei dieser
Wahl.“ Die beiden für die Stichwahl übrig
gebliebenen Kandidaten, François Hollande und Nicolas
Sarkozy, seien „nur Anwärter auf den
Gouverneursposten in einem von Europäischer Zentralbank
und EU-Bürokraten beherrschten Frankreich“. Doch
diese Oligarchie zeige heute „eine bleiche Miene“,
eben weil die rechtsextreme Kandidatin gut
abgeschnitten habe. Nicht ungeschickt bringt sie sich
gegen die etablierten Kandidaten, die als Sachwalter der
„Sachzwänge“ auftreten, in Stellung: „Wir sprachen
von der Nation, sie antworteten: EU-Verträge. Wir
sprachen von Männern und Frauen, von ihrem Ängsten,
Leiden, von ihren Nöten. Sie antworteten uns:
(Wachstums-, Statistik-)Kurven, Finanzmärkte,
Aktienindex.“
Es folgt um kurz vor 13 Uhr die
Stimmempfehlung für die Stichwahl am kommenden Sonntag,
auf welche die – zahlreich anwesenden – Medienvertreter
so dringlich warteten. Marine Le Pens Empfehlung besteht
jedoch darin, dass sie keine Wahlempfehlung abgibt:
„Ihr seid frei, erwachsene Bürger, mündig!“
Doch, fügt sie hinzu, sie selbst werde ungültig wählen,
und keinem der beiden Sachwalter des Systems am Sonntag
ihre Stimme erteilen.
Mittagessen,
Métro. Um kurz vor 14 Uhr: Ankunft im
großbürgerlichen sechzehnten Arrondissement, auf der
Place du Trocadéro. Schon im Métro-Abteil
ändert sich die Atmosphäre von Station zu Station. Viele
Leute, die blau-weiß-rote Nationalflaggen in ihren
Händen halten, steigen zu: Anhänger/innen von
Noch-Präsident Nicolas Sarkozy. Das Publikum ist
offenkundig ein ganz anderes als am späten Vormittag.
„Hier werden wir weniger verfaulte Zähne antreffen
als vor zwei Stunden“, flüstert ein befreundeter
Begleiter mir zu. Es dominiert der Look „Herr in Anzug
und Krawatte“ sowie „Großbürgerschnepfe mit
über-auffälliger & teurer Dauerwelle“.
Einige Tage zuvor rief Nicolas
Sarkozy – für allgemeine Überraschung sorgend – zunächst
dazu auf, zu einem „Feiertag der wahren Arbeit“
am 1. Mai auf die Straße zu mobilisieren. Dies
war neu und unerhört, da die konservative Rechte seit
Jahrzehnten zum Arbeiterfeiertag nicht auf der Straße
war (im Unterschied freilich zum Front National, der
alljährlich an diesem Datum „für die Nationalheilige
Jeanne d’Arc“ aufmarschiert). Dieser Begriff der
„wahren Arbeit“, den Sarkozy später offiziell
zurücknahm und den er nunmehr durch den Ausdruck „wahrer
Tag der Arbeit“ ersetzen sehen mochte, sollte
„diejenigen, die früh aufstehen und sich anstrengen“
ansprechen. Diese sollen in Gegensatz zu Faulenzen,
Sozialschmarotzern, aber auch zu Staatsbediensteten wie
Krankenschwestern und Lehrer/inne/n – da öffentlich
Bediensteten laut Sarkozy „nicht der Konkurrenz
ausgesetzt sind“ – gerückt werden.
Viele linke und gewerkschaftliche
Reaktionen betonten daraufhin, Sarkozy trete hier in die
Fußstapfen des Marschalls Pétains; tatsächlich war der
frühere „Internationale Arbeiterfeiertag“
der Arbeiterbewegung unter diesem ab 1940 zum „Tag
der Arbeit“ umgewidmet und erstmals zum
gesetzlichen Feiertag erklärt worden. Alsbald
zirkulierten im Internet allenthalben Plakate, die zum
1. Mai 1941 als „Tag der echten/wahren Arbeit“ aufriefen
und die historische Tradition, in welche Sarkozy sich
stelle, belegen sollten. Allerdings handelte sich um
eine kleine Fälschung, da das Originalplakat retuschiert
und das Wörtchen ,vrai’ (für „wahr/echt“)
hineingeschmuggelt worden war. Unabhängig davon betonten
sowohl der Präsidentschaftskandidat des Linksbündnisses,
Jean-Luc Mélenchon, als auch die grün-linksliberale
Präsidentschaftskandidatin Eva Joly in den vergangenen
Tagen offen die „pétainistische Wortwahl“ Nicolas
Sarkozys.
Um 14.30
Uhr: Auf dem Platz finden sich circa 40.000
Menschen; ihre Zahl wird später auf annähernd 50.000
wachsen, als auch die Anfänge der Seitenstraßen gefüllt
sind. Mehr als 40- bis 50.000 Leute passen, von den
räumlichen Dimensionen her, objektiv nicht auf den Platz
(weshalb die Angaben der Veranstalter, „200.000
Menschen“ hätten teilgenommen, ein pures Fantasieprodukt
sind, über das sogar Anhänger auf dem Platz lachen
mussten).
Als Vorredner spricht unter anderem
Ex-Premierminister Jean-Pierre Raffarin, französischer
Regierungschef von 2002 bis 2005. Er zieht eine
Parallele zwischen dem, in Sichtweite liegenden, Platz
der Menschenrechte – wo er selbst (als junger
Liberalkonservativer unter Valéry Giscard d’Estaing) im
Laufe der Jahre gegen Menschenrechtsverletzungen in der
UdSSR, in der VR China, und angeblich auch unter der
brasilianischen Militärdiktatur sowie in Südafrika,
demonstriert habe – und dem heutigen Tag. Er bezieht
sich positiv auf die als „BRICS-Staaten“ bezeichneten
„Schwellenländer“ (Brasilien, Russland, Indien, China,
Südafrika), wo man die Demokratie errungen habe und wo
man die Ärmel zum Arbeiten hochkrempele. Er lobt die
brasilianische Demokratie, im selben Atemzug (und nicht
ganz so explizit) auch das chinesische Modell.
„Der Westen leidet an einem Defizit an Arbeit“
gegenüber den vorgenannten Ländern, behauptet Raffarin.
Auch der Chef der Regierungspartei
UMP, Jean-François Copé, wird kurz nach ihm ausrufen, es
sei nötig, „mehr zu arbeiten und weniger
Staatsausgaben zu haben“. Er mokiert sich über
Arbeitszeitverkürzung und dem Streben nach früher Rente.
Und er wird Arbeit – wohlgemerkt, die Rede ist von
abhängiger Lohnarbeit unter real existierenden
Verhältnissen - wörtlich als „Mittel der
Emanzipation“ bezeichnen. Zahllose Spötter/innen
stellen daraufhin in den folgenden Tagen dann eine, wohl
durchaus übertriebene, Assoziation mit dem berüchtigten
Slogan „Arbeit macht frei“ her. (Natürlich
ging es Copé nicht um die Einrichtung von
Vernichtungslagern, sondern darum, ein moralisch
durchseuchtes „Arbeitsethos“ zu propagieren. Aber auch
ein solches war bei den Nazis angelegt...)
Nun kommt der Chef selbst ans
Mikrophon. Um solchen Einwänden wie den zuvor
geschilderten (1. Mai 1941 – 1. Mai 2012)
zu begegnen, beruft sich Starredner Nicola Sarkozy zu
Eingang seiner Ansprache auf einen anderen 1. Mai von
rechts, der nicht durch Marschall Pétain organisiert
wurde. Am 1. Mai 1950 nämlich, dies hatte mutmaßlich
sein laut eigenem Bekunden „sozialgaullistischer“ und
schwämerisch-patriotischer Redenschreiber Henri Guaino
ausgegraben, habe Charles de Gaulle den Maifeiertag mit
einer eigenen Kundgebung begangen.
Sarkozys Ansprache ist eine pure
Kampfrede. Er beginnt mit scharfen Attacken auf die zur
selben Stunde im Pariser Süden beginnende
Gewerkschaftsdemonstration: „Dort demonstriert
François Hollande unter roten Fahnen. Wir dagegen
versammeln uns hier unter blau-weiß-roten Fahnen.“
Was nicht einmal stimmt, Hollande nahm am diesjährigen
1. Mai an überhaupt keiner Demonstration teil. Sondern
an einer Gedenkfeier in Nevers für den früheren
sozialdemokratischen Premierminister Pierre Bérégévoy,
welcher am 01. 05. 1993 Selbstmord beging. Aber die
Landesverräter sind nunmehr markiert: „Ich werde
immer diejenigen bevorzugen, die ihr Vaterland gegenüber
ihrer Partei vorziehen“, gemeint sind offenbar
Parteien mit roten Fahnen. Denn die rote
Fahne stehe „für die schlimmsten Tyranneien“
(Copé), „für einige der schlimmsten Verbrechen
im 20. Jahrhundert“ (Sarkozy). Jene des
Faschismus und Nazismus erwähnt der Redner an der Stelle
nicht.
Dann kommt die Sprache auf die
Gewerkschaften. „Ich sage zu den Gewerkschaften:
Legt Eure rote Fahne nieder, und arbeitet für
Frankreich!“ Sarkozy verteidigt offensiv die
Idee der so genannten „Abkommen für
Wettbewerbsfähigkeit“, welche er im Falle eines
Wahlsiegs durchsetzen möchte – Betriebsvereinbarungen
sollen in Krisenzeiten Abweichungen nach unten sowohl
gegenüber dem Gesetz als auch dem Kollektivvertrag
(Tarifvertrag) ermöglichen -, und nimmt bei
„Öffnungsklauseln“ im deutschen Tarifwesen Modell. Und
er wirbt für diejenigen, die „arbeiten und bereit
sind, Risiken einzugehen“, und die deswegen
„ihr Vermögen in Ruhe genießen dürfen“, statt
Neidern anheimzufallen. Wobei er allem Anschein nach vor
allem unternehmerische Risiken und Vermögen im Auge hat,
die von ihm verteidigte „Arbeit“ also vor allem bei so
genannten Arbeitgebern ansiedelt.
Um circa
15.45 Uhr verlasse ich den Platz, um die
nachmittägliche Demonstration von Linken und
Gewerkschaften nicht völlig zu verpassen. Der
Hauptredner ist noch nicht fertig, so dass ich Sarkozy
nicht mehr persönlich die „christlichen Wurzeln“
Frankreichs loben und gegen Einwanderer agitieren höre.
Auch bekomme ich nicht selbst mit, wie eine Journalistin
der Internetzeitung ,Médiapart’ – die in den Tagen zuvor
neue Dokumente über eine Finanzierung des Wahlkampfs
Sarkozy in 2007 durch das damalige libysche Regime
Muammar Al-Qadhafis (Gaddafis) publiziert hatte – auf
dem Platz körperlich angegriffen wird. (Am Donnerstag
Abend - zwei Tage später - wurden übrigens abermals zwei
JournalistInnen des Fernsehsenders BFM TV, die bekannte
TV-Journalistin Ruth Elkrief und ihr Kollege Thierry
Arnaud, von aufgeheizten UMP-Anhänger angegriffen. Am
Rande einer Wahlkundgebung Nicolas Sarkozy. Ihr Sender
hat inzwischen die Aufsichtsbehörde für das französische
Fernsehen, den CSA, eingeschaltet. Viele Anhänger der
UMP fühlen sich derzeit als angebliche „Opfer der
Medienberichterstattung“, einer „Lynchberichterstattung“
über den armen Nicolas Sarkozy.)
Um kurz nach 16.15 Uhr
treffe ich an der Place de la Bastille ein, wo kurz
darauf die ersten Reihen der Gewerkschaftsdemonstration
zum Arbeiterfeiertag eintreffen. In Gegenrichtung gehe
ich die Demonstration hoch, die in diesem Jahr sehr
durchmischt und viel von Einzelpersonen und kleinen
Gruppen dominiert wird, nicht so sehr von den
organisierten Gewerkschafterblöcken. Angestachelt durch
die Herausforderung, zusehen zu müssen, wie die
politische Rechte den 1. Mai zu besetzen versucht, sind
viele Bürger/innen und Anhänger/innen der Linken
unterschiedlicher Schattierung allein, mit FreundInnen
oder Kindern gekommen.
Nur einzelne,
sehr wenige Aufrufe und Schilder für den
sozialdemokratischen Kandidaten François Hollande („H
wie Hoffnung“ laut einem mitgeführten Schild) sind zu
sehen. Dagegen überwiegend Kritik an der Verwaltung der
kapitalistischen Krise, auch personenbezogene Kritik
gegen Nicolas Sarkozy. In vielen Fällen wird er in die
Nähe von Pétain gerückt, u.a. aufgrund seines „Tags der
wahren Arbeit“. Auf Hollande setzen offenkundig nur
extrem wenige Menschen aktiv ihre Hoffnungen. Auch wenn
die Mehrzahl der Anwesenden sicherlich für ihn stimmen
wird – aber wohl in dem Bewusstsein, dass man wohl in
wenigen Monaten auch gegen seine Politik demonstrieren
dürfte.
Um kurz nach
19 Uhr erreiche ich, in Gegenrichtung
laufend, das Ende der Demonstration: Soeben ziehen die
letzten Teilnehmer/innen vom Ausgangspunkt, der Place
Denfert-Rochereau, aus los. Deren Gesamtlänge
dürfte, von einem fixen Ort aus betrachtet, also circa
vier Stunden betragen haben – denn von der Bastille bis
zur Place de Denfert-Rochereau waren es, in
Gegenrichtung zur Demo, in jedem Falle über eine Stunde
Fußweg.
Insgesamt waren damit schätzungsweise
100.000 Menschen unterwegs – rund doppelt so viele wie
bei den Parteigängern Nicolas Sarkozys. Die französische
Polizei wird jedoch behaupten, es seien nur 48.000
Menschen bei der nachmittäglichen Demo von Linken und
Gewerkschafter/inne/n gewesen (was immer noch hieße,
vier mal so viele wie am 01. 05. 2011); und sie werde
die Zahl der Anwesenden bei der Sarkozy-Kundgebung
„nicht kommentieren“. Damit bleib für Letztere die,
fantasievolle, Veranstalterangabe von „200.000“
offiziell stehen. Um dem gegenzuhalten, wird die CGT
durch ihre eigene Veranstalterzahl für den
gewerkschaftlichen 1. Mai („250.000“) diese Behauptung
ihrerseits wieder übertrumpfen.
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