„Rohe Bürgerlichkeit“
Kostenfaktor Alte und prekäre Beschäftigung in der Pflege

von Joachim Maiworm
 

5/6-12

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Von skandalösen Bedingungen in Altenheimen und beschämenden Lebensverhältnissen Pflegebedürftiger zu Hause einerseits, von der mangelnden Attraktivität des Pflegeberufes und der zugespitzten Mehrfachbelastung betreuender Angehöriger andererseits berichten die Medien seit einigen Jahren regelmäßig. Ob in gängigen TV-Magazinen oder den gut verkauften Büchern des Pflegeexperten Claus Fussek und des Journalisten Markus Breitscheidel.i Der Tenor: Den Hilfebedürftigen und den ausgebeuteten Pflegekräften wird das Leben zur Hölle gemacht! Der Kostendruck in der Pflege trifft die Patienten wie die dort Beschäftigten gleichermaßen! Es muss schleunigst etwas passieren! Warum kollektive Gegenwehr sich zurzeit so schwer organisieren lässt und kaum funktioniert erfahren wir jedoch von den Publizisten nicht. Ein Blick auf die gewerkschaftliche Schwäche auf diesem Feld hebt deshalb aktuell die Bedeutung des Widerstandes Einzelner – und ihrer Unterstützergruppen – um so stärker hervor.ii Die aber sehen sich in einer defensiven Situation gefangen, denn die gegen Seniorenheimbetreiber bzw. ambulante Dienste sich wehrenden Pflegekräfte sind trotz solidarischem Beistand gezwungenermaßen auf die rechtliche Auseinandersetzung fokussiert. Eine alte Weisheit: Fehlt der Druck von der Straße, sollen es die Richter/innen geradebiegen. Aber die Grenzen der rechtlichen Möglichkeiten sind für abhängig Beschäftigte im bürgerlichen Staat eng gesetzt. Auch wenn durch solidarische Kampagnen die herrschende Rechtsprechung zum Arbeitsrecht in wichtigen Fragen beeinflusst werden konnte,iii bleibt festzuhalten, dass über die Situation von Einkommensarmen und prekär Beschäftigten letztlich nicht in den Sälen nationaler oder supranationaler Gerichte entschieden wird. Denn prinzipiell gilt: Sozialpolitik findet nach Kassenlage statt. Auch Grundrechte, die nicht zur Disposition gestellt werden dürfen, zählen wenig, wenn das nationale Interesse, d.h. der Wirtschaftsstandort Deutschland, auf dem Spiel steht. Die Sozialdemokraten beispielsweise stimmten im Gesetzgebungsverfahren zur Hartz-Reform 2011 auch solchen Maßnahmen zu, die sie selbst als nicht verfassungsfest einstuften. Nicht anders die Bundesregierung: Sie selbst wertete im November 2010 auf Anfrage der Linksfraktion das Asylbewerberleistungsgesetz als verfassungswidrig. Grundrechte hin oder her: Flüchtlinge und Langzeiterwerbslose werden schlicht als unzumutbare ökonomische Kostenfaktoren gewertet. Fraktionen im Parlament winken verfassungswidrige Gesetzesinitiativen durch, die Regierung erwartet von den Verwaltungen, dass sie sich der Kosteneffizienz wegen nicht an Recht und Gesetz halten. Die betroffenen Bevölkerungsgruppen hingegen lernen, dass ihre soziale Sicherheit jederzeit in Frage gestellt werden kann. Eine gesellschaftliche Gegenmacht, die so stark ist, dass sie sich nicht hauptsächlich auf individuellen Klageverfahren stützen muss, fehlt deshalb ganz besonders auch im Pflegebereich.

Die bislang mangelhafte Organisierbarkeit der allermeisten Arbeitskräfte dort ist fatal. Denn der Pflegesektor bildet exemplarisch eine Schnittstelle von anwachsenden prekären Lohnarbeitsverhältnissen und der zunehmend elenden Existenz eines Teils der Bevölkerungsgruppe, die in Zeiten weitreichender staatlicher Ausgabenkürzungen immer offener als für die Volkswirtschaft „unproduktiv“ und damit belastender Kostenfaktor kategorisiert wird: die der alten und hilfebedürftigen Menschen. Die Brisanz des Themas ist so offenkundig wie das spürbare Desinteresse der Mehrheitsgesellschaft und auch weiter Teile der Linken, sich dem Problem zu stellen.
 

Die spätestens seit Einführung der Pflegeversicherung beschleunigte Entwicklung des traditionellen Pflegesektors zu einem hart umkämpften Pflegemarkt wird gestützt von einem bio- bzw. wirtschaftsethischen Diskurs. Drei Entwicklungen drängen sich auf:

  1. Ein bio- und wirtschaftsethischer Diskurs legitimiert die staatliche Kürzungspolitik.

  2. Die Kommunen senken die Ausgaben („Hilfe zur Pflege“) für die Betroffenen.

  3. Ein ausgeprägter prekärer Beschäftigungssektor auf dem Pflegemarkt wird forciert (Niedrigstlöhne, schlechte Arbeitsbedingungen).

Altersbezogene Rationierung

Mittlerweile widerspricht niemand mehr der Existenz einer „Zweiklassenmedizin“, die bestimmte Bevölkerungsteile von medizinischen Leistungen ausschließt. Zwei Gruppen von Experten sind seit Jahren damit beschäftigt anhand wissenschaftlicher Kriterien zu begründen, warum vornehmlich alten Menschen kurative Behandlungen verweigert werden müssen: die Bio-Ethiker und die Ökonomen. Sie berechnen und legitimieren auch die kalkulierte Unterversorgung in der Pflege.

Das kleine Einmaleins der Pflegerechnungiv: Rund 2,3 Millionen Hilfebedürftige werden über die Pflegeversicherung versorgt. 45% davon ausschließlich von Verwandten, 23% ganz oder teilweise ambulant, 32% stationär, also in Pflege- bzw. Seniorenheimen. In Pflegestufe III belaufen sich die Heimpflegekosten im Schnitt auf fast 2.900 Euro. Die anfallende Differenz zu den Pflegesätzen (1.023 Euro Pflegestufe I, 1.279 Euro Pflegestufe II und 1.550 Euro Pflegestufe III) muss über Rente, Einkommen, Vermögen , Familienangehörige oder Sozialhilfe („Hilfe zur Pflege“) ausgeglichen werden. Um die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten deckeln zu können, bilden die Versicherungsleistungen nicht den Bedarf ab, sondern orientieren sich am Modell der Grundsicherung. Sie sollen primär die Grundversorgung sicherstellen, die privaten bzw. familiären Hilfen für eine darüber hinausgehende Pflege sorgen, d.h. für ein zumindest einigermaßen erträgliches Leben.

70% der von der Pflegeversicherung erfassten Bedürftigen werden deshalb zu Hause betreut. Einzelne Schätzungen gehen von 2,5 Millionen zusätzlich durch Angehörige versorgte Menschen ohne offizielle Pflegestufe aus.v Wer über nur ein geringes Einkommen verfügt und die Ersparnisse zusammenhalten will, pflegt die Angehörigen zu Hause, ggf. auch ohne Unterstützung durch ambulante Dienste. Die meisten auf Hilfe angewiesenen Menschen hängen von der Arbeitskraft der weiblichen Familienmitgliedern ab, ohne deren unbezahlte Tätigkeit das ganze Pflegsystem zusammenbrechen würde. Die Folge: Der überwiegende Teil der so arbeitenden Frauen ist innerhalb weniger Jahre erschöpft, sozial isoliert oder sieht sich erheblichen finanziellen Belastungen ausgesetzt.

Der gesetzlich festgeschriebene Grundsatz „ambulant vor stationär“, d.h. das Primat der häuslichen Pflege, setzt auf die kostenlose Arbeitsbereitschaft der Angehörigen, Nachbarn und Freunde der Betroffenen, um die sozialstaatliche Leistungen flach halten zu können.

Die Debatten der letzten Jahre um Autonomie auch im letzten Lebensabschnitt, um Sterbehilfe und Patientenverfügungen, erwecken jedoch den Eindruck, das größte Problem schwerkranker oder hilfsbedürftiger Menschen wäre eine (apparate)medizinische und betreuerische Überversorgung. Richtig ist dagegen, dass schon lange eine stete, eher im Verborgenen ablaufende und schleichende Rationierung von Leistungen für Alte und Kranke durchgeführt wird. Von Wissenschaft und Ärzteverbänden wird jedoch Transparenz gefordert: Politik und Medien sollen nicht länger „um den heißen Brei“ herumreden, sondern sich zu Zuteilungsregeln und Ausschlussverfahren, sprich einer „optimierten Allokation“ der zur Verfügung stehenden Ressourcen, bekennen. Klare gesetzgeberische Vorgaben seien zu beschließen, die Auskunft darüber geben, wer in welcher Situation Anspruch auf bestimmte medizinische Leistungen hat. Der Verzicht auf eine offene Debatte helfe wenig. Denn rationiert werde sowieso schon, Patienten und Pflegebedürftige spürten das täglich – nur entschieden und verantworteten zurzeit Ärztinnen und Ärzte bzw. Pflegekräfte vor Ort. Die Politiker meiden tatsächlich den Begriff „Rationierung“ in der Öffentlichkeit – denn er erinnert zu sehr an Mangelwirtschaft im Krieg und ein Leben in Not. Der Deutsche Ärztetag thematisierte im Jahr 2009 die Frage intensiv und forderte die Politik in diesem Sinne heraus. Ebenso wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die bereits in den neunziger Jahren ein Forschungsprojekt sponserte mit dem Titel „Altersbezogene Rationierung von Gesundheitsleistungen im liberalen Rechtsstaat“. Ende Januar 2011 legte dann der Deutsche Ethikrat eine Stellungnahme zum Kosten-Nutzen-Verhältnis im Gesundheitswesen vor. Auch der auf Basis eines eigenen Gesetzes agierende Think Tank (Ethikratgesetz von 2007), der unter anderem Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln erarbeiten soll, geht davon aus, dass notwendige Leistungen im Gesundheitssystem künftig aus Kostengründen rationiert werden müssen. Der Gesetzgeber wird deshalb zu einer offenen Diskussion aufgefordert. Eine verdeckte Rationierung sei grundsätzlich abzulehnen.vi

Die Stellungnahme zielt darauf ab, die in zahlreichen Staaten ablaufenden Debatten über die „Grenzen der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens“ auch in Deutschland zu forcieren. Denn hierzulande stecke die Diskussion noch vergleichsweise in den Kinderschuhen und werde noch nicht mit der „hinreichenden Intensität und Konsequenz“ geführt. Sie würde jedoch in dem Maße unumgänglich, wie bereits eine knappheitsbedingte Unterversorgung vorliege. Letztlich seien Entscheidungen über den Umfang solidarisch finanzierter Leistungen ethische Entscheidungen, die im gesellschaftlichen Diskurs und auf politischem Wege getroffen werden müssten.

Ergo: Der vom Bundestag eingesetzte Ethikrat soll den gesellschaftlichen Konsens für Kostenreduzierungen im medizinischen und pflegerischen Bereich organisieren bzw. zu deren ethischer und politischer Legitimation beitragen. Die Sache selbst, angebliche Mittelknappheit und die bereits erfolgende selektive Rationierung, wird nicht in Frage gestellt. Bezogen auf den Pflegesektor gilt nicht die Altersrationierung selbst als skandalös, sondern lediglich die Tatsache, dass sie verdeckt abläuft. Seit Jahren wird also eine Debatte über die Rationierung von pflegerischen Leistungen geführt, ohne dass diese überhaupt in notwendiger Qualität allen Bedürftigen angeboten werden.

Der Diskurs der „Expert/innen“ in ethischen und ökonomischen Fragen fügt sich in das utilitaristische Denken ein, für das kürzlich einmal mehr der bekannte australische Bioethiker Peter Singer warb. In einem Artikel in der Welt stellte er eine in den „entwickelten Ländern“ zu beobachtende Fettleibigkeit vieler Menschen als gemeinschaftsschädigende, weil zu höheren Kosten im Gesundheitswesen führende Lebensform an den Pranger.vii Die Betreffenden werden an ihre Verantwortung für die gesellschaftlichen Folgekosten, für die Aufrechterhaltung der Produktivität des „Volkskörpers“ erinnert (Vermeidung eines gemeinschaftsschädigenden Lebenswandels). Analog zu Singers „Anrufung des Subjekts“ werden im herrschenden Diskurs die alten Menschen gefragt: „Was kannst du beitragen zur Milderung der Lasten des demografischen Wandels?“. Die Regierung fordert seit Jahren ältere Menschen auf, ihren gesellschaftlichen Beitrag aktiv zu leisten, sich ehrenamtlich zu engagieren. Ein Bestsellerautor verlangte Ende letzten Jahres in einer Talkshow gar die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes für Rentner/innen.viii Die Seniorinnen und Senioren werden ermahnt, ihre Bringschuld zu begleichen. Neben dem erhobenen Zeigefinger prägt das Leitbild der „jungen Alten“, die aktiv und konsumstark als positive Wirtschaftsfaktoren agieren, die Diskussion. Dass die Pflegebedürftigen, vor allem die einkommensarmen, zunehmend das Gegenbild dazu abgeben und als passiv Versorgte und reine Kostenträger dargestellt werden, stellt die medial inszenierte und politisch gewollte Kehrseite dar.

Der Finanzwissenschaftler und in allen Medien präsente Politikberater Bernd Raffelhüschen, dessen Deutsches Institut für Altersvorsorge als neoliberale Denkfabrik und Lobbyistenverein für die Versicherungswirtschaft gilt, prognostiziert seit Jahren den bevorstehenden Zusammenbruch der gesetzlichen Sozialsysteme, insbesondere auch der Pflegeversicherung. Seine Prophezeiung: In den nächsten Jahrzehnten verdoppelt sich die Zahl der Pflegefälle, während die Anzahl der erwerbstätigen Beitragszahler demografisch bedingt um fast ein Viertel sinkt. Die umlagefinanzierte Pflegeversicherung kann deshalb die zu erwartende überdurchschnittliche Kostensteigerung des personalintensiven Pflegesektors bei gleichzeitigem Rückgang des familiären Pflegepersonals nicht auffangen. Der „Kostenexplosion im Pflegesektor“ lässt sich nur durch ein zusätzliches kapitalgedecktes System begegnen. Seine Lösung: Pflegefälle erhalten zwei bis drei Jahre keine Leistungen, die in der Zeit anfallenden Kosten werden von einer privaten Zusatzversicherung abgedeckt (Karenzzeit-Modell). Auf diese Weise bleiben die Beitragssätze bis 2046 bzw. 2070 stabil. Bei der dreijährigen Variante können bis 2070 die Leistungszahlungen um rund 740 Milliarden Euro gesenkt werden.ix Bemerkenswert: Die „neoliberale Mietfeder“x Bernd Raffelhüschen, mit hellseherischen Kräften ausgestattet, berechnet präzise die Entwicklung der nächsten sechs Jahrzehnte und geht von stetigen überdurchschnittlichen Lohnsteigerungen ausgerechnet im Pflegesektor aus. Er setzt also für seine „Studie“ eine zukünftige Entwicklung voraus, die er als Neoliberaler bekämpft, braucht aber das Argument, um die Privatisierung der Versorgungsleistungen brachial durchsetzen zu können. Ein Ziel, das definitiv das volkswirtschaftlich verträgliche Frühableben alter und kranker Menschen befördern würde. Ein Autor der „Nachdenkseiten“ sieht süffisant die zu erwartende Folge des Karenzzeit-Modells voraus: „Mehr als die Hälfte aller Männer und mehr als 40% aller Frauen, die zu Pflegefällen werden, sterben, bevor sie überhaupt einen Cent aus der staatlichen Versicherung bekämen.“xi

Kommunen diskriminieren Pflegebedürftige

Der Staat auf allen seinen Ebenen hält sein Geld zusammen – wenn es um die „nicht-systemrelevanten“ Bürger/innen geht. In den letzten zwei Jahren meldeten Zeitungen regelmäßig, dass die Träger der Sozialhilfe in immer mehr Kommunen die sogenannte Hilfe zur Pflege nach SGB XII nur noch gewähren, wenn die Leistungsempfänger/innen in ein möglichst kostengünstiges Heim ziehen. Selbst über Zwangsumzüge bereits in einem Pflegeheim lebender alter Menschen wurde berichtet. Die Sozialhilfeträger berufen sich dabei auf den sogenannten Mehrkostenvorbehalt nach § 9 SGB XI, um die gesetzlich garantierte Wahlfreiheit zu unterlaufen. Danach soll „Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten [..] entsprochen werden, soweit sie angemessen sind“. Werden jedoch „unverhältnismäßige Mehrkosten“ erwartet, können die Träger der Sozialhilfe Anträge ablehnen. Auf Basis des unbestimmten Rechtsbegriffes der „Unverhältnismäßigkeit“ besitzen die Kommunen also einen Ermessensspielraum, der offensichtlich in Zeiten eines Umbaus in Richtung neoliberaler Wettbewerbsstaat zunehmend ausgereizt wird, um Kosten zu senken.

Vor fast zwei Jahren kündigte beispielsweise die Stadt Duisburg als erste Kommune in Nordrhein-Westfalen an, Sozialhilfeempfänger/innen nur noch in billige Pflegeheime unterbringen zu wollen. Wohlfahrtsverbände kritisierten daraufhin, dass Pflegeheime ihre Standards senken sollten, um dem städtischen Preisdiktat zu entsprechen. Das Duisburger Vorgehen wurde weithin als Präzedenzfall dafür gewertet, das Wahlrecht Pflegebedürftiger rechtswidrig einzuschränken. Am 16. April unterband das dortige Sozialgericht schließlich die städtische Einsparmaßnahme, indem es die Beschränkung der freien Heimwahl für Leistungsberechtigte der Hilfe zur Pflege als rechtswidrig einstufte. xii

Auch im Südwesten der Republik, im Main-Tauber Kreis, in Mannheim und Karlsruhe, versuchten die Verwaltungen die Pflegeheimwahl zu steuern. Die Seniorinnen und Senioren wurden aufgefordert, sich die billigsten Heime auszusuchen. Öffentliche Proteste erzielten allerdings einen Erfolg, denn die Stadt Mannheim musste am 14.12.2011 einen Sparbeschluss aus dem Jahr 2010 zurücknehmen, nach dem auf Sozialhilfe angewiesene Bürger/innen nur noch in den elf preisgünstigsten von insgesamt 24 Pflegeheimen Aufnahme finden sollten.xiii Sozialämter in Baden-Württemberg führen Listen von Heime, die als zu teuer eingestuft und mit Sozialhilfebedürftigen nicht belegt werden, obwohl deren Pflegesätze in gemeinsamen Verhandlungen zwischen Pflegeheimen und Sozialhilfeträgern ausgehandelt und vereinbart wurden.xiv Ähnliche Meldungen folgten in den letzten beiden Jahr aus allen Teilen der Republik. Ein beabsichtigter Effekt: Der auf Pflegeheime und ambulante Dienste lastende Kostendruck, die Gewinnorientierung der privaten Betriebe bzw. die Bemühungen um Effizienzsteigerungen bei den freigemeinnützigen Unternehmen verengen sich in der Folge auf einen Punkt – die Senkung der Personalkosten.

Strategien der Lohnsenkung

„Zersplitterung“, „Brüche“, „Heterogenität“: Begriffe wie diese kennzeichnen den Pflegesektor treffend. Die Länderkompetenz im Heimrecht (Inflation von Bestimmungen), die Träger- und Betreuungsstruktur (privat/öffentlich/freigemeinnützig, häuslich/ambulant/teil-, vollstationär), die Spaltung der Beschäftigten (Fach-, Hilfskräfte, Leiharbeiter/innen, freie Pflegekräfte, unbezahlt privat Arbeitende), die Tariflandschaft (TvöD/Haustarife/Tarife Leiharbeit/AVRxv), all das kann einen um Übersicht bemühten Laien kirre machen. Und auch die betroffenen Beschäftigten verwirren und mit Blick auf die eigenen Anspruchsrechte verunsichern. Dazu tritt die Zergliederung bzw. Taylorisierung der Tätigkeiten selbst („Pflege im Minutentakt“). Die Pflege, zu weit über 80% von Frauen geleistet, erweist sich insofern prototypisch als prekärer Beschäftigungssektor.xvi Der Arbeitsmarkt reißt auf: Atypische Beschäftigung (Teilzeit, Minijobs, Leiharbeit, Freiberuflichkeit) nimmt rapide zu, die Löhne und Gehälter für die Hilfskräfte werden abgesenkt. Die euphorisch gerühmte „Jobmaschine Pflege“ erweist sich als Luftnummer. Die alarmistische Dauerwarnung vor dem „Fachkräftemangel“ wird genutzt, um Kürzungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Die Fakten:

1. Die Teilzeit-Beschäftigung (inkl. Minijobs) wurde 1999 bis 2009 massiv ausgeweitet. Sie liegt im ambulanten Bereich bei 71% (1999: 64%) bzw. stationär bei 59% (1999: 45%). In dem Zeitraum stieg die Zahl der Beschäftigten in der Altenpflege gleichzeitig um etwa 130.000 (insgesamt rund 890.000). Ein flexibler Einsatz der Arbeitskräfte senkt die Personalkosten. Bei der personellen Unterbesetzung halten viele Betroffene zudem eine Vollzeittätigkeit belastungsmäßig gar nicht mehr aus. Andere müssen dagegen zusätzlich Minijobs annehmen, um über die Runden zu kommen. Die Anzahl der Minijobs (400-€) stieg zwischen 1999 und 2009 ambulant um 54,6% (Anteil an Beschäftigten insgesamt stabil bei 21-23%); stationär um 41,8% (Anteil an Beschäftigten insgesamt stabil bei etwa 9 bis 10%).

2. Flexible Arbeitsverträge sind stark angesagt: Ein Beispiel: Eine Gewerkschaftssekretärin von Ver.di wies Ende 2010 auf Anfrage des Verfassers darauf hin, dass bei der Caritas bedarfsorientierte Arbeitsverträge in der häuslichen Krankenpflege gängig sind. Die Pfleger/innen arbeiten ohne feste monatliche Arbeitszeit, müssen nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz mindestens zehn Stunden pro Woche beschäftigt werden und die jeweiligen Einsätze dürfen drei Stunden nicht unterschreiten. Im Extremfall werden diese Leute nur für 43,3 Stunden im Monat bezahlt.

3. Die Leiharbeit bewegt sich insgesamt auf noch recht bescheidenem Niveau (Ende 2009 knapp 20.000 im Gesundheitsbereich insgesamt, der größte Teil davon in der Pflege). Seit 2003 die letzten Schranken für die Ausbreitung der Leiharbeit abgebaut wurden (Neuregelung Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – AÜG), stieg diese in der Pflege aber um das Fünffache (!). Leiharbeit ist also nicht länger auf bestimmte männlich dominierte Industriearbeit beschränkt, sondern erobert sukzessive auch die hauptsächlich von Frauen geleistete Arbeit im Dienstleistungssektor. Sie ist in der Pflege auf dem Vormarsch, und dass, obwohl dort kaum von „Auftragsschwankungen“ die Rede sein kann und ein „Flexibilitätspuffer“ nicht vorgehalten werden muss. Die Vorteile der Leiharbeit auch in der Pflege: Die Geschäftsführer entlasten sich gern von ihren Arbeitgeberpflichten (Personalbeschaffung, Kündigungsverfahren), reduzieren ihren Posten „Personalaufwendungen“ (rechnen die Beschäftigten gern in der Bilanz als „Sachmittel“ ab) und zahlen geringere Löhne.xvii

4. Der seit August 2010 bestehende Mindestlohn (ab 1.1.12: West: 8,75 €/Ost: 7,75 €) stabilisiert den Niedriglohnsektor. Er nivelliert die Löhne nach unten. Denn die Billigheime erhalten durch das zurzeit im Bundestag verhandelte Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz einen kräftigen Schub. Es sieht vor, dass Pflegeinrichtungen für Arbeitnehmer/innen, für die die Mindestlohnregelung gilt (Pflegehilfskräfte), keinen Nachweis mehr über eine ortsübliche Vergütung führen müssen. Bislang dürfen nur Pflegeeinrichtungen einen Versorgungsvertrag mit den Kassen abschließen, die ihren Beschäftigten eine ortsübliche, in aller Regel oberhalb des Mindestlohns liegende Bezahlung garantieren.

Ver.di zog bereits knapp zwei Wochen nach Inkrafttreten der Mindestlohnregelung eine kritische Bilanz. Offensichtlich ließen die Unternehmen in der Branche nichts unversucht, um den Mindestlohn zu umgehen. Sofort wurden in vielen Fällen Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Schichtzulagen, Leistungsprämien, Fahrgelder, Zuschüsse für dienstlich genutzte private Fahrzeuge auf den Stundenlohn umgelegt. Auch beliebt: Die Fahrzeiten zwischen den Patienten wurden nicht mehr bezahlt, sondern nur noch die beim Patienten verbrachte Zeit.xviii

Im Vergleich zum Bundesangestelltentarif (BAT) wurden bereits zuvor die unteren Lohngruppen des TvöD abgesenkt. Die kirchlichen Träger (Diakonie, Caritas) zahlen nach ihren AVR den Hilfskräften ohne Ausbildung vom ersten Beschäftigungsjahr an noch weniger als es der TvöD vorsieht (im zweiten Beschäftigungsjahr bereits über 144 Euro, im dritten Jahr 204 Euro weniger). Die Pflegehilfskräfte sind also die eigentlichen Verlierer/innen der Entwicklung in den letzten Jahren. Darum zählt die Pflegebranche auch zu den Sektoren mit einem relativ hohen Anteil an Hartz-IV-Aufstocker/innen. Ende 2009 mussten etwa 57.000 sozialversichert Beschäftigte in der Pflegebranche ergänzend Hartz IV beziehen.xix Nach Auskunft des Bezirksstadtrats von Berlin-Neukölln, erteilt im Rahmen einer Einwohnerfragestunde der Bezirksverordnetenversammlung im Februar 2012, beträgt allein die dortige Anzahl der erwerbstätigen Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen im Pflegebereich 6.718 Personen. Neukölln – das Zentrum der prekären Pflegehilfskräfte in der Republik?

5. Als wenn das alles noch nicht reichte: Es fehlen zwar Tausende von ausgebildeten Fachkräfte. Die aber werden zum Teil systematisch durch Hilfskräfte ohne Vorkenntnisse ersetzt. Pflegerische Tätigkeiten, die Fachkenntnisse voraussetzen, werden auf nicht-examiniertes Personal delegiert, die gesetzlich vorgeschriebene (und selbst unzureichende) Fachkraftquote von 50% konsequent und gewinnsteigernd unterlaufen. Nach Aussage des aus Recherchegründen zeitweilig als Pflegehilfskraft tätigen Autors Markus Breitscheidel wird in der Pflegebranche ganz offen zugegeben, dass im häuslichen Bereich bis zu 90% Hilfspersonal pflegerisch tätig ist.xx Das Argument des „Fachkräftemangels“ dient letztlich als Alibi für die Ausbreitung des Niedriglohnsektors Pflege, obwohl gleichzeitig die Anforderungen an die Beschäftigten kontinuierlich gestiegen sind.

Auch die Diakonie, offiziell immer auf Seiten der Mühseligen und Beladenen, trägt aktiv zum Downgrading der Pflegekräfte bei. Ein Zitat als Beleg: „Der Mangel an Fachkräften erzwingt den zunehmenden Einsatz auch von anders qualifizierten Kräften im Jugend-, Gesundheits- und Sozialbereich. Im Gesundheitsbereich gilt es daher, die Delegation ärztlicher Tätigkeiten auf nicht-ärztliches Personal zu erweitern und ebenso die Delegation pflegerischer Tätigkeiten auf nicht examiniertes Pflegepersonal.“xxi

6. Der „Ausbildungsreport Pflegeberufe 2011“ (Ver.di) dokumentierte vor kurzem auf Basis einer umfangreichen Befragung gravierende Mängel in der Ausbildung von Pflege-Azubis. Fast 35% der Auszubildenden in der Altenhilfe empfinden demnach ihre praktische Ausbildung als nicht gut geplant. Fachkräfte stehen entgegen gesetzlicher Vorschriften nicht in ausreichender Zahl für die praktischen Anleitungen zur Verfügung. Obwohl während der Ausbildung Überstunden nur ausnahmsweise rechtlich zulässig sind, müssen mehr als ein Viertel aller Befragten aus den Bereichen Gesundheits-, Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege regelmäßig Überstunden ableisten. In der Altenpflege selbst sind es sogar über 38%. Knapp 29% der befragten Altenpflege-Azubis gaben an, wöchentlich sechs bis zehn Überstunden leisten zu müssen.xxii Anders gesagt: Die jungen Leute erhalten schnell einen realistischen Einblick in das, was auf sie zukommen wird.

Noch einmal Leiharbeit: Die Kirchen gehen voran

Der größte Kostenblock im Pflegesektor sind die Personalaufwendungen (70 bis 80%). Wenn ein Schnitt angesetzt wird, dann hier. Einige Strategien der Unternehmer zur Kostensenkung wurden bereits vorgestellt. Im Zentrum der Debatten um die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens steht aber meistens die Privatisierung der Träger- bzw. der Betriebsstrukturen oder das Outsourcing von Funktionsbereichen und Teilen des Personals. Auch in der Pflege hat Leiharbeit Zukunft.

Bereits im Jahr 2003 gründeten die Caritasverbände Berlin und Vorpommern eine eigene Leiharbeitsfirma, die „Pro Cura Service GmbH“, deren Arbeits- und Entlohnungsbedingungen noch weiter abfallen gegenüber den AVR der Caritas und den bedarfsorientierten Verträgen.

Sie leiht in erster Linie Sozialarbeiter/innen, aber eben auch Pflegekräfte im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung an die Dienststellen der Berliner Caritas aus. Bis Mitte 2010 orientierte sich die GmbH an einen mit den sogenannten christlichen Gewerkschaften ausgehandelten Tarifvertrag für Zeitarbeit mit besonders niedrigen Tarifsätzen. Danach wurde auf den zwischen dem DGB und dem Bundesverband Zeitarbeit abgeschlossenen Tarifvertrag umgestellt. Er sieht zwar eine geringfügig bessere Bezahlung vor, aber nach wie vor verdienen die Betroffenen bis zu 700 Euro weniger als die direkt bei der Caritas Beschäftigten.xxiii Nähere Informationen lassen sich über die Firma aber nur schwerlich sammeln. Nicht einmal eine Selbstdarstellung durch eine Internetpräsenz ist auffindbar.

„Es gibt keine Schweinerei von prekärer Arbeit, die in der Diakonie nicht praktiziert wird“: Diese Bemerkung eines Mitarbeitervertreters des evangelischen Wohlfahrtsverbandes zielt vor allem auf die auch dort praktizierte miese Methode der personellen Auslagerungen.xxiv

Für ein wenig Aufsehen sorgte die Diakonische Altenhilfe Lilienthal (Niedersachsen), die im Jahr 2004 eine eigenen Leiharbeitsfirma, die Dia Logistik, gründete. Seitdem wurden dort neben Hauswirtschafts- und Küchenpersonal auch Pflegekräfte eingestellt. Von 450 in der Altenhilfe Lilienthal tätigen Personen waren zwischenzeitlich rund 350 bei dem Tochterunternehmen beschäftigt. Für sie galt nicht mehr der Kirchen-, sondern der Zeitarbeitstarif. Angelernte Kräfte verdienten so rund 380 Euro im Monat weniger als das Stammpersonal. Außerdem waren die Arbeitsbedingungen generell schlechter, z.B. fielen vermehrt freie Sonntage weg, Überstundenzuschläge und andere Zulagen wurden nicht immer ausbezahlt. Anfang dieses Jahres gab der Geschäftsführer den Ausstieg aus der diakonischen Gemeinschaft, d.h. die Privatisierung der Altenhilfe Lilienthal bekannt, weil er sich angeblich außerstande sah, die „vergleichsweise hohen Gehälter der Diakonie“ zu zahlen. Die Leiharbeitsfirma solle aufgelöst werden, ihr Entgeltniveau für die Mitarbeiter/innen jedoch beibehalten werden.xxv

„Die Diakonie ist schlimmer als Schlecker!“, um noch einmal den bereits erwähnten Mitarbeitervertreter zu zitieren. Deshalb lässt sich nur Böses erahnen für die ehemaligen Beschäftigten der insolventen Drogeriemarkt-Kette. Denn die Diakonie im mittelfränkischen Neuendettelsau bietet ihnen an, sich zu Pflegefachhelferinnen in der Altenpflege ausbilden zu lassen.xxvi Pikant, denn der Großdrogist hatte sich 2010 mit ähnlichen Tricks wie die Kirchenleute hervorgetan. Damals waren 4.300 Mitarbeiter/innen entlassen und von einer unternehmenseigenen Leiharbeitsfirma zu Niedrigstlöhnen wieder eingestellt worden. Auch der Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) biederte sich förmlich dem Schlecker-Insovenzverwalter an: „10.000 arbeitslose Mitarbeiterinnen nach der Schleckerpleite brauchen eine Zukunft.“ Gemeinsam solle nach Qualifizierungsmöglichkeiten für die ehemaligen Beschäftigten gesucht werden, und natürlich nach Möglichkeiten der finanziellen Förderung.xxvii Ganz nach dem Motto: Die Ausbildung muss noch geschehen, die Gewöhnung an beschissene Arbeitsbedingungen ist schon erfolgt.

Die Folgen der forcierten Kostenorientierung I: Stilllegung der Alten

„Rohe Bürgerlichkeit“: Der Begriff des Soziologen Wilhelm Heitmeyer verweist auf die zersetzende Kraft zunehmender sozialer Ungleichheit. Die Gesetze kapitalistischer Nützlichkeit und Verwertung treiben „die da unten“ ins gesellschaftliche Aus, die Pflegebedürftigen in den frühzeitigen Tod. Sie werden kalkuliert vernachlässigt, sie sind Opfer der strukturellen und oft genug von direkter Gewalt. Ein Beispiel: Um den Personalmangel kompensieren zu können, erhalten „unruhige“ Bewohner/innen von Einrichtungen häufig Beruhigungsmittel, die Nebenwirkungen wie Verwirrung und Sturzgefahr auslösen können. Im krassen Gegensatz dazu wird die Vergabe von Alzheimer-Medikamenten rationiert. Psychotherapie bieten die Altenheime, wenn überhaupt, nur ansatzweise an. Das Recht auf Kommunikation, nach den Lehrbüchern der Pflege die Basis jeglichen pflegerischen Tuns, wird den Patienten aus Kostengründen weitgehend vorenthalten. Dagegen sind laut Qualitätsbericht des Medizinischen Dienstes (MDS) mindestens 20% der Bewohner/innen von Pflegeheimen freiheitseinschränkenden bzw.

-entziehenden Maßnahmen ausgesetzt (Fixierungen, Fesselungen usw.). Bei einer Gesamtzahl von etwa 700.000 Heimbewohner/innen sind das 140.000.xxviii Unter den gegebenen Bedingungen bedeutet Altenpflege heute „Ageismus“, d.h. Menschen werden schlicht wegen ihres Lebensalters, d.h. der fehlenden Verwertbarkeit, diskriminiert.

Die Folgen der forcierten Kostenorientierung II: Stilllegung der Jüngeren

Die Pflegenden selbst erleiden einen Burnout – wegen der alltäglichen Überlastung und dem Scheitern ihres pflegerischen Anspruchs in der Praxis. Sie „stimmen mit den Füßen ab“, verlassen also die Pflege nach einigen aufreibenden Arbeitsjahren, oder sie entwickeln komplementär dazu „Strategien der Kälte. Sie lernen hinzunehmen, wogegen sie angehen müssten, weil es dem widerspricht, was sie verwirklichen wollen.“xxix Nicht nur ein „Ausgebranntsein“, sondern auch ein „Sich-kalt-machen“ ist ein Resultat der Anforderungen der Pflegetätigkeit. Offenbar tut sich ein Abgrund auf zwischen der beruflichen Ambition und der von knappen Ressourcen bestimmten Funktionalität des Arbeitsalltags. Die Pflegekräfte lernen, sich „moralisch zu desensibilisieren“. Die Autorin Karin Kersting, selbst Krankenschwester und Lehrerin für Pflege, betrieb „Kälte“-Studien, um erklären zu können, wie am pflegerischen Anspruch festgehalten werden kann, während er gleichzeitig unterwandert wird. Und wie auf diese Weise die betroffenen Beschäftigten letztlich lernen zu vermeiden, sich gegen unerträgliche und objektiv Kälte verursachende Strukturen zu wehren. Die Autorin bezieht sich auf Adorno, der Kälte als das „Grundprinzip bürgerlicher Subjektivität“xxx bezeichnet, sie aus den materiellen Grundlagen der Reproduktion in der bürgerlichen Gesellschaft herleitet und insofern nur bedingt den Menschen selbst zuschreibt. Die Menschen sind demnach einander entfremdet und dennoch in der Lage, das damit einhergehende Unbehagen einzudämmen und sich anzupassen.

Wird aus Unzufriedenheit und Widerwillen Zorn, kann jedoch auch Widerständigkeit entflammen.

Sand im Getriebe: Proteste und Widerstände

Im vergangenen August wurde aus dem bayerischen Inzell berichtet, dass dort eine Angehörigeninitiative gegen die Schließung eines Seniorenheimes kämpfte, obwohl der medizinische Dienst gravierende Missstände festgestellt hatte. Es handelte sich um ein Billigheim, die Verwandten verteidigten schlicht die kostengünstige Unterbringung ihrer lieben Pflegebedürftigen.xxxi Auf die mittelbar Betroffenen ist also nicht in jedem Fall Verlass, wenn es um Proteste und Engagement gegen die Pflegekatastrophe geht. Dagegen sind „Bündnisse für gute Pflege“, Mahnwachen und Unterschriftenaktionen Teil einer Kampagnen-Inflation in den letzten Jahren. Über ideologische Grenzen hinweg argumentieren sie menschenrechtlich, tun damit nicht wirklich jemanden weh und einigen sich auf Ziele, die prinzipiell auf eine breite Zustimmung stoßen. Nach der Maßgabe, nicht polarisieren, sondern sich kümmern. Diese Selbstbeschränkung spiegelt unter anderem den offensichtlich lächerlich geringen Organisationsgrad gerade bei den jüngeren Pflegekräften wider, die oft noch unter sehr viel schlechtere Arbeitsbedingungen schaffen müssen als die altgedienten Beschäftigten. So fehlt das Potenzial, in kurzer Zeit die wichtigsten Abläufe in Krankenhäusern und anderen Pflegeeinrichtungen blockieren zu können, um Druck zu erzeugen. Streiks in der Pflegebranche sind selten, nur vereinzelt fanden in letzter Zeit gewerkschaftliche Tarifauseinandersetzungen statt, dann aber durchaus hartnäckig (Beispiel: Langzeitstreik bei der Pflegefirma „Alpenland“ in Berlin-Marzahn 2011). Jenseits organisierter Aktivitäten stach in den letzten Jahren der energische und über Jahre andauernde Widerstand einzelner Pflegekräfte hervor.

Das Beispiel der Pflegehilfskraft Angelika-Maria Konietzko

Frau Konietzko arbeitete einige Jahre als Pflegehelferin für einen privaten Pflegedienst in Berlin. Sie leistete in einer Wohngemeinschaft für demente Patienten in Nachtschichten die notwendige Betreuung, Pflege und Überwachung. Von ihrem „Arbeitgeber“ wurde ihr aber Lohn vorenthalten, denn er bezahlte sie lediglich für die geringer zu vergütenden Bereitschaftsdienste. Konietzko versuchte den ausstehenden Lohn einzuklagen und zugleich gegen die völlig unzureichende Betreuung der schwerstpflegebedürftigen Bewohner/innen anzugehen. Bei ihrem Engagement gegen diese „gefährliche Pflege“ erhielt sie Unterstützung von mehreren Pflegeverbänden. Das hielt den verklagten Geschäftsführer und seinen Anwalt nicht davon ab, die widerständige Angestellte mit Mobbing und Abmahnungen bis in die langfristige Arbeitsunfähigkeit und Krankheit zu treiben. Anschließend folgte die krankheitsbedingte Kündigung. Zudem machte der „Arbeitgeber“ vor Gericht wahrheitswidrige Angaben über den nötigen Versorgungsstandard in der Demenz-WG. Weil Frau Konietzko sich weigert aufgrund verlorener Verfahren die Anwaltskosten der Gegenseite zu bezahlen, droht ihr akut eine mehrmonatige Erzwingungshaft.xxxii

An diesem Fall lassen sich wesentliche Aspekte der allgemeinen Misere aufzeigen. Erstens erhält weibliche Sorgearbeit, die Männer nicht leisten wollen, nicht ansatzweise die angemessene gesellschaftliche Wertschätzung. Zweitens zahlen Pflegefirmen Niedrigstlöhne. Der Stundenlohn von Konietzko betrug laut Arbeitsvertrag von 2001 gerade einmal 6 Euro, ab 2003 brutto 6,77 Euro. Drittens werden arbeitsrechtliche Bestimmungen unterlaufen (Pausenregelung, Vorenthaltung eines Teils des zustehenden Lohns). Viertens müssen Hilfskräfte Arbeiten ausführen, für die sie nicht qualifiziert sind. Fünftens werden hilfebedürftigen Bewohner/innen wegen personeller Unterbesetzung und fehlenden Fachpersonals strukturell unterversorgt und vernachlässigt. D.h. die Beschäftigungsverhältnisse sind zum Teil so angelegt, dass sie kaum gesetzeskonform ausgefüllt werden können, die Pflegekräfte sich also rechtlich selbst gefährden. Sechstens interessieren sich die Arbeitsgerichte bislang nur formaljuristisch für die Alltagswirklichkeit einer Pflegekraft. Die Darstellungen des „Arbeitgebers“ zur Pflegesituation und die Verschleierung der „gefährlichen Pflege“ im Fall Konietzko wurden nicht hinterfragt, die Stellungnahmen unabhängiger, aber die Sicht der Pflegerin stützender Pflegeverbände schlicht ignoriert. Siebtens laufen Personen, die sich nicht alles gefallen lassen, Gefahr, von der Gegenseite pathologisiert zu werden. Auch Frau Konietzko wurde vom Geschäftsführer des Pflegedienstes und seinem Anwalt für „verrückt“ erklärt. Achtens müssen einzelne widerständige Lohnabhängige offensichtlich bereit sein, in den Knast zu gehen, damit Teile der Öffentlichkeit sich überhaupt mit deren Zwangslagen beschäftigen.

Fazit: Die rechtlichen Auseinandersetzungen Einzelner im Bereich der Pflegearbeit fordert dringend die Solidarität auch möglichst vieler (noch) nicht betroffener Menschen ein. Der individuelle Widerstand von Pflegekräften sollte uns zudem alle wachrütteln, um nach kollektiven Formen der Gegenwehr auch jenseits der Großgewerkschaft zu suchen, damit die Aufgabe nicht nur den Beschäftigten selbst überlassen bleibt. Eine Kooperation von unabhängigen Initiativen auf der Ebene der Pflege selbst erscheint ebenso dringlich wie eine Zusammenarbeit von Pflegekräften und „der Welt draußen“, z.B. der Anti-Hartz-IV-Szene – soweit noch existent (Aufstockerproblem). Nicht zuletzt auch, damit die alten und kranken „Überflüssigen“ der Leistungsgesellschaft nicht länger vor dem Hintergrund des permanenten Ausnahmezustands in der Pflege „kostengünstig entsorgt“ werden. Betrifft uns doch mehr oder weniger alle.


Anmerkungen

i Vgl. z.B. Claus Fussek/Gottlob Schober; Im Netz der Pflegemafia: Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden, München 2008; Markus Breitscheidel, Gewaschen-gefüttert-abgehakt: Der unmenschliche Alltag in der mobilen Pflege, Berlin, 2011

ii Vgl. Anne Allex über Brigitte Heinischs Widerstand gegen den Pflegenotstand: „Überlastung mit System“ und „Überlastungsanzeige, die zweite: Solidarität mit Pflegehelferin Angelika-Maria Konietzko gefordert“ in: Express: Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/2012, S.8

iii Vgl. den Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch: Sie hatte Strafanzeige gegen ihren „Arbeitgeber“, den Klinikbetreiber Vivantes, erstattet. Das Unternehmen sei wegen zu wenig Personal nicht in der Lage, die Bewohner/innen eines Pflegeheims ausreichend zu versorgen. Daraufhin erhielt sie die fristlose Kündigung, die von deutschen Gerichten bestätigt wurde. Frau Heinisch konnte erreichen, dass im Sommer 2011 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte feststellte, die Kündigung einer Beschäftigten wegen der Veröffentlichung von Missständen verstoße gegen das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit. Im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens endete der Rechtsstreit mit Vivantes am 24. Mai 2012 mit einem Vergleich.
iv Alle Zahlen (Stichtag 15.12.2009) vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Pflegestatistik 2009, Wiesbaden, 2011 https://www.destatis.de
v Information des Sozialverbandes VdK vom 9.2.2011 anlässlich der Kampagne „Pflege geht jeden an“, http://vdk.de/cgi-bin/cms.cgi?ID=de24971
vi Vgl. Deutscher Ethikrat (Hg.), Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur Normativen Funktion ihrer Bewertung, Berlin, 2011 http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-nutzen-und-kosten-im-gesundheitswesen.pdf
vii „Die Dicken sollten für ihre Extrakilos zahlen“, in: Die Welt, 17.3.12
viii „Haben Rentner die Mentalität verzogener Kinder?“, Welt-Online, 8.12.11 http://www.welt.de/fernsehen/article13756910/Haben-Rentner-die-Mentalitaet-verzogener-Kinder.html
ix Vgl. Pressemeldung des Deutschen Instituts für Altersvorsorge vom 2.5.11: „Soziale Pflegeversicherung heute und morgen“ http://www.dia-vorsorge.de/files/pressemitteilung_02-05-2011_2.pdf
x Jens Berger, „Bernd Raffelhüschen bläst zur Lobbyisten-Polka“, 5.5.11

http://www.nachdenkseiten.de/?p=9322

xi Ebenda
xii Vgl. „Stadt Duisburg will Heimplatzwahl steuern“, Meldung v. 24.11.10, in: Wohlfahrt intern http://www.wohlfahrtintern.de/1 und „Gericht untersagt Anwendung des Mehrkostenvorbehalts der Stadt Duisburg“, in: Care konkret, 4.5.12, S. 8
xiii „Freie Heimplatzwahl für Sozialhilfeempfänger“, in: Care konkret (Meldung vom 16.1.12) http://www.carekonkret.vincentz.net/Heime/Freie-Heimplatzwahl-fuer-Sozialhilfeempfaenger
xiv „Zwischen Rechtsanspruch und Schamgefühl“, Pressemeldung des Diakonischen Werks der

Evangelischen Landeskirche in Baden e.V. v. 10.5.2010 http://www.liga-bw.de/fileadmin/content/liga-bw/docs/Liga_Infodienst/2010/II_Quartal/100510_pm_zwischen_rechtsanspruch_und_schamgefuehl.pdf

xv Die Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) sind die tarif- und arbeitsrechtlichen Grundlagen der kirchlichen Verbände (Diakonie, Caritas).
xvi Alle Zahlen vgl. Pflegestatistik 2009
xvii Der Mindestlohn in der Pflege liegt geringfügig über die seit Mai 2011 geltende Lohnuntergrenze in der Leiharbeit (West 7,79 Euro/Ost 6,89 Euro), aber unter den tariflichen Entgelten in diesem Bereich. Nur wenn das Verleihunternehmen nicht tarifgebunden ist, gilt die „Equal-Pay“-Regelung, nach der die Leiharbeiter/innen die gleiche Vergütung erhalten müssen wie die Beschäftigten des entleihenden Betriebs.
xviii Pressemitteilung von Ver.di zum Pflegemindestlohn v. 12.8.10 https://presse.verdi.de/pressemitteilungen/showNews?id=e137e20a-a5f5-11df-4063-001ec9b05a14

Ein denkwürdiges Zitat zum Mindestlohn in der Pflege: „Während meiner gesamten Recherche wurde dieser nicht an eine einzige Pflegekraft ausgezahlt.“ (Der Journalist Markus Breitscheidel, der zeitweilig „undercover“ in verschiedenen Einrichtungen bzw. bei mehreren ambulanten Diensten republikweit als Pflegehilfskraft arbeitete; Breitscheidel, S. 216

xix Vgl. DGB arbeitsmarkt aktuell, Nr.1, Januar 2011, S.4 http://www.dgb.de/themen/++co++a97af29e-1cab-11e0-50c0-00188b4dc422
xx Breitscheidel, S. 216
xxi Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, “Sozialpolitische Prioritäten in 2010“, S. 6
xxii „Pflegenachwuchs kritisiert Pflegeheime: Bei der praktischen Ausbildung hapert es gewaltig.“, in: Care konkret, 5.4.12, S. 6

xxiii Wilfried Nodes, „Berliner Caritas: Sozialarbeit ist ‚Zeitarbeit’“, in: Forum SOZIAL, Newsletter des Dt. Berufsverbandes für Soziale Arbeit e.V., 4/2010, S.1-3 http://www.dbsh.de/Newsletter4-2010.pdf

xxiv Zit. n. Massimo Bognanni, “Hauptsache, billig, billig, billig“, in: Stern, 3/2011, S. 71
xxv „Altenhilfe Lilienthal verlässt das Diakonische Werk der Landeskirche Hannovers“, in: Care konkret, 13.1.12, S. 6
xxvi „Von Schlecker in zwei Jahren zur Pflegefachhelferin“, Altenpflege Online, Meldung v. 27.4.12
xxvii „Von der Schleckerfrau zur Pflegefachkraft?“, in: Care konkret, 13.4.12, S. 3
xxix Karin Kerstin, „Coolout“ in der Pflege: Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung, Frankfurt/M., 2011 (Zitat auf der Buchrückseite)
xxx Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/M., 2003, S. 355f.
xxxi Gottlob Schober, „Pflege zum Discounttarif: Kostenbewusste Angehörige kämpfen für umstrittene Billigheime“, Report Mainz, Sendung v. 22.8.11

http://www.swr.de/report/-/id=8502722/property=download/nid=233454/ndgj31/pflege-zum-discounttarif.pdf

xxxii Nähere Informationen über die Webseite http://konietzko.blogsport.de/ („Komitee Solidarität mit Angelika-Maria Konietzko“)

 

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