Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

5/6-12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Neue antikapitalistische Organisation.
Muss das wirklich sein?!
Flyer der am NaO-Prozess beteiligten Gruppen

Die post-1989er Linke ist ein postmoderner Sisyphus: Die Linke macht zwar eifrig Kampagnen-Begleitmusik zur Politik der Herrschenden – aber die politische Agenda bestimmen die Letzteren. So bleibt die Linke in der Haltung des kritischen Protestes (des Sagens, „das und das passt mir nicht“, um die klassischen Worte Ulrike Meinhofs zu verwenden) stecken. Allein schon die Frage, was wir denn tun müssten, um dafür zu sorgen, dass das, was uns nicht passt, „nicht länger geschieht“, lässt die meisten Linken erschrecken. – Im März des vergangenen Jahres wurde als Alternative zu strategieloser Kampagnen-Rödelei von der Sozialistischen Kooperation (SoKo) mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen der Aufbau eines „gesellschaftlich wahrnehmbaren antikapitalistischen Pols“ und von der Sozialistischen Initiativen Berlin (SIB) die Prüfung der Gründung einer neuen antikapitalistischen Organisation vorgeschlagen – das Wort „Partei“ wurde bewusst vermieden. Denn Wahlkampagnen statt Bewegungskampagnen wären der Weg vom Regen in die Jauche.

Seitdem ist ein Jahr vergangenen: Welche Begründung steht hinter den Vorschlägen? Wie verhalten sie sich zu den – in den letzten Jahren entstandenen, von autonomen Position beeinflußt – bundesweiten Bündnissen (Interventionistische Linke, Ums Ganze- und 3A-Bündnis)? Was ist nach einem Jahr Debatte aus den Vorschlägen geworden? Und: „Antikapitalismus“ – ist das nicht ein bisschen wenig?!

Unser Vorschlag

Wir denken, dass es an der Zeit ist, nach zwei Jahrzehnten linker und feministischer Bescheidenheit wieder die Systemfrage zu stellen. Und wir sind überzeugt, dass es ohne revolutionäre Organisierung nicht möglich ist, sie in wirksamer Weise zu beantworten. Die radikale Linke in ihrer jetzigen Form ist nicht in der Lage, gesellschaftlich Einfluss zu gewinnen; sie schwankt zwischen Kampagnen-Rödelei und Resignation hin und her.

Wir sind daher überzeugt, dass es einer linken Struktur bedarf, die programmatisch links von der Linkspartei und auch links der Interventionistischen Linken (IL) steht. Einer Struktur, die verbindlicher organisiert ist als die autonome Szene und die IL, aber im Gegensatz zu klandestin organisierten RevolutionärInnen in Demonstrationen, Veranstaltungen und Bündnissen auch persönlich (in Form von für sie einstehenden Mitgliedern) sicht- und ansprechbar ist.

Geschichte taugt letztlich nicht zur politischen Identitätsstiftung

Es gab gute historische Gründe für die Ausdifferenzierung der GegnerInnen von Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus in Autonome, Gleichheitsfeministinnen, Antiimps, Dekonstruktivist_innen, TrotzkistInnen, Differenzfeministinnen, MaoistInnen, LinkssozialistInnen, ParteikommunistInnen und AnarchistInnen – sowie deren jeweiligen Unterfraktionen.

Und es gibt gute aktuelle Gründe, historische Differenzen nicht zum Kriterium für heutige Gemeinsamkeiten zu machen. Es gibt heute – wie es die GenossInnen der Revolutionär Sozialistischen Organisation (RSO) ausdrücken – ein ausdifferenziertes Spektrum subjektiver RevolutionärInnen, die alle nach bestem Wissen und Gewissen den Umsturz der herrschenden Verhältnisse anstreben und auch wissen, dass dies nicht im Wege gradueller Veränderungen geht, sondern einen revolutionären Bruch erfordert – und dabei doch kaum vorankommen, sondern in den letzten zwei Jahrzehnten massive Rückschläge erlitten haben.

Einfach Schwamm drüber?
Oder: Streitbare Suche nach zeitgemäßer politischer Praxis und Organisierung?

Unser Vorschlag, gemeinsam die Gründung einer neuen – mindestens antikapitalistischen, klassenkämpferischen – Organisation der subjektiven RevolutionärInnen zu prüfen, bedeutet nicht, die Geschichte einfach Geschichte sein zu lassen – aber wir gehen davon aus, dass keine der historischen Traditionslinien der Linken vorab die richtige Antwort auf die Schwierigkeiten, vor denen revolutionäre Politik heute steht, hat.

Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass alle Traditionslinien Wichtiges und Sinnvolles zur Suche nach einer solchen Antwort beizutragen haben.

Wir wollen nicht einfach die vorhandenen Gruppen und Kleinorganisationen unter einem neuen Namen vereinigen. Wir schlagen vielmehr vor, in einem – gleichermaßen streitbaren wie solidarischen – Diskussionsprozess die notwendigen theoretischen Voraussetzungen für eine Organisationsgründung zu erarbeiten und parallel die Möglichkeit einer Zusammenarbeit in der politischen Praxis zu erproben.

Wir, wir, … – Wer wir sind.

Wir, das sind zunächst einmal die unterzeichnenden vier Zusammenhänge: die schon genannten: SIB und SoKo sowie der überregional existierende Revolutionär Sozialistische Bund (RSB) und die Berliner Gruppe Internationale KommunistInnen (InterKomms). Der RSB und die InterKomms sind die beiden Gruppen, die sich am frühesten im Grundsatz zustimmend zu den SIB- und SoKo-Vorschlägen geäußert haben, und so fanden bisher drei bundesweite Treffen mit VertreterInnen dieser Gruppen statt.

Mittlerweile gibt es Stellungnahmen von weiteren Gruppen (isl, RPB, GAM und RIO) sowie einzelnen GenossInnen, sodass wir hoffen, dass die nächsten Treffen und ein gemeinsames workshop-Wochenende („NAO-Sommer-Debatte“) in einem größeren Kreis stattfinden werden; und für den kommenden Oktober ist eine öffentliche Arbeitskonferenz geplant – für den Fall, dass wir mit unseren Debatten und der Erweiterung der an ihnen beteiligten Spektren so schnell vorankommen wie wir hoffen.

Bisher drehten sich unsere Debatten vor allem um zwei Fragen: 1. das Verhältnis von Kapitalismus und Patriarchat bzw. Marxismus und Feminismus sowie 2. um fünf sogenannte „Essentials“, die die Sozialistische Initiative Berlin (SIB) als politischen Minimalkonsens vorgeschlagen hat. Die Diskussion über eine revolutionäre Programmatik hat erst begonnen.

Fünf Eckpunkte

In ihrem „Na endlich“-Papier vom März 2011 schrieb die SIB: „damit die Mahlzeit trotz ‚Nahrungsvielfalt’ nicht ungenießbar wird, müssen alle Beteiligten auch ihre ‚Schmerzgrenzen’ definieren und artikulieren. Für uns gibt es nur 5 unverhandelbare Punkte:

1. Konzept des revolutionären Bruchs,
2. Keine Mitverwaltung der kapitalistischen Krise,
3. Klassenorientierung,
4. Einheitsfront-Methode,
5. (Eine gewisse) organisatorische Verbindlichkeit.

So in Stein gemeißelt waren die fünf „unverhandelbaren Punkte“ dann doch nicht…
Auch die SIB beansprucht nicht, ein „Konzept“ des revolutionären Bruchs in der Tasche zu haben, das nur noch seiner Umsetzung harren würde. Wir sprechen daher inzwischen gemeinsam von der „Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs“.

Auch über die genaue Formulierung der anderen vier Punkte wird noch zu sprechen sein…
Außerdem ist klar, dass allein diese fünf Punkte eine Organisationsgründung nicht tragen würden. Aber sie sind unseres Erachtens eine geeignete Grundlage, um die Debatte strukturierter als bisher fortzusetzen und ihre Trägfähigkeit in ersten Schritten gemeinsamer politischer Praxis zu erproben.

Nebenwidersprüche – war da etwa was…?

Das „Na endlich“-Papier der SIB bemühte sich zwar, sich von der traditionell-marxistischen Klassifizierung des Geschlechterverhältnisses als „Nebenwiderspruch“ abzusetzen und sich ernsthaft mit – zumindest älteren – feministischen Positionen auseinanderzusetzen. Doch schimmerte an verschiedenen Stellen des Textes weiterhin die Auffassung durch, dass der Kapitalismus doch irgendwie das Grundlegendere oder Wichtigere sei – was kontroverse Diskussionen auslöste, ohne bisher zu einer von allen Beteiligten geteilten Formulierung geführt zu haben.

In einer Stellungnahme des RSB zu diesem Punkt heißt es: „Dem Eintreten gegen männliche Unterdrückung, Sexismus und Homophobie sowohl auf politischer als auch auf privater Ebene als auch im Rahmen linker Organisationen und Politik messen wir eine zentrale Bedeutung bei.“

In Antwort auf diesen und andere Texte präzisierte die SIB ihre Position zum Geschlechterverhältnis im sog. „Quietcheentchen“-Papier.

Warum Organisation – wenn es doch Bündnisse gibt?

Nichts gegen Bündnisse. Wir arbeiten selbst alle in verschiedenen Bündnissen mit und auch die Organisation, über deren eventuelle Gründung wir diskutieren, sollte das unseres Erachtens tun.

Aber zum einen sind Bündnisse unter Einschluss von reformistischen Organisationen und Gruppen – auch das halten wir für richtig – von vornherein etwas anderes als revolutionäre Organisierung.

Aber auch revolutionäre Bündnisse und Teilbereichsorganisationen reichen unserer Überzeugung nach nicht aus. Wir sehen das ziemlich ähnlich wie die Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin (ARAB): „Um intervenieren zu können, müssen wir in einer Position der Stärke sein, über Organisationen verfügen, die im umfassenden Sinne handlungsfähig sind: Auf dem Feld der Theorie ebenso wie auf dem der Praxis. Teilbereichsorganisationen und bewegungsorientierte Eventgruppen – so wichtige Arbeit diese zum Teil verrichten – reichen nicht aus.“

Wir wollen verbindliche Strukturen, wo Vertrauen und Kontrolle sich die Waage halten. Wo gefasste Beschlüsse respektiert werden, aber kein Dogma sind. Wo Leitungsstrukturen transparent gewählt werden und (fast noch wichtiger) wieder abgewählt werden können. – Bündnisse sind die geeignete Struktur für die Vorbereitung von Aktionen. Aber, wenn es allein dabei bleibt, ist die Gefahr des Absturzes in Kampagnen-Rödelei stets groß.

Zu sehen ist dies insbesondere an der Interventionistischen Linken (IL), dem größten bundesweiten Bündnis der post-autonomen Szene. Die größte dortige Mitgliedsgruppe, fast schon eine kleine Organisation für den norddeutschen Raum, ist Avanti – Projekt undogmatische Linke, die ein rund 100-seitiges Programm hat, das jedenfalls einige von uns ziemlich gut finden. Allerdings wirkt sich dieses Programm kaum auf die Praxis der IL aus.
Zum Beispiel ist die Initiierung von Antikrisenaktionen in einer Zeit, in der es kaum Mobilisierungen gibt, zwar ein Verdienst der IL. Dies gilt auch für das Verbreiten neuer Aktionsformen, mit denen möglichst viele Menschen zum Erleben ihrer eigenen Handlungsfähigkeit und zur Überwindung des Gefühls von Ohnmacht gegenüber den Herrschenden ermutigt werden sollen.

Im Zweifelsfall läßt sich die IL jedoch auf einen Minimalkonsens, der für sozialdemokratische und linksliberale BündnispartnerInnen noch tragbar ist, ein. Und vor allem setzt die IL darauf, mit Aktionen – statt mit Argumenten – zu überzeugen.

Da haben wir doch ein deutlich anderes Politikverständnis, und wir legen mehr Wert darauf, auch im Rahmen von Bündnissen auch unsere eigenen Inhalte auszusprechen – ein Recht, das wir genauso auch unsere BündnispartnerInnen zubilligen (anstatt alles auf eine fade Minimalkonsens-Soße zu reduzieren).

Die beiden anderen post-autonomen Bündnisse, das 3A-Bündnis und das Ums Ganze (UG)-Bündnis, sind zwar dezidierter in ihren Positionen und auch theorieorientierter als die IL. Aber auch sie weisen nur einen geringen Grad an überregionaler programmatischer Vereinheitlichung und daher nur eine begrenzte gemeinsame Handlungsfähigkeit auf. Zu wenig entwickelt ist unseres Erachtens auch die Fähigkeit oder Bereitschaft, bei Aufrechterhaltung und Vertretung der eigenen Position dennoch ein Bündnis mit anderen – auch reformistischen – Kräften einzugehen.

Schließlich decken das 3A- und das UG-Bündnis jeweils nur einen Teil des Spektrums der entschiedenen AntikapitalistInnen ab, während die IL sowohl Gruppen umfasst, die einen revolutionären Anspruch vertreten, als auch solche, die dies nicht tun.

Und dann sind da noch die AntikapitalistInnen in eher traditionellen Gruppen. Einige Hundert Aktive in und bei der DKP kämpfen in ihren Strukturen um eine neue kommunistische Identität. Ebenfalls ein paar Hundert klassenkämpferische AntikapitalistInnen in der Partei Die Linke.

Hinzu kommen viele weitere Hundert individualisierte Antikapitalistinnen – als Gewerkschafslinke aktiv, als Anti-AKW-AktivistInnen oder in anderen Bewegungen –, für die derzeit kein attraktives Angebot antikapitalistischer Organisierung besteht.

Nun wissen auch wir, dass sich eine gemeinsame Organisation der subjektiven RevolutionärInnen nicht aus dem Boden stampfen lässt. Aber wir möchten allen GenossInnen, die sich in unterschiedlichen Spektren mit der Organisationsfrage befassen, bitten, die Debatte auf dieses Ziel hin zu führen. Inwieweit wir dieses Ziel mittelfristig erreichen können, können wir alle noch nicht wissen – aber anstreben sollten wir es – und gemeinsam Strukturen schaffen, in denen die Debatte fortgesetzt und eine themenübergreifende Zusammenarbeit erprobt werden kann.

Am NaO-Prozess sind bisher beteiligt (Stand Mai 2012):

SIB – Sozialistische Initative Berlin
SoKo – Sozialistische Kooperation
RSB – Revoltionär Sozialistischer Bund / IV. Internationale
InterKomm – Internationale KommunistInnen
• sowie bisher 6 weitere Organisationen, die vorläufig nur beobachtend teilnehmen