Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

5/6-12

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Red. Vorbemerkung: In den letzten Wochen erschienen zwei Texte im Kontext der aktuellen Programm- und Organisationdebatte, die sich kritisch mit Lenins konzeptionellen Überlegungen zur Theorie und Praxis der Diktatur des Proletariats in der russischen Revolution auseinandersetzen.

Robert Schlosser will in seinem Aufsatz "Good bye Lenin" textexergetisch zeigen - veröffentlicht im Marx-Forum bei Wal Buchenberg,  wie Lenin mit der revolutionären Tradition der Pariser Kommune "reaktionär" gebrochen  und ohne  jegliche persönliche Malochererfahrung in der Fabrik sich sein Bild vom angeblich faulen russischen Arbeiter gebastelt hat.

Tino P. stellt dagegen schwerpunktmäßig auf die tiefe mentale Verbundenheit zwischen Lenin, dem "Totengräber der Revolution", und Stalin ab. Die Persönlichkeit des von Tino P. geschätzten Trotzki wird dagegen weniger als die eines Mittäters sondern eher als die eines ideologischen Opfers von Lenins Überzeugungskraft gezeichnet.

Folgt man den Argumentationsketten beider Aufsätze, dann entspringen die Leninschen Positionen nicht aus kollektiven Parteidiskursen als verarbeitete Widerspiegelung der aktuellen Klassenkampfbedingungen und unter zur Hilfenahme der Erfahrungen der internationalen ArbeiterInnenbewegung sondern aus persönlichen und charakterlichen Defiziten, die in Stalin letztlich in nuce zu sich kommen und die uns auf so einprägsame Weise im Schwarzbuch des Kommunismus von Nicolas Werth ("Ein Staat gegen sein Volk") bereits vor Jahren nahegebracht wurden.

Dass die russische Revolution schon mal differenzierter und dafür weniger denunziatorisch untersucht wurde, davon zeugen z.B. die Doktorarbeit des christlichen Sozialisten Rudi Dutschke ("Versuch Lenin vom Kopf auf die Füße zu stellen") oder das zweibändige Werk des Maoisten Charles Bettelheim ("Die Klassenkämpfe in der UdSSR"). Die folgenden Leseauszüge sollen exemplarisch vermitteln, welches theoretische Niveau eingehalten werden sollte, wenn man sich ernsthaft mit zentralen Fragen der "Übergangsgesellschaft" vom unentwickelten Kapitalismus zum Sozialismus in der Rückschau beschäftigen will, um diese für eine Diskussion über den "Übergang" in eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus heute fruchtbar zu machen.

Über das Verhältnis von Partei und Staat und die Bedeutung der Arbeiterkontrolle
Texte zur Oktoberrevolution von Rudi Dutschke und Charles Bettelheim

Rudi Dutschke
Versuch Lenin vom Kopf auf die Füße zu stellen
Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukàcs und die Dritte Internationale
, Westberlin 1974, S.173-175

Die Absicherungen wie die Verschleierungen durch das bürgerliche (Vertrags-)Recht, die in Westeuropa die Verinnerlichung des Akkumulationsverhältnisses garantierten« und ermöglichten, d.h. die geschichtlich-gesellschaftliche Entwicklung der Produktivkräfte, sind in Rußland nicht gegeben, konstituierten das Gegenteil, die allgemeine Zersetzungs-Stagnation. Der zaristische Staat hatte sich geschichtlich-gesellschaftlich nicht nur als allgemeines Ausbeutungsinstrument entwickelt, sondern auch als Ausdruck der gesellschaftlichen Unvernunft.

Unter diesen Bedingungen mit Kategorien und Zielen >europäischer< Zusammenhänge die proletarische Revolution die >Rechnungsführung< und die >Arbeiterkontrolle< auszurufen, konnte zwar mithelfen, den politischen Sieg zu erringen - was auch geschah -, war aber nicht geeignet, eine Kontinuität und Perspektive russisch proletarisch-bäuerlicher Demokratie und Selbsttätigkeit der Massen aufzuzeigen. Ich meine das besonders deshalb, weil die Bolschewiki die Struktur und die Klassenorientierung des Partei-Typus nach der Machtergreifung unverändert ließen! Wie sie auch Aspekte des »modernen« bürgerlichen Staatsapparates positiv betonten! »Demokratischer Zentralismus« und »moderner« Apparat im westeuropäischen Verständnis der Bourgeoisie passen zueinander, sie passen aber weder zur proletarisch-bäuerlichen Revolution in der asiatischen Zone noch zur proletarischen Revolution in den kapitalistischen Ländern westeuropäischen Zuschnitts. Das emanzipative »Werkzeug«(17), der Versuch, die Werktätigen und die arme Bevölkerung »zur tätigen Arbeit an der Verwaltung des Staates«(18) heranziehen zu wollen, mußte versagen, weil der »neue Staats-Typus« nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen Rußlands heraus, nicht plebejisch und den Massen gemäß über den Revolutionsprozeß geschaffen werden sollte, sondern als sozialistisch modifizierter »moderner Staatsapparat« von europäischem Zuschnitt gedacht war.(19)

Daß Lenin in »Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?« für Staat, Partei und Sowjets den Zentralismus derart in den Mittelpunkt stellt, darf nicht getrennt von seinem »mittelalterlichen« Rußland gesehen werden. Dadurch ist ihm der Zugang zur föderativen-dezentralisierten Gliederung in der Zentralisation versperrt; deshalb kommt er an die russische Agrarstruktur als plebejische Basis für den Aufbau des Sozialismus nicht heran. Die eklatante Rückständigkeit des »demokratischen Zentralismus« für Westeuropa liegt darin, daß mit ihm die bürgerliche Revolution bei uns >wiederholt< werden soll. Um dem Kapitalismus eine neue Möglichkeit der Kapitalkonzentration zu geben. Für die Agrarländer der asiatischen Produktionszone liegt die Sache darum so völlig anders, weil es bei ihnen einen direkten Übergang von der bürgerlichen in die proletarisch-bäuerliche Revolution gab und gibt (wie Vietnam zum Beispiel zeigt). Hier hat der »demokratische Zentralismus« nicht die Funktion, den Kapitalismus zu entwickeln, sondern nach der Vertreibung der imperialistischen Eindringlinge und der Entmachtung ihrer Anhänger von der asiatischen Struktur her den Sozialismus zu gestalten, in die eigene Geschichte zurückzukehren, um sozial-ökonomisch eine sozialistische Perspektive entwickeln zu können.

Aber auch in den Ländern des Konkurrenzkapitalismus, wo allein die proletarische Revolution zur Diskussion steht, geht es um eine neue Bestimmung des Föderalismus, der Räte und der revolutionären Partei; um die Abschaffung der Lohnarbeit, um die Abschaffung der repressiven Staatsmaschine realisieren zu können. Wir gehen nicht von einer bürgerlichen Revolution in die proletarisch-bürgerliche, wir haben die bürgerliche Revolution hinter uns, die proletarische Revolution steht zur Debatte.

Lenin war gegen Föderation und Dezentralisation, weil er meinte, daß Rußland nur über die zentralistische Staatsform den Schritt zum Kapitalismus als Voraussetzung des Sozialismus tun könne. Er ist aber ebenso gegen die agrikole Struktur Rußlands. Er argumentiert mit seinen Vorurteilen gegenüber Asien, mit der Unterstellung der russischen Rückständigkeit, mit einem westeuropäisch orientierten Produktions- und Kulturbegriff. Das sind nicht unsere Probleme, und es waren auch nicht die Probleme des russisch-asiatischen Kapitalismus. Darum fiel den Bolschewiki der Weg zu den Massen, besonders zu den bäuerlichen Massen so extrem schwer. Die Hauptfrage bleibt das Verhältnis von Partei und Klasse. Besonders auch beim Bürokratiekomplex. Die Bolschewiki betrachteten die Wiederauferstehung bürokratischer Strukturen nicht zur Hauptsache als ein Problem aus der russischen Tradition. Sie konnten es von ihrer westeuropäischen Orientierung her nicht einmal so sehen. Weil sie ihre anti-bürokratische Basis nicht bei denen suchten, mit deren Hilfe sie an die Macht gekommen waren, bei den armen und mittleren Bauern, sondern in dem durch den Krieg besonders geschwächten »industriellen Überbau«, mußten die Bolschewiki mit den Arbeitern und Bauern bald in Konflikt geraten. Die proletarische und bäuerliche Sowjetdemokratie konnte sich nicht einmal ansatzweise realisieren, eine Verselbständigung der Führungsfunktionen der Partei- und Staatsmaschine war die Folge. Ein Mischmasch-Typus von Staatsapparat entstand, der für die Hauptaufgabe der Oktoberrevolution, für die Abschaffung der zaristisch-bürokratischen Strukturen, besonders ungeeignet war und blieb. Die Anschaffung der Vergesellschaftung der Arbeit und die Zurückführung des Staates in die Gesellschaft gerieten außerhalb der Perspektive des konkret-utopischen Programms der sozialen Befreiung der »Unterdrückten und Beleidigten«.

Fußnoten:

17) LW, Bd. 26, S. 95.
18) ebd.
19) Die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 waren ihrem Wesen nach infolge der asiatischen Stagnationsentwicklung des dortigen »Kapitalismus« keine sozialen Umwälzungen im Sinne etwa der Französischen Revolution, die den Widerspruch zwischen den in ihrer Entwicklung gehemmten gesellschaftlichen Produktivkräften und den hemmenden Produktionsverhältnissen ausdrückte. Es v/aren vielmehr politische Revolutionen in der Epoche des niedergehenden Imperialismus. Dadurch erhielten sie eine besondere weltgeschichtliche Funktion. Politische Umwälzung schlägt zwar tenden-Z1e!l in eine soziale um, die siegreiche Revolution geht aber einen völlig anderen Weg als in Westeuropa. Die Revolutionen in der asiatischen Zone gehen gewissermaßen rückwärts, um vorwärtsschreiten zu können. Lenin hat nicht verstanden, daß der politische Fortschritt der Oktoberrevolution nur zu halten gewesen wäre mit einem »Rückschritt« zum agrikolen Wesen des Landes. Nach dem Beginn der Phase der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) kommt er dem großen asiatischen politischen Fortschritt durch ökonomischen »Rückschritt« nahe, wird sich tendenziell darüber klar, wie asiatischer Staatskapitalismus unter der Führung der Bolschewiki in den (Staats-) Sozialismus umschlagen könnte. Daß sein westeuropäisch orientiertes Denken ihm auch hier Schranken setzt, werden wir sehen. Der entscheidende Schritt der sozialen Emanzipation wäre die Befreiung der Agrikultur von der Ausbeutung und Herrschaft des Staates gewesen.

Charles Bettelheim
Die Klassenkämpfe in der UdSSR

Band I, 1917 - 1923, Westberlin 1975, S.96f

Vor dem Sieg der Oktoberrevolution ist praktisch niemals daran gedacht worden, ein Regierungsorgan wie den Rat der Volkskommissare zu schaffen, das einen von der Sowjetorganisation unterschiedenen Organismus darstellt. Alle Gewalten sollten anscheinend in den eigentlichen Sowjetorganen konzentriert werden. Am Ende des soeben beschriebenen Prozesses stellt sich das anders dar: die Regierungsgewalt wird vom Rat der Volkskommissare ausgeübt, der nicht (wie das ZEK) direkt aus den Sowjetorganen hervorgegangen ist und dessen Mitglieder von der bolschewistischen Partei ausgewählt werden. Damit wird eine Machtstruktur etabliert, die sich wesentlich von derjenigen unterscheidet, die vor der Oktoberrevolution auch von der bolschewistischen Partei selbst geplant war.

Man könnte meinen, der Bildungs- und Konsolidierungsprozeß dieser Regierungsstruktur sei hauptsächlich aus der besonderen politischen Kräftekonstellation zu erklären, die die Oktoberrevolution kennzeichnet, insbesondere aus dem nicht zu unterschätzenden Einfluß der Menschewiki und Sozialrevolutionäre auch in den Sowjetorganen. Nach dieser Betrachtungsweise wäre das von den Bolschewik! und durch die Initiative des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei gebildete Sownarkom "aus Gründen der aktuellen Lage" "zum Schutz" der Regierungsgewalt vor jedem möglichen unmittelbaren Eingriff der Vertreter der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien geschaffen und in der Tat in eine im Verhältnis zum ZEK dominierende Position gebracht worden.

Diese Sichtweise berücksichtigt zwar zureichend den konkreten historischen Prozeß; sie geht aber den Dingen nicht auf den Grund, sie bleibt "den Ereignissen verhaftet", sie betrachtet nur die rein äußerliche Seite der Klassenverhältnisse, während es hier gerade darum geht, sie grundsätzlich zu hinterfragen.

Die Errichtung der Diktatur des Proletariats bedeutet in der Tat, daß sich die Arbeiterklasse als herrschende Klasse konstituiert; dies kann nicht über die Organe sowjetischen Typs, die Massenorganisationen sind, geschehen, auch nicht über die staatlichen Organe, die ausschließlich aus ihnen hervorgegangen sind. Daher vollzieht sich die Konstituierung des Proletariats als herrschende Klasse notwendigerweise über einen spezifischen Apparat, der proletarisch ist aufgrund seiner Ideologie, seiner Ziele und aufgrund seiner Rolle der Führung und Vereinheitlichung, die er gegenüber den Volksmassen spielt; das heißt, die Konstituierung des Proletariats als herrschende Klasse vollzieht sich über eine proletarische Partei, die diese politisch und ideologisch führende Rolle spielt, und zwar auch in bezug auf die staatlichen Apparate, die aus den Massenorganisationen hervorgegangen sind.

Demnach können die konkreten Formen des Verhältnisses zwischen den staatlichen Apparaten der Diktatur des Proletariats und der Partei des Proletariats, dem Instrument seiner Diktatur, sehr vielfältig sein. Diese Vielfalt spiegelt sich in der außerordentlichen Vielfalt der möglichen Beziehungen zwischen den Klassen und den Auswirkungen des Klassenkampfs auch auf die Partei wider.

Im Fall Sowjetrußlands waren die spezifischen Formen des Verhältnisses zwischen den staatlichen Apparaten und der proletarischen Partei ohne Zweifel weitgehend durch den schwachen direkten Einfluß der bolschewistischen Partei auf die breiten Schichten der Volksmassen, in erster Linie auf die Bauern, bestimmt, und andererseits durch eine gewisse Tendenz der Partei, die Lösung von Führungsproblemen eher in organisatorischen Maßnahmen als im ideologischen Kampf zu suchen. Diese Tendenz wird übrigens durch die Dringlichkeit der Aufgaben verstärkt, die die Partei erfüllen muß, um die Diktatur des Proletariats zu konsolidieren.

Die Arbeiterkontrolle Seite 123 - 128

Die Arbeiterkontrolle wird durch eine Gesamtheit von Maßnahmen gebildet, die der Arbeiterklasse die Möglichkeit geben sollen, die Anwendung der Produktionsmittel durch Körperschaften zu überwachen, die aus der Arbeiterklasse selber hervorgehen. Diese Organe sollen sowohl in den noch im Besitz des privaten Kapitals befindlichen als auch in den enteigneten Betrieben arbeiten.

Die Rolle, die Lenin 1918 der Arbeiterkontrolle beimißt, ist im wesentlichen die einer vorläufigen Maßnahme, die darauf abzielt, die Arbeiterklasse auf das Voranschreiten zum Sozialismus vorzubereiten. So schreibt Lenin in den Nächsten Aufgaben der Sowjetmacht:

"Solange aber die Arbeiterkontrolle nicht zur Tatsache geworden ist (...), solange kann man nicht (...) den zweiten Schritt zum Sozialismus machen, das heißt zur Regulierung der Produktion durch die Arbeiter übergehen." (13)

Die konkrete Entwicklung des Klassenkampfs während des Jahrs 1917 führte dazu, das Problem der Arbeiterkontrolle in der Form einer Entwicklung der Bewegung der Fabrikkomitees zu stellen. Diese Bewegung hatte ihren Aufschwung bereits zwischen Februar und Oktober 1917 genommen, und die bolschewistische Partei hatte sie entschlossen unterstützt.

In den Wochen, die dem Oktoberaufstand 1917 folgen, versucht die bolschewistische Partei, die verstreute und anarchische Aktivität von hunderten und tausenden von Fabrikkomitees in eine koordinierte Arbeiterkontrolle umzuwandeln, die den Erfordernissen einer proletarischen Politik entsprechen könnte.

Diese Aufgabe ist nicht leicht, weil zur gleichen Zeit, da die Zahl der Fabrikkomitees wächst, jedes Komitee die Tendenz hat, seine Vorrechte zu vermehren und jeden Betrieb als eine unabhängige Produktionseinheit zu behandeln, die kollektiver Besitz der eigenen Arbeiter ist und selber bestimmt, was sie produziert und wem und zu welchem Preis sie verkauft.

Dagegen würde die gesellschaftliche Herrschaft der Arbeiterklasse über die Produktionsmittel die Unterordnung der atomisierten und widersprüchlichen Befugnisse der Fabrikkomitees unter ein gemeinsames politisches Ziel verlangen.

Eine gesellschaftliche Koordinierung der Produktion ist besonders unerläßlich in der Industrie, wo jede Produktionseinheit nur eine beschränkte Zahl von Verarbeitungsprozessen vollzieht und nur ein Kettenglied innerhalb eines in hohem Maß vergesellschafteten Gesamt-Produktionsprozesses darstellt. Das Überleben der sowjetischen Industrie und der Kampf gegen die Kräfte des Marktes sowie gegen die Vorherrschaft der partikularen Interessen der verschiedenen Betriebe verlangen also ein Minimum an vorausgehender Koordination der Aktivitäten der verschiedenen Produktionseinheiten. Wird kein Eingriff im voraus vorgenommen, findet die Koordination recht und schlecht im Nachhinein über den Markt statt oder sie ist das Resultat der Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Industriezweigen oder zwischen den verschiedenen Betrieben. In der Praxis kann es sogar vorkommen, daß sie überhaupt nicht realisiert wird. In diesem Fall wird die Produktion in zunehmendem Maß paralysiert. Genau das spielt sich im Lauf des Winters 1917/18 ab.

Die bolschewistische Partei versucht also, das Problem der Koordinierung der Aktivität der Fabrikkomitees gerade durch die Errichtung der "Arbeiterkontrolle" zu lösen.

Diese soll ihre Tätigkeit umfassender ausüben als das einzelne Fabrikkomitee. Sie soll die gespaltene und parzellierte (und daher illusorische) "Autorität", die die Kollektive der verschiedenen Betriebe ausüben, durch eine koordinierte und vereinheitlichte Klassenkontrolle ersetzen.

Die nach der Oktoberrevolution herrschenden Bedingungen erleichtern den Übergang zu einer solchen einheitlichen Kontrolle nicht. In der Tat sehen die Arbeiter von selbst nicht die Notwendigkeit ein, daß die Befugnisse der Fabrikkomitees durch deren Unterordnung unter eine äußere Instanz eingeschränkt werden. In den Augen der Arbeiter erscheint die Errichtung einer mehr oder weniger zentralisierten Kontrolle als eine Art "Konfiszierung der Macht", die sie eben der Bourgeoisie entrissen haben und die sie auf der Ebene ihres eigenen Betriebs behalten möchten. Diese Auffassung wird von den Gegnern der Diktatur des Proletariats gefördert, insbesondre von den Menschewiki, die die gewerkschaftlichen Organisationen, auf die sie Einfluß haben, zur Verteidigung der Autonomie der Fabrikkomitees, ja sogar der "Eisenbahnerkomitees" bei den Eisenbahnen drängen.

Bereits vor der Oktoberrevolution hatte Lenin die Notwendigkeit der Arbeiterkontrolle auf nationaler Ebene und die Schwierigkeiten ihrer Durchführung vorhergesehen. So schreibt Lenin beispielsweise in seiner Schrift Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? :

"Die Hauptschwierigkeit der proletarischen Revolution liegt in der Verwirklichung einer vom ganzen Volk getragenen genauesten und gewissenhaftesten Rechnungsführung und Kontrolle, der Arbeiterkontrolle über die Produktion und die Verteilung der Produkte." (14) 

Der Übergang zur Arbeiterkontrolle und das Abrücken vom Typus der anarchischen und "dezentralisierten Verwaltung", an dem sich die Fabrikkomitees orientieren, stößt vor allem auf die in den Massen noch tief verwurzelte bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologie, die die Parole "jeder für sich", die den Betriebsegoismus und eine abstrakte Vorstellung von "Freiheit" hochhält. Dazu schreibt Lenin:

"Die Kleinbourgeoisie widersetzt sich jeder staatlichen Einmischung, Rechnungsführung und Kontrolle, mag sie nun staatskapitalistischer oder staatssozialistischer Natur sein." (15)

Trotz des politischen Einflusses, den die bolschewistische Partei auf die kämpferischsten Arbeiter ausübt, bleiben ihr ideologischer Einfluß und ihre Verankerung in den Betrieben noch schwach angesichts der Überzeugungsarbeit, die die Umwandlung der Fabrikkomitees in Organe der Arbeiterkontrolle verlangt. Nach der Oktoberrevolution stößt diese Umwandlung auf große Schwierigkeiten. Sie werden noch verschärft durch die Bedenken, die selbst einige Bolschewiki angesichts der Beschränkungen haben, die die Arbeiterkontrolle den Befugnissen der Fabrikkomitees auferlegt. Die folgenschwersten Widerstände sind jedoch auf den Einfluß zurückzuführen, den die Menschewiki und verschiedene anarchistische Tendenzen auf einen Teil der Massen haben, und dessen sie sich bedienen, um der bolschewistischen Politik so viele Hindernisse wie möglich in den Weg zu legen.

Diese Widerstände und Bedenken erklären die Verzögerungen, die notwendig waren, um die Beschlüsse zur Arbeiterkontrolle zu fassen, und sie erklären die Heftigkeit der Kontroversen, die diese Beschlüsse hervorriefen. Um das zu illustrieren, sei auf einige Tatsachen verwiesen.

Ursprünglich war vorgesehen, daß der II. Sowjetkongreß die Errichtung der Arbeiterkontrolle bei seinem Zusammentreten unmittelbar nach dem 25. Oktober proklamieren sollte. Das Dekret über die Arbeiterkontrolle und das Dekret über den Boden hätten gleichzeitig veröffentlicht werden sollen. Das war jedoch nicht der Fall. Der II. Sowjetkongreß geht auseinander, ohne daß irgendeine in die Richtung der Arbeiterkontrolle gehende Maßnahme getroffen worden wäre. Während die Prawda am 3. November einen von Lenin verfaßten und von dieser Kontrolle handelnden Entwurf eines Dekrets veröffentlicht, wird das Dekret selbst nicht sofort (und auch später nie in seiner ursprünglichen Form) den Regierungsorganen vorgelegt. Schließlich wird erst am 14. November eine revidierte Fassung des Entwurfs Lenins durch das Gesamtrussische ZEK geprüft. Dieser Text wird dann mit einigen Änderungen angenommen.

Im wesentlichen übernimmt jedoch das verabschiedete Dekret die hauptsächlichen Bestimmungen von Lenins Entwurf (16), insbesondre was den bindenden Charakter der Beschlüsse der Arbeitervertreter und die Verantwortlichkeit dieser Vertreter und der Fabrikbesitzer gegenüber dem Staat betrifft. Die Arbeiterkontrolle wird in das Sowjetsystem eingefügt; die Fabrikkomitees oder die Fabrikräte werden auf diese Weise höheren Instanzen untergeordnet, die auf Orts-, Gouvernements- oder Gebietsebene fungieren; die Einrichtung eines Gesamtrussischen Rats der Arbeiterkontrolle ist im Dekret vorgesehen.

Eines der Probleme, die dieses Organ lösen sollte, ist das der jeweiligen Stellung der Fabrikkomitees einerseits und des Gewerkschaftsapparats andererseits in der Organisation der Arbeiterkontrolle. Das Problem ist nicht ohne Bedeutung, denn die Fabrikkomitees gehen unmittelbar von den Arbeitern jedes Betriebs aus, während die Gewerkschaften (in denen weitaus nicht alle Arbeiter aktiv sind) eine zentralisierte Struktur haben, was sie in besondrer Weise befähigt, zur Einrichtung einer ebenfalls zentralisierten Kontrolle beizutragen, was sie aber dem direkten Einfluß der Basis entzieht. Das Dekret löst das Problem, indem es den Gewerkschaften einen wichtigen Platz in der Organisation der Arbeiterkontrolle einräumt. Diese Lösung ruft die Unzufriedenheit verschiedener Arbeiter hervor, die hierin eine Art von Bevormundung erblicken; dagegen erscheint sie einer in der Gewerkschaftsbewegung arbeitenden Fraktion von Bolschewiki unzureichend. Sie sind der Ansicht, daß nicht klar genug zugunsten der Gewerkschaften entschieden wurde. In ihren Augen führt das dazu, die Teilung der Betriebe in unabhängige Einheiten zu verewigen. So sagt beispielsweise der Sprecher der Gewerkschaften im Gesamtrussischen ZEK, Losowski:

"Es ist notwendig, die Dinge in einer absolut klaren und kategorischen Weise zu formulieren, damit die Arbeiter jedes Betriebs nicht den Eindruck haben, der Betrieb gehöre ihnen." (17)

Zu Beginn des Jahrs 1918 werden die Texte des Dekrets vom November 1917 fast unverändert von der "Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" wieder aufgenommen. Diese Deklaration ist von Lenin verfaßt und wird am 3. Januar 1918 vom Gesamtrussischen ZEK angenommen. Sie bestätigt, daß die Arbeiterkontrolle "als erster Schritt zum völligen Übergang der Fabriken, Werke, Bergwerke, Eisenbahnen und sonstigen Produktions- und Verkehrsmittel in das Eigentum des Arbeiterund Bauernstaates" (18) bestimmt wird.

Dieser Text bestätigt, daß die bolschewistische Partei in dieser Phase anerkennt, daß das Staatseigentum an den Produktionsmitteln solange kein gesellschaftliches Eigentum sein kann, wie die Kontrolle der Fabriken, Werke, Bergwerke, Eisenbahnen usw. durch die Arbeiter selber nicht verwirklicht ist. Kurz bevor er diesen Text verfaßte, hatte Lenin übrigens nachdrücklich die Idee vertreten, daß "die Rechnungsführung und Kontrolle, die für den Übergang zum Sozialismus unentbehrlich ist, (...) nur das Werk der Massen sein" (19) kann.

Im März/April betont Lenin erneut und mehrfach — insbesondere in der Schrift Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht —, daß die Kontrolle durch die Massen, wie er sie sich vorstellt, anders aussieht als die Tätigkeit der Fabrikkomitees, die "jedes für sich" ihren Betrieb zu verwalten suchten. Die Arbeiterkontrolle, sagt Lenin, ist die Kontrolle durch den Sowjetstaat, nicht jedoch eine Vielfalt zersplitterter Kontrollen. Um eine Kontrolle im Gesamtinteresse auszuüben, ist es, wie Lenin hinzufügt, notwendig, daß "das Proletariat und die arme Bauernschaft genügend Bewußtheit, Überzeugungskraft, Selbstaufopferung und Beharrlichkeit aufbringen, (nur dann) wird der Sieg der sozialistischen Revolution gesichert sein" (20).

Infolge der verschiedenen Beschlüsse werden mögliche unkontrollierte Initiativen auf der Ebene der Betriebseinheiten spürbar verringert. In dem Maß, wie diese Beschlüsse tatsächlich umgesetzt werden, verlieren die Fabrikkomitees praktisch ihre Autonomie. Sie hören auf, über wirkliche eigene Machtbefugnisse zu verfügen, und sie werden in die zentrale Arbeiterkontrolle integriert.

In allen Betrieben von einer gewissen Bedeutung (die als Betriebe von "nationaler Bedeutung" bezeichnet werden) werden die Fabrikkomitees dem Staat gegenüber "für die strengste Ordnung und Disziplin und für den Schutz der Vermögenswerte" (21) verantwortlich gemacht. Diese Verantwortung tragen die gewählten Vertreter der Arbeiter und Angestellten, die zur Ausübung der Arbeiterkontrolle bestellt werden.

Die verschiedenen Anordnungen rufen die Unzufriedenheit der Anarchisten und der Anarcho-Syndikalisten hervor, die aus den Fabrikkomitees Komitees für autonome Betriebsführung machen wollten, die nach Möglichkeit in föderativer Form organisiert werden sollten, aber ohne den Staatsorganen verantwortlich zu sein. Die Gegner jener Maßnahmen erklären insbesondere, die Reglementierung der Arbeiterkontrolle dehne den Begriff des Betriebs von "nationaler Bedeutung" derart aus, daß die Anwendung der offiziellen Regeln der Arbeiterkontrolle zur völligen Unterwerfung der Fabrikkomitees unter eine außer ihnen stehende Gewalt führe.

Diese Gewalt wird durch die verschiedenen Organe gebildet, denen die Grundorganisationen der Arbeiterkontrolle (im allgemeinen die früheren Fabrikkomitees) untergeordnet sind, nämlich die regionalen Räte und der Gesamtrussische Rat für Arbeiterkontrolle. In diesen Räten sind die Vertreter der Arbeiterkontrolle in der Minderheit. So sind im Gesamtrussischen Rat für Arbeiterkontrolle nur fünf Vertreter des Gesamtrussischen Rats der Fabrikkomitees, während fünf Vertreter des ZEK, fünf Vertreter des zentralen Gewerkschaftsrats, fünf Vertreter der Vereinigung der Ingenieure und Techniker, zwei Vertreter der Agronomen, zwei Vertreter des Petrograder Gewerkschaftsrats und ein Vertreter jedes Gewerkschaftsverbands mit weniger als 100.000 Mitgliedern (22) (zwei Vertreter für Verbände mit einer größeren Mitgliederzahl) einen Sitz haben.

In den höheren Organen der Arbeiterkontrolle sind die Vertreter der Gewerkschaftsorganisationen also zahlreicher als die Vertreter der Grundorganisationen, die in der Minderheit sind.

Selbst die derart umgewandelte Struktur der Arbeiterkontrolle erweist sich als unfähig, die Koordinierung zu gewährleisten, die die industrielle Großproduktion verlangt. Nun befindet sich jedoch Rußland in einer Situation, in der die Versorgung von Stadt und Land und bald auch der Front eine regelmäßige Produktion unumgänglich macht, eine Produktion, die vor allem soweit wie möglich Anforderungen entspricht, wie man sie mit Blick auf die Gesamtlage einschätzen mußte.

Die bolschewistische Partei beschließt, das System der Arbeiterkontrolle zu "verdoppeln", indem sie weitere Formen der Koordinierung und Leitung der Produktion einführt. Die Hauptform dabei ist der OVWR.

In der Tat erhalten diese Formen der Koordinierung und Leitung unter den Bedingungen, die sich mit dem Beginn des Bürgerkriegs entwickeln -und wo die Losung "Alles für die Front" an erster Stelle steht - den Vorrang vor der Arbeiterkontrolle (23). Diese fällt schließlich ungefähr zur gleichen Zeit auseinander wie die früheren Fabrikkomitees. Dieser Zerfall steht offenbar im Zusammenhang mit der nicht ausreichenden Anzahl echter Arbeiterorganisatoren, die in den Betrieben die Probleme wirklich anpacken. Umgekehrt ist das Fehlen von Arbeiterorganisationen an der Basis in Beziehung zu setzen mit der relativen zahlenmäßigen Schwäche der bolschewistischen Partei, mit der (ohne Zweifel unumgänglichen) Eingliederung eines wachsenden Teüs der aktivsten Arbeiter in die Organisationsaufgaben der Partei, der staatlichen Apparate und vor allem in die Armee. Das Fehlen systematischer Anstöße seitens der bolschewistischen Partei und die wachsende Gleichgültigkeit der Werktätigen in bezug auf die Fabrikkomitees haben ebenfalls ihre Rolle gespielt. Schließlich fiel die Arbeiterkontrolle, so wie sie in den ersten Monaten des Sowjetregimes konzipiert war, in einen Schlaf, aus dem sie nie mehr erwachte. Leitung und Koordinierung der industriellen Produktion werden auf anderen Grundlagen gewährleistet.

Fußnoten

13) LW 27, S. 245

14) LW 26, S. 88

15) Über "linke" Kinderei, in: LW 27, S. 329. Lenin verwendet in dieser Schrift ausnahmsweise den Ausdruck "staatssozialistisch", was ein begriffliche^ Widerspruch ist. Lenin tut das, um ihm den Ausdruck "staatskapitalistisch" gegenüberzustellen in dem vorher geläufigen Sinn, das heißt im Sinn eines Staatskapitalismus unter der Diktatur der Bourgeoisie. Um das zu bezeichnen, was er hier "Staatssozialismus" nennt, benutzt Lenin in der Regel die Wendung "Staatskapitalismus unter der Diktatur des Proletariats". Wir werden später den Sinn dieser Wendung untersuchen und ihren Gebrauch bei Lenin.

16) vgl. dazu LW 26, S. 267 f.

17) A. Losowski, Die Arbeiterkontrolle (russ.), Moskau 191-8, S. 20; zit. bei E.H. Carr, The Bohhevik Revolution 1917-1923, Penguin Books 1966, Band 2, S. 74

18) LW 26, S. 422

19) Wie soll man den Wettbewerb organisieren?, in: LW 26, S. 409

20) Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: LW 27, S. 231

21) Entwurf von Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle, in: LW 26, S. 268

22 vgl. dazu die Broschüre Les Bolcheviks et le controle ouvrier (Die Bolschewik! und die Arbeiterkontrolle) von M. Btinton und der Gruppe "Solidarity" aus London, in dem Heft von Sept.-Dez. 1973 der Zeitschrift Autogestion, S. 74

23 vgl. E.H. Carr, The Bolshevik Revolution, a.a.O., Bd. 2, S. 78